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E-Book

Willy Brandt

Die Biographie

AutorGregor Schöllgen
VerlagBerlin Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783827076519
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Willy Brandt hat es weit gebracht: Vom unehelichen Sohn aus dem Lübecker Arbeitermilieu bis zum Vorsitzenden der SPD und Chef der Sozialistischen Internationale, vom NS-Verfolgten und Ausgebürgerten zum Bundeskanzler und Friedensnobelpreisträger. Er war Liebhaber und Genussmensch, dreifacher Ehemann und vierfacher Vater, rastlos Reisender und Autor zahlloser Artikel und Bücher, ein Mann mit vielen Freundschaften, aber ohne Freunde, gesellig, aber einsam - ein Mensch voller Widersprüche. Dieser epochalen Biographie gelingt es, das vielschichtige Wesen des Mannes zu entschlüsseln und ihn uns nicht nur als Politiker, sondern vor allem als Mensch auf neue Weise nahe zu bringen. Der Historiker Gregor Schöllgen ist eine Koryphäe der Brandt-Forschung: Als Mitherausgeber des Nachlasses besaß er auch Zugang zu dessen privaten Papieren, die von ihm mitbetreute »Berliner Ausgabe« (2000-2009) der Schriften Willy Brandts gilt als Meilenstein. Kein Biograph hat so viele bedeutende Weggefährten, Angehörige, Freunde und Antagonisten des großen Politikers persönlich befragt, darunter Egon Bahr, Rut Brandt, Hans-Dietrich Genscher, Helmut Kohl, Johannes Rau, Walter Scheel, Helmut Schmidt, Gerhard Schröder und Richard von Weizsäcker.

Gregor Schöllgen, Jahrgang 1952, ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Erlangen, wo er das Zentrum für Angewandte Geschichte (ZAG) leitet. Er war Gastprofessor in New York, Oxford und London, ist Mitherausgeber der Akten des Auswärtigen Amtes und des Nachlasses von Willy Brandt. Er schrieb zahlreiche Bücher zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, darunter den Bestseller «Willy Brandt» (2001). Im Berlin Verlag ist von ihm erschienen: «Gustav Schickedanz» (2010).

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Leseprobe
Der Aufbruch Einsam gegen den Strom 1913 - 1933 Es ist ein großer Tag. Am 21. Oktober 1969, um 11.22 Uhr, gibt der Präsident des Deutschen Bundestages das Ergebnis bekannt: Mit der hauchdünnen, aber hinreichenden Mehrheit von drei Stimmen ist der Abgeordnete Willy Brandt zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt worden. Von außen betrachtet, ist das der triumphale Höhepunkt einer scheinbar unaufhaltsamen und beinahe bruchlosen Politikerkarriere im geteilten Nachkriegsdeutschland. Willy Brandt selbst weiß es besser, »weil jedes Leben von innen her gesehen nichts weiter als eine Kette von Niederlagen ist«. Das jedenfalls notiert er in seiner unverwechselbaren Handschrift auf einen jener Zettel, die in unregelmäßigen Abständen ihren Weg in zwei Aktenmappen mit Zitatensammlungen finden. Neben anderen ihm wichtigen Materialien hebt Brandt auch diese bis zu seinem Tod in seinem Haus in Unkel am Rhein auf. Wir wissen nicht, wann sich Willy Brandt diesen Satz notiert hat; aber wir wissen, daß er vom Autor des Romans 1984, dem englischen Schriftsteller George Orwell, stammt, dem Brandt während des Spanischen Bürgerkrieges begegnet ist; wir wissen auch, daß Brandt Veranlassung genug hat, die notierte Erkenntnis auf sein eigenes Leben zu beziehen. Denn selbst in der Stunde des großen Triumphes holt ihn dieses Leben ein: »Frahm nein« ist auf einer der vier Stimmkarten zu lesen, die Bundestagspräsident Kai-Uwe von Hassel nach der Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler für »ungültig« erklärt. Wenn es stimmt, daß unser ganzes Leben, mehr oder weniger stark, von den Erlebnissen der frühen Jugend und insbesondere der Kindheit geprägt wird, dann hat Willy Brandt zeitlebens an einer Bürde zu tragen gehabt: Am 18. Dezember 1913 erblickt er in Lübeck als uneheliches Kind das Licht der Welt. Zwei Tage später wird der Junge ins Geburtsregister der Hansestadt eingetragen - unter dem Namen seiner Mutter. Fünfunddreißig Jahre lang wird er amtlich den Namen »Herbert Ernst Karl Frahm« führen, obgleich er sich bereits als Neunzehnjähriger erstmals »Willy Brandt« nennt. Wir bleiben im folgenden bei diesem »Nom de guerre«, den er trägt, seit er den Kampf gegen die Hitler- Diktatur aufnimmt. Seinen Vater hat Willy Brandt nie gesehen. Eine männliche Bezugsperson, welche die väterliche Rolle übernimmt, gibt es im Leben des Jungen erst seit Ende des Jahres 1918, als sein vermeintlicher Großvater Ludwig Frahm aus dem Krieg heimkehrt. Da ist Willy Brandt bereits fünf Jahre alt, und natürlich kann Ludwig Frahm, bei aller Fürsorge, den Vater nicht ersetzen. So fehlen dem Jungen wichtige Erfahrungen: Wie sich die Persönlichkeit im Konflikt mit dem Vater formt, erfährt er nicht; was väterlicher Schutz bedeutet, bleibt ihm vorenthalten. »Der Jugendliche aus dem vollproletarischen Haushalt«, schreibt er als Sechzehnjähriger in einem Artikel für die lokale Presse, »sucht Anlehnung. Und das ist leicht erklärlich, denn im Elternhaus wird er sie meistens nicht finden können.« Kann es angesichts dieser frühen, prägenden Erfahrung überraschen, daß sich Brandt seinerseits mit der Vaterrolle und dem Familienleben schwergetan hat? Jahrzehnte später stellt der beinahe Siebzigjährige fest, daß er schon früh, nämlich während seines Exils in Norwegen, darauf verzichtet habe, »die Entwirrung von Kindheitsproblemen durch eine Analyse zu versuchen«. Er bleibt überzeugt, daß er sein Leben auch ohne psychologische oder psychotherapeutische Hilfe »bestanden« habe. Er hat seine eigenen Wege und Mittel der Lebensbewältigung. Einmal das Reisen: Kein zweiter deutscher Politiker seines Formats ist zeitlebens so intensiv unterwegs gewesen wie Willy Brandt, wenn auch eine Zeitlang, während der Jahre 1933 bis 1945, nicht nur freiwillig, sondern weil er verfolgt wird und im Untergrund tätig ist. Und dann das Schreiben: Allein fünf Bände mit Lebenserinnerungen in einem Gesamtumfang von zweieinhalbtausend Druckseiten, zahlreiche Arbeiten mit mehr oder weniger deutlichen autobiographischen Zügen nicht mitgerechnet, sind auch für einen prominenten Zeitgenossen eine ungewöhnliche, aber noch nicht einmal die vollständige Bilanz: Beginnend in seiner Berliner Zeit, hat Brandt so häufig wie kein anderer deutscher Politiker in Rundfunk- und Fernsehinterviews über sein Leben gesprochen. Auf den ersten Blick scheinen sich die beiden Wege zu widersprechen, die Willy Brandt bis ins hohe Alter hinein einschlägt, um schwere Krisen zu meistern. Dabei sind es lediglich zwei Varianten eines Grundverhaltens: Sowohl das Reisen, bei dem man nach vorne schaut, als auch die rückwärtsgewandte Erinnerung vermeiden den Blick auf die Gegenwart mit ihren Ängsten, Schmerzen und Niederlagen. Brandt hat im Laufe seines bald achtzigjährigen Lebens einen in der Summe höchst erfolgreichen Umgang mit dieser Doppelstrategie entwickelt. Mit ihrer Hilfe überlebt er und übersteht schließlich, was andere aus der Bahn geworfen hätte. Als er erstmals unter dem Titel Mein Weg nach Berlin Memoiren vorlegt, ist Willy Brandt noch nicht einmal fünfzig Jahre alt. In den Jahren zuvor hat er manchen Rückschlag hinnehmen müssen, zum Beispiel jeweils zwei gescheiterte Kandidaturen für den Landesvorsitz der SPD in Berlin und für einen Platz im Bundesvorstand der Partei. Die Rückschläge werden von verletzenden Kampagnen begleitet, die sich auf seine Jahre im Exil und im Widerstand gegen die Nazi-Diktatur, aber auch auf seine Herkunft beziehen. Für den in solchen Krisenzeiten auf sein Leben Zurückblickenden legt sich über die Lübecker Jahre ein »undurchsichtiger Schleier ..., grau wie der Nebel über dem Lübecker Hafen. ... Es ist schwer für mich, zu glauben, daß der Knabe Herbert Frahm ich selber war.« Nachdem er in den folgenden Jahren zweimal als Kanzlerkandidat gescheitert ist und auch die Diffamierungskampagnen einen neuen Höhepunkt erreicht haben, greift Willy Brandt erneut zur Feder: 1966 erscheint unter dem Titel Draußen eine Auswahl seiner »Schriften während der Emigration«. Mit seinen autobiographischen Partien ist auch dieses Buch ein Akt der Krisenbewältigung. Und so wird es bleiben. Nach seiner wohl schwersten politischen Niederlage, dem Rücktritt vom Amt des Bundeskanzlers am 6. Mai 1974, veröffentlicht er innerhalb von nur acht Jahren nicht weniger als drei umfangreiche Erinnerungsbände. Der letzte dieses Zyklus, Links und frei. Mein Weg 1930-1950, enthält zugleich einige der erhellendsten Selbstbeobachtungen, die er für den Druck freigegeben hat. Wenige Jahre später macht sich Willy Brandt ein letztes Mal ans Werk und legt mit seinen Erinnerungen, die 1989 erscheinen, die Gesamtbilanz eines ungewöhnlich reichen und wechselvollen Lebens vor. Auch dieser Niederschrift geht eine schwere politische Niederlage voraus - der zu diesem Zeitpunkt nicht geplante Rücktritt als Vorsitzender der SPD aus nichtigem Anlaß im März 1987. In vielen Fällen sind wir heute auf die diversen Selbstzeugnisse Willy Brandts angewiesen, weil uns andere Quellen kaum zur Verfügung stehen. Das gilt insbesondere für seine Lübecker Jahre, in vieler Hinsicht aber auch noch für die Zeit des Exils. Veranlassung, grundsätzlich an der Authentizität des Erinnerten zu zweifeln, gibt es nicht. Wo wir auf andere zeitgenössische Informationen zurückgreifen können, bestätigen sie in aller Regel Brandts Version, und im übrigen kann nur die unverfälschte Erinnerung ihre Funktion der Selbstvergewisserung erfüllen. Romane schreibt er in Krisenzeiten eben nicht. Wohl aber denkt er schon früh an seinen Ort in der Geschichte. So gesehen ist die öffentliche Erinnerung immer auch Selbststilisierung und der Versuch, mit eigenen Mitteln ein Bild für die Nachwelt zu zeichnen. Als der Journalist Günter Struve im Auftrag Willy Brandts dessen Arbeiten aus der Exilzeit für den Band Draußen durchsieht, fällt ihm auf: »Wie hat der Mann früh angefangen, an seine Rolle in der Geschichte zu denken. Das waren keine literarischen Meisterwerke, aber alles edel und richtig.« Seit den fünfziger Jahren überläßt Brandt in dieser Hinsicht nichts mehr dem Zufall. Schon mit dem ersten Memoirenband Mein Weg nach Berlin beginnt diese Inszenierung des eigenen Lebens für die Nachwelt. Das hat unter anderem zur Folge, daß der junge, idealistisch- ungestüme Brandt in der Rückschau des alternden Mannes mitunter reifer und zielstrebiger erscheint, als er tatsächlich gewesen ist und gewesen sein kann. In seinen letzten »Erinnerungen«, die fünfundsiebzig Jahre nach seiner Geburt erscheinen, sagt Willy Brandt erstmals öffentlich, was er über seinen Vater weiß. Erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs habe er es »gewagt«, die Mutter, »dabei die briefliche Distanz wählend«, nach dem Namen des Vaters zu fragen. Diese habe »prompt einen Zettel« zurückgeschickt, auf dem der väterliche Name vermerkt gewesen sei: John Möller aus Hamburg. Das muß vor dem Mai 1949 gewesen sein, denn in seinem Antrag auf Namensänderung benennt Brandt seinen Vater. Jahre später, am 7. Juni 1961, fällt ein bis dahin unbekannter Vetter namens Gerd André Rank brieflich »mit der Tür ins Haus«, stellt sich als »außer Ihnen« einziger »noch lebender Enkel unserer gemeinsamen Großmutter, Frau Maria Möller«, vor und zeichnet für den Regierenden Bürgermeister von Berlin ein Bild des Vaters. Dem kann Willy Brandt entnehmen, daß John Möllers Erinnerungsvermögen durch eine Verwundung aus dem Ersten Weltkrieg beeinträchtigt gewesen ist, daß er als Buchhalter gearbeitet hat und 1958 in Hamburg gestorben ist. Nicht ohne Stolz zitiert Brandt 1989 den Cousin, wonach der leibliche Vater »eine außergewöhnliche menschliche Tiefe besessen und trotz seiner verhältnismäßig einfachen Position im Leben eine Persönlichkeit dargestellt habe, die jene, die ihn kannten, stark beeindruckt« habe. Als die inzwischen geschiedene Frau des Vetters diese Passage liest, greift auch sie zur Feder, bestätigt Willy Brandt das von Gerd André gezeichnete Bild und fügt hinzu, Vater John Möller sei ein »ruhiger, ausgeglichener und besonnener Mensch« gewesen. Die Unklarheit über seinen leiblichen Vater, an deren öffentlicher Aufklärung er sich erstaunlicherweise bis zu seinem Lebensabend nicht beteiligt, macht Brandt zeitlebens zu schaffen, auch bei seiner politischen Karriere. Im Laufe der Jahrzehnte und vor allem im Zuge der Verleumdungskampagnen der fünfziger und sechziger Jahre werden ihm zahlreiche Väter angedichtet, darunter nach eigener Auskunft ein mecklenburgischer Graf, ein deutsch-nationaler Amtsgerichtsrat, der bulgarische Kommunist Wladimir Pogoreloff, der Dirigent Hermann Abendroth und nicht zuletzt Julius Leber, der führende Lübecker Sozialdemokrat und frühe politische Ziehvater Willy Brandts. Zu Beginn der norwegischen Exilzeit macht sein Onkel Ernst, der Bruder seiner Mutter Martha Frahm, »das familiäre Chaos vollkommen« und gibt Willy Brandt zu verstehen, daß Ludwig Frahm »wahrscheinlich« nicht der Vater seiner Mutter und also auch nicht sein Großvater sei. Auch mit dieser Information tritt Brandt erst 1989 an die Öffentlichkeit, und er scheint dieser Version einiges abgewonnen zu haben: »Im alten Mecklenburg«, schreibt er an seinem Lebensabend in etwas verklausulierter Wendung, »wäre es nicht das erstemal gewesen, daß eine Landarbeiterin dem gutsherrlichen Recht der ersten Nacht zu gehorchen hatte; in diesem Falle wäre es die spätere Frau des Ludwig Frahm gewesen, die früh starb«. Mit anderen Worten: Willy Brandt hat zwar, wie jeder Mensch, einen Vater und einen Großvater; zu Gesicht bekommen hat er aber weder den einen noch den anderen. Jedenfalls ist »Ludwig Heinr. Karl Frahm, geb. 31. 10. 75 in Arpsrade« - so der Personalbogen seines späteren Arbeitgebers - nicht sein Großvater. Bevor dieser sich Anfang des Jahrhunderts auf den Weg nach Lübeck macht, hat er als Knecht auf einem mecklenburgischen Gut gearbeitet und dort die Magd Wilhelmine kennengelernt. Als die beiden heiraten, bringt diese ihre 1894 unehelich geborene Tochter Martha mit in die Ehe. So wird Ludwig Frahm, der keine leiblichen Kinder hat, in jungen Jahren Vater, genauer gesagt Stiefvater, und nimmt im Leben der Martha Frahm die Stelle ein, die er später auch bei deren Sohn einnehmen wird, die des Ersatzvaters. Es überrascht nicht, daß Ludwig Frahm von Willy Brandt »Papa« genannt wird und noch in dessen Reifezeugnis als Vater firmiert. Wilhelmine Frahm, die Großmutter also, stirbt 1913, wenige Wochen, bevor er selbst das Licht der Welt erblickt. Für den Witwer Ludwig Frahm bleibt wenig Zeit, seinem Leben eine neue Richtung zu geben. Der Ausbruch des großen Krieges in den ersten Augusttagen des Jahres 1914 führt auch ihn für gut vier Jahre an die Front. Immerhin überlebt er die Katastrophe. 1919 heiratet er zum zweiten Mal, und zwar die zehn Jahre jüngere Dorothea Sahlmann. Willy Brandt kann sie »nicht ausstehen «, muß aber fortan Ludwig Frahm, der als sein Großvater gilt und als sein Vater herhalten muß, mit dieser Person teilen. Folglich nennt er Dorothea Frahm auch nicht »Oma«, schon gar nicht »Mama«, denn eine solche hat er ja, und zwar eine richtige, sondern »Tante«. Als »Onkel« firmiert übrigens der Mann seiner Mutter, der mecklenburgische Maurerpolier Emil Kuhlmann, den Martha Frahm heiratet, als der Junge dreizehn Jahre alt ist. Aus dieser Ehe geht ein Sohn hervor, Brandts Halbbruder Günter Kuhlmann. So markiert die unübersichtliche, in entscheidenden Aspekten auch lange ungeklärte familiäre Situation schon in der Kindheit Willy Brandts einen Punkt, an dem er verletzbar ist. Das spüren bald auch seine Gegner. Über seine Mutter erfahren wir durch Willy Brandt wenig. 1982 schildert er sie als »lebhaft, unbeschadet ihrer Neigung zur Korpulenz«, mit dichtem dunkelblondem Haar und jenen »?slawischen? Backenknochen«, die er selbst »in abgemilderter Form« geerbt habe. Martha Frahm ist, »auf eine unverkrampfte Art, naturverbunden und kulturhungrig«. Soweit es die Tätigkeit als Verkäuferin im Konsumverein zuläßt, nimmt sie am politischen und kulturellen Leben des Milieus und der Stadt teil. Ihr Abonnement bei der Lübecker Volksbühne ist ihr wichtig; von ihrer Verbindung zum Wanderverein der »Naturfreunde« profitiert Sohn Willy durch den einen oder anderen Sommeraufenthalt an der Ostsee. Martha Kuhlmann stirbt im August 1969, we- nige Monate nach ihrem Mann, kann also die Karriere ihres Sohnes fast bis zum Höhepunkt der Kanzlerschaft verfolgen. Um ihren Sohn durchzubringen, muß Martha Frahm hart arbeiten, zumal ihr Stiefvater Ludwig Frahm seit Beginn des Krieges im Feld steht. Häufig hat der Junge sie nicht gesehen. Dabei ist die Mutter durchaus stolz auf ihn - und auf ihr Vaterland, das einen Existenzkampf zu bestehen hat. Kaum ist der kleine Willy drei Jahre alt, läßt Martha Frahm ihn ablichten: mit kaiserlicher Uniform, Pickelhaube und Holzgewehr. In Kenntnis der weiteren Biographie Willy Brandts hat der ungläubig staunende Blick des solchermaßen zum strammen Militaristen beförderten Kindes seinen eigenen Reiz. Martha Frahms Sechstagewoche bringt es mit sich, daß der Sohn die meiste Zeit bei einer Nachbarin, Paula Bartels-Heine, lebt. Sie verwahrt das Kind von Sonntagabend bis zum folgenden Samstag. Jahrzehnte später beschreibt sie ihn als einen »richtigen Jungen, der sich nicht die Butter vom Brot nehmen ließ und durchaus seinen eigenen Kopf hatte«. Das knappe und respektvolle Porträt, das Willy Brandt von seiner Mutter zeichnet, ist nüchtern und distanziert. Von Emotionen keine Spur. Das mag an der natürlichen Scheu vor einem unangemessenen Exhibitionismus liegen, hat aber womöglich auch damit zu tun, daß er als Kind nie wirklich erfahren hat, was mütterliche Liebe und menschliche Nähe bedeuten. Noch im hohen Alter stellt Brandt vor laufenden Kameras fest, daß es für ihn nicht jene »normale Bindung geben konnte ..., die jemand empfindet und entwickelt, wenn er bei der Mutter aufwächst«. Kein Wunder, daß er sich mit »normalen« Bindungen zeitlebens schwertut. Wie viele Menschen mit dieser Prägung sucht auch er nach Ersatz - für die Liebe und für die Nähe. Finden wird er ihn zunächst in der Jugendbewegung, sehr bald aber schon in der Politik. Der Auftritt im politischen Raum, der Parteitag oder der Wahlkampf, das sind Höhepunkte im Leben des Willy Brandt: Hier lassen sich Menschen erreichen, läßt sich Bestätigung finden und Nähe herstellen, ohne daß die Distanz aufgehoben werden muß. Erst mit der Rückkehr Ludwig Frahms aus dem Krieg hat der Junge die dringend benötigte männliche Bezugsperson. Bei ihm wächst Willy Brandt seit seinem sechsten Lebensjahr auf. Seit September 1910 hat Ludwig Frahm Arbeit im Lübecker Drägerwerk, und zwar als »Lastautofahrer in der Expedition«. Nach dem Krieg lassen sich damit etwa 200 Mark im Monat verdienen, und die reichen immerhin für eine kleine Wohnung in der Moislinger Allee 49, »mit zwei Zimmern, Küche und vor allem einem kleinen Bad, nebst Dachkammer für mich«, wie Brandt 1982 schreibt. Selbst wenn man in Rechnung stellt, daß der Rückblick des Alters die Kindheit in einem verklärten Licht erscheinen läßt, bleibt doch der Eindruck, daß Willy Brandt, soweit das unter den widrigen Umstände eben möglich ist, eine harmonische Kindheit verbringt, und daran hat Ludwig Frahm einen entscheidenden Anteil. Er gibt dem Jungen ein Zuhause, weist ihm den Weg in die sozialistische Arbeiterbewegung, ermöglicht ihm eine Ausbildung und formt seinen Charakter maßgeblich mit. 1960 - und in leicht variierter Form noch einmal 1982 - hat Willy Brandt von seinem »vielleicht nachhaltigsten Kindheitserlebnis« erzählt, das sich wohl im Jahr 1921 zugetragen hat. Es ist die Zeit der Inflation; in Lübeck streikt die Arbeiterschaft, und der Streik führt zur Aussperrung. Das trifft auch den Ziehsohn des streikenden Ludwig Frahm, für den sich in der Rückschau »die meisten der frühen Erinnerungen mit dem Essen verbinden«. Man kann sich leicht den sehnsüchtigen Blick vorstellen, mit dem der Achtjährige die Auslagen einer Bäckerei fixiert, als einer der Direktoren des Drägerwerks, also des Arbeitgebers Ludwig Frahms, ihn sieht, mit ihm in den Laden geht und ihm zwei Laib Brot kauft. Als der Junge daheim das kostbare Geschenk stolz präsentiert, fordert ihn Ludwig Frahm zu seiner großen Überraschung auf, die Brote wieder zurückzubringen: »Geschenkt! Ein streikender Arbeiter nimmt kein Geschenk vom Arbeitgeber an. Wir lassen uns nicht vom Feind bestechen. Wir sind keine Bettler, die man mit Almosen abspeist. Wir wollen unser Recht, keine Geschenke. Bring das Brot zurück, sofort!«
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