Erbsensuppe für Stan Libuda
Ich bin im Bad, als es an der geöffneten Tür klingelt. Dort steht Schmidtchen in einem blauen Frotteejogger und hält einen großen Topf in der Hand. Hinter ihm winkt Lisbeth schüchtern in meine Richtung. Schmidtchen deutet mit seinem Kinn auf den Suppentopf. «Wir bringen euch ’n bissken watt zu beißen. Wo ihr doch den ganzen Tach am Malochen seid.»
Ich gehe zu ihm und nehme ihm den Topf ab. «Das ist aber nett», sage ich. «Kommen Sie doch rein.» Mit meinem Ellbogen mache ich eine einladende Geste in die Wohnung. Ich stelle den Topf auf dem Herd ab und blicke kurz hinein. Erbsensuppe.
«Hier sieht’s ja aus wie Kraut und Rüben», stellt Schmidtchen fest, stemmt seine kleinen, faltigen Hände in die Seiten seines Joggers und dreht sich einmal im Kreis wie eine übergewichtige Ballerina. «Aber dat is alles nix im Vergleich zu dammals, als wir nachem Kriech zurück in unsere Stuben durften.»
«Jetzt fang nich schon widda mit diese Kriegsgeschichten an», weist Lisbeth ihn zurecht. Sie hat sich mit einer Hand auf der Arbeitsplatte der Küche aufgestützt. «Dat wollen die jungen Leute doch nich hören.»
«Wat denn? Kann man doch erzählen!», fährt Schmidtchen unbeirrt fort. «Dammals war nich ein Stein mehr auffem andern. Dat Fenster inne Küche war mit einem Mal doppelt so groß wie bevor die Bombenangriffe. Und ’n Klo gab et auch nich. Für unsere Notdurft mussten wa innen Hoff – bei Wind und Wetter.»
«Danke jedenfalls für die Erbsensuppe», sage ich, zu Lisbeth gewandt. «Das ist wirklich sehr nett von Ihnen.»
«Die Suppe hat schon Stan Libuda gegessen», sagt Schmidtchen und deutet mit krummem Zeigefinger auf den Topf, damit auch kein Zweifel besteht, von welcher die Rede ist. «Beim Pokalsieg 66 hat unser Lisbeth ers gekocht und dann ausgeschenkt, und der Stan hat den größten Schlach genommen. Hat zugelangt wie ein Stahlarbeiter.»
«Rudi meint, dass ich seit Jahren dasselbe Rezept habe», sagt sie. «Ist noch von meiner Großmutter. Die Suppe, die dadrin is, is abba frisch. Gestern gekocht.»
«Kennze den noch, Stan Libuda?», fragt Schmidtchen.
Ich schüttele den Kopf.
«68 isser nach Schalke zurückgegangen.»
Mir ist nicht ganz klar, was er mir damit sagen will, aber ich schaue vorsichtshalber ein bisschen betroffen.
«Na ja, sei’s drum. War trotzdem einer von den Guten.» Schmidtchen geht auf den Balkon. Er hat einen Schritt wie John Wayne, nachdem er vom Pferd gestiegen ist. Breitbeinig watschelt er ins Freie, stützt sich mit gestreckten Armen auf der Brüstung auf, streckt seinen Hintern aus und blickt hinunter auf die Straße.
Meine Mutter kommt aus dem Schlafzimmer, wo sie gerade reinemacht und mein Vater Gardinenstange und Deckenleuchte montiert. Sie hält eine Flasche mit Spülmittel hoch und fragt: «Ist das alles, was du zum Putzen dahast?» Etwas überrascht blickt sie auf Schmidtchen und Lisbeth: «Guten Tag.»
Lisbeth und sie schütteln sich die Hand. Schmidtchen stellt sich in die Balkontür und sagt: «Sie sind also die Frau Schwester von unserer neuen Nachbarin.»
Meine Mutter zieht leicht verschämt die Schultern hoch und lächelt. «Nein, nein», sagt sie. «Ich bin die Mutter.»
«Küss die Hand», sagt Schmidtchen, watschelt auf sie zu und tut es tatsächlich.
Mutter blickt mich verstört an und hält wieder das Spülmittel hoch. «Was ist jetzt? Hast du noch was anderes zum Putzen? Neutralseife? Essigreiniger? Fensterreiniger? Womit soll ich eigentlich die Böden wischen?»
«Ich habe noch Allzweckreiniger», sage ich.
«Und fürs Bad?», fragt Mutter.
«Da habe ich so pfff-pfff.»
«Also keinen Essig?»
«Keinen Essig.»
«Und womit willst du den ganzen Dreck hier wegkriegen?»
«Mit dem Allzweckreiniger?»
Mutter atmet schnaufend aus und schweigt kurz bedeutungsvoll. Dann sagt sie – mit einem Tonfall, in dem die Resignation von über 30 Jahren vergeblicher Erziehung mitschwingt: «Wenn du meinst.»
«Soll ich noch was kaufen gehen?», frage ich gereizt.
Schmidtchen und Lisbeth spüren die negativen Schwingungen und machen sich auf den Weg zur Haustür. «Wir wollen dann auch nich länger stören», sagt Lisbeth und schiebt ihren Rudi vor sich her zur Wohnungstür. «Einen schönen Nachmittach noch, wonnich.»
«Bis die Tage dann!», ruft Schmidtchen, den Lisbeth schon in den Hausflur geschubst hat.
«Sinnvoll wäre das», knüpft Mutter an die Putzmitteldebatte an und schweigt wieder kurz, um ihrer Aussage mehr Nachdruck zu verleihen. «Soll ich dir Geld geben?»
«Geht schon, lass mal», sage ich.
«Bring auch ein Bier mit!», ruft mein Vater aus dem Schlafzimmer, wo er auf der Leiter steht und an einer Lüsterklemme schraubt.
Ich nehme Portemonnaie und Leinenbeutel und gehe zum Netto. In einer Gemeinschaft mit einer Apotheke, einem Bäcker und einem Lottogeschäft steht er: ein ehemals weißer, nun grauer Flachbau mit Plakatwand an der fensterlosen Seite und einem schmiedeeisernen Ring neben der Eingangstür, an dem ein struppiger Mischling angebunden ist, der mit hochgezogenen Brauen die Kundschaft beäugt. Der Laden erinnert mich sofort an den Spar-Markt meiner Kindheit: Er ist klein, hat nur zwei Kassen, und man kann vom Eingang aus bis hinten zum Wurstregal sehen.
Im ersten Gang, neben dem Gemüse, steht direkt ein Pärchen: Er trägt einen Kittel mit dem aufgestickten Titel «Sortimentsmanager» und räumt Dosenpfirsiche in die Regale, sie stolziert im Minirock und mit Schnürstiefeln vor ihm auf und ab.
«… der will tatsächlich einen Vattaschaftstest. Alta», echauffiert sie sich und gestikuliert dabei wild mit den Armen. «Ich fass es nicht!»
Ich suche nach Essig.
«Wer?», fragt der Doseneinräumer und stapelt weiter Pfirsiche. «Christian, oder was?»
Hier gibt’s nur Milchreis und Nudeln.
«Der denkt, ich hätt Hassan gefickt.»
«Hast du doch auch.»
Und Salz. Salz, Zucker, Mehl, Backwaren, daneben Konserven. Aber kein Essig.
«Nur einmal, ey. Davon wird man doch nicht schwanger!» Sie stampft mit kurzen Schritten den Gang auf und ab, nimmt eine Dose Thunfisch aus dem Regal, dreht sie in der Hand und stellt sie wieder hinein.
«Dabei ist es scheißegal, ob Christian der Vatta ist», fährt die Schnalle fort. «Ich krich eh von sein Hartz IV nix ab.»
Der Sortimentsmanager hält inne. «Vielleicht kriegst du aber von Hassans Geld etwas ab.»
«Meinst du, weil Hassan einen Job hat, muss er blechen, oder watt?»
Ich suche weiter, obwohl ich sicher bin, dass ich hier falsch bin. Ich bin sehr emsig und konzentriert. Tief beuge ich mich in das Regal mit Sauerkraut und Leipziger Allerlei, die Ohren wie Parabolantennen gen Hassans Perle gerichtet.
«Wenn du ein Kind und einen Job hast, musst du zahlen. Ist immer so. Ist Gesetz in Deutschland.» Er nimmt eine Palette mit Fruchtcocktail und räumt sie neben die Pfirsiche.
Sie bleibt breitbeinig vor ihm stehen und stemmt ihre zweifarbig lackierten Fingernägel in die Hüften. «Alta, ey. Daran hab ich noch gar nicht gedacht. Gut, dass ich keinen Job hab! Sonst müsst ich mir am Ende noch selber Unterhalt zahlen.»
«Du hast das Kind», antwortet der Dosenmann. «Du bist sowieso gefickt.»
«Dann geh ich jetzt zum Jugendamt und sag denen, dass Hassan der Vater ist. Du bist echt voll schlau, weißt du das?» Sie geht zu ihm, drückt ihm links und rechts ein Küsschen auf die Wange und sagt zum Abschied: «Danke, ey. Es gibt doch noch Gerechtigkeit auf der Welt.»
Ich richte mich auf und blicke ihr nach. Der Sortimentsmanager hat seine Kartons zusammengeräumt und zieht sich einen Einkaufswagen voller Sechserpacks Limonade vor das gegenüberliegende Regal. Einen Gang weiter finde ich Essig.
Als ich nach Hause komme, steht mein Vater im Wohnzimmer auf einer Trittleiter und stemmt sich mit der Bohrmaschine gegen die Wand. Meine Mutter steht mit verschränkten Armen daneben, schiebt ihren Unterkiefer vor und verengt ihre Augen zu Schlitzen. Seit die beiden geschieden sind, tut sie das oft in seiner Gegenwart.
Vatta nimmt Maß, lässt den kreischenden Bohrer an, drückt dagegen – und fällt fast gegen die Tapete. «Wie Butter», sagt er, als der Bohrer an Lautstärke verloren hat. Das Loch, das nun die Wand ziert, ist an den Seiten ausgefranst, Putz rieselt auf die Erde. Wie ein Einschussloch klafft es in der Tapete.
«Da kann man fast schon eine Gipskartonschnecke nehmen», murmelt er, steigt von der Leiter und geht zu seinem Werkzeugkasten. Mit staubigen Fingern nimmt er einen Dübel aus seiner Hosentasche, hält ihn eine Armlänge weg und kneift die Augen zusammen. «Was steht da drauf?», fragt er mich.
«Sechs», sage ich. «Hast du keine Lesebrille mit?»
«Ist im Bad. Hast du noch andere Dübel?»
«Ich? Nein.»
«Dann musst du welche kaufen. Bring auch gleich passende Schrauben mit.»
Er hätte mich genauso gut bitten können, den Fundamentalsatz der Vektoranalysis anhand eines Tafelbildes zu beweisen.
«Kauf Spreizdübel und pass auf, dass du die richtige Schraubengröße nimmst. Für die Waschmaschine brauchen wir außerdem noch Schlauchschellen und einen Zulaufschlauch. Und bring Spachtelmasse mit.» Er richtet sich auf und sieht mich an. «Du guckst wie ’ne Kuh, wenn’s blitzt», sagt er.
«Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.»
«Du wirst doch wohl in den Baumarkt fahren und ein paar Dübel kaufen können.»
Nein, ich fürchte nicht.
Vatta bleibt unbeirrt. «Du schaffst das schon», sagt er in...