Kapitel 1
Eine große Liebe
geht im Rosenkrieg zugrunde
Gustl Mollath hat sich gut vorbereitet. Sechs Seiten hat er eng beschrieben, »damit ich möglichst nichts vergesse, was ich zu sagen habe«, wie er den Richtern erklärt. Es ist der 17. April 2008. Die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg sitzt zu Gericht in Straubing. Dort, wo Mollath seit geraumer Zeit in einer hermetisch abgeschirmten forensischen Klinik untergebracht ist, in der nur die nach Ansicht von Gerichten gefährlichsten aller als krank eingestuften Verbrecher sitzen. Die Richter sollen an diesem Tag routinemäßig überprüfen, ob Mollath zu Recht in der geschlossenen Psychiatrie ist. Das Gesetz sieht eine solche Prüfung einmal im Jahr vor.
Wieder einmal wird Mollath Richtern erzählen, wie aus seiner Sicht alles so weit kommen konnte. Es ist kein wirres Konvolut, sondern ein vom Anfang bis zur Unterschrift am Schluss durchgehend strukturierter Text, mit korrekten Zitaten aus diversen Medien, genauen Quellen- und Zeitangaben. Ob psychisch krank oder nicht: Dieser Text ist das Dokument eines Menschen, der sich, seinen Werdegang und seine aktuelle Situation genau reflektiert und sich dabei um Präzision bemüht. Das Dokument eines Pedanten. »Ich bitte, Ihnen Folgendes vorlesen zu dürfen«, hat er am Anfang notiert. Schon am Ende der ersten Seite hat Gustl Mollath ein paar Sätze aufgeschrieben, die bitter klingen, seinen Fall aber exakt schildern:
»Bevor ich in die Hände dieser Ärzte fiel [er meint die Psychiater, die ihn als gefährlich einstuften und seine Unterbringung in der geschlossenen Psychiatrie befürworteten; d. Verf.], verfügte ich über ein Vermögen von über einer Million. Hatte ein eigenes Haus in bester Wohnlage von Nürnberg, hatte drei Ferraris in der Garage. Jetzt, nachdem ich plattgemacht wurde, habe ich nichts mehr. Nicht einmal ein Bild meiner Mutter ist mir geblieben. Mein ganzes Leben musste ich anderen Menschen nicht so, wie Ihnen heute, entgegentreten. Nicht einmal den Friseur kann ich mir leisten. Wie kam es dazu?«
Gustl Ferdinand Mollath wird am 7. November 1956 in Nürnberg geboren. Sein Bruder ist zehn Jahre älter. Die beiden werden als Erwachsene den Zugang zueinander verlieren und den Kontakt abbrechen. Als Gustl vier Jahre alt ist, stirbt der Vater an Krebs. Ein Jahr später muss seine Mutter den Betrieb abwickeln, ein kleines Lederwarengeschäft in der Nürnberger Landgrabenstraße mit bisweilen mehr als zwanzig Mitarbeitern.
Mollath absolviert eine Maschinenbauausbildung in der Lehrwerkstatt der Nürnberger Rudolf-Steiner-Schule und legt 1975 die Gesellenprüfung ab. Weil er an dieser Schule kein Fachabitur machen kann, wechselt er auf eine Waldorf-Schule in Nordrhein-Westfalen und erfährt dort nach eigenem Bekunden, »wie Schule sein könnte«. Er habe dort endlich von Peter Weiss erfahren, Carl Zuckmayer und Heinrich Böll, Autoren nach seinem Geschmack. 1977 macht er Abitur, das zweitbeste an seiner Schule. Und das, obwohl gerade seine große Liebe »mit einem Porschefahrer zum Skifahren« gefahren sei. Durchgebrannt also.
In diese Zeit, Mollath ist 21 Jahre alt, fällt auch die Idee, an Weihnachten keine Geschenke zu verteilen. Sondern stattdessen Weihnachtskarten zu verschicken und einen Dauerauftrag zugunsten der Gefangenenhilfsorganisation Amnesty International einzurichten. Das mache er bis heute so, notiert Mollath 2003, in einem Schreiben, das er im Zuge des Prozesses gegen ihn vorlegt. Also vor seiner Einweisung in die Psychiatrie. Als Zeugen führt er damals, Mollath ist ein Mann mit hintersinnigem Humor, ausgerechnet Dieter Rampl an, den damaligen Vorstandsvorsitzenden der Hypovereinsbank. Auch ihn hat er per Karte um Spenden für Amnesty International gebeten.
Mollath beginnt 1978 ein Maschinenbaustudium und setzt ab 1980 ein Aufbaustudium zum Wirtschaftsingenieur an der Fachhochschule in Rosenheim drauf. In dieser Zeit muss sich seine Mutter einer schweren Krebsoperation unterziehen. Mollath bricht sein Studium ab, um sich um sie kümmern zu können.
Als Gustl Mollath 22 Jahre alt ist, lernt er seine spätere Frau kennen. Sie ist knapp vier Jahre jünger, geboren 1960. Sie wird Bankkauffrau. Gut zwei Jahrzehnte später beschreibt eine Nürnberger Gerichtsreporterin sie als »schöne, schmale Frau mit beeindruckenden Augen«. Schon kurz nachdem sie sich kennengelernt haben, ziehen Gustl Mollath und seine spätere Frau zusammen. Als deren Großmutter im Sterben liegt, verspricht Mollath dieser, auf die Enkelin aufzupassen. Auch das steht in der Kladde, die Mollath dem Gericht übergibt. Seine ehemalige Frau macht auch auf mehrfache Anfragen der Autoren keine Angaben zu dem ganzen Fall.
Mollath beendet sein Maschinenbaustudium ohne Abschluss. 1981 beginnt er bei MAN in der Controllingabteilung. Ein lukrativeres Angebot von Daimler-Benz schlägt er aus, er will in Nürnberg bleiben. Als seine Mutter wieder schwer erkrankt, baut er sein eigenes Geschäft auf, ein Geschäft für Motorradreifen und -zubehör. Nebenher kümmert er sich um seine Mutter, die 1984 stirbt.
Anfang 2013 wird das Fachmagazin Zweirad einen kleinen Bericht samt Foto drucken, das Gustl Mollath dabei zeigt, wie er einen Autoreifen zur Montage fertig macht. Das Bild stammt aus dem Februar 1986. Die Zweirad-Redaktion hatte es angesichts der vielen Medienberichte über Mollaths Schicksal ausgegraben. »Die älteren Motorradfahrer«, schreibt das Blatt, würden sich an »die Firma Augusto M. am Nordwestbahnhof in der Schnieglinger Straße erinnern«, die von ebendiesem Mollath betrieben worden sei. »Schon damals« habe er »zur Riege der in dieser Branche immer wieder auftauchenden, extrovertierten Selbstdarsteller« gezählt. Von Mollath stamme der Satz: »Da habe ich Pirelli erst einmal erklärt, wie man Reifen macht.« Augusto M. sei »ein bunter Branchenvogel« gewesen.
So erzählt das auch Jochen Wagner, Studienleiter an der Evangelischen Akademie in Tutzing. Auch er kennt ihn von früher. »Mollath, das war ein redlicher Freak.« Einer, der Guzzi gefahren ist, wo sie in Nürnberg alle schon auf Kawasaki und Suzuki und was nicht alles umgeschwenkt waren. Einer, der drei Tage schraubte, um einen Tag anständig fahren zu können, dann aber richtig. Einer, der Woodstock im Kopf hatte, aber schon in jungen Jahren zu den »passioniertesten und versiertesten Schraubern« der Stadt gehörte. Alles in allem: einer, der nicht unbedingt auffallen wollte. Aber der auf jeden Fall auffiel.
Mollath versucht Ende der 1980er Jahre ein neues geschäftliches Standbein aufzubauen. Er restauriert nun auch Oldtimer. Und das war wohl so etwas wie sein Leben.
Als Gustl Mollath am 17. April 2008, einem Donnerstag, als Insasse der geschlossenen forensisch-psychiatrischen Klinik im niederbayerischen Straubing vor der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg seine sechs eng beschriebenen Seiten kundtut, von denen er hofft, sie mögen das Gericht von seiner geistigen Normalität überzeugen, erzählt er auch von seiner Zeit als Ferrari-Restaurator. Besser gesagt, er gerät ins Schwärmen und gibt auch ein bisschen an. »Ich habe die schnellsten Ferraris gebaut und nicht nur restauriert«, sagt er. »Mein 246er Dino drehte 9000 Umdrehungen in der Minute. Er war schneller als ein 911 RS, Baujahr 1992, über 270 km/h. Beim größten Oldtimerfestival der Welt, beim Grand Prix in Silverstone, wurde mein Dino zu den ›most important Ferraris of the Event‹ gezählt und im Programmheft abgebildet.«
Das mag alles so gewesen sein, aber die Geschäfte mit den roten Flitzern aus Maranello liefen keineswegs immer perfekt. Ein Rechtsstreit über die Lackierung eines Exemplars zieht sich über Jahre hin. 1999 gewinnt Mollath den Prozess zwar, aber der Streit habe ihn schwer in Mitleidenschaft gezogen und viel Kraft gekostet, sagt er später. Richtig viel Geld verdient er wohl nie mit dem Laden. Andererseits kommt er dank der elterlichen Erbschaft über die Runden, bis zum Jahr 2000, in dem er die Firma schließen muss. Seine damalige Frau wird später behaupten, seine Werkstatt sei nie gelaufen und sie sei es gewesen, die den Laden über Wasser...