Warum die fehlenden Daten wichtig sind
Reboxetin ist ein Medikament, das ich selbst auch verschrieben habe. Bei einem meiner Patienten hatten andere Medikamente nicht geholfen, also wollten wir etwas Neues probieren. Ich las die Studiendaten, ehe ich das Rezept ausstellte, und fand nur gut gestaltete, faire Studien mit überwältigend positiven Resultaten. Reboxetin war besser als ein Placebo und im direkten Vergleich so gut wie jedes andere Antidepressivum. Es wurde von der Medicines and Healthcare Regulatory Agency (MHRA) zugelassen, die alle Arzneimittel in Großbritannien überwacht. Reboxetin wurde jährlich weltweit millionenfach verschrieben und galt als eindeutig sichere und wirksame Behandlungsmöglichkeit. Ich besprach mit dem Patienten kurz die vorhandenen Belege der Wirksamkeit, und wir waren uns einig, dass dies das richtige Medikament für den nächsten Schritt war. Ich unterschrieb ein Stück Papier: das Rezept, auf dem stand, dass ich meinem Patienten dieses Medikament verordnete.
Doch wir waren beide irregeführt worden. Im Oktober 2010 gelang es einer Gruppe von Wissenschaftlern, alle je zu Reboxetin durchgeführten Versuche zusammenzutragen.[6] Durch ausführliche Recherche – in wissenschaftlichen Zeitschriften, ebenso unermüdliche Anfragen bei den Behörden – ermittelten sie die Daten sowohl von veröffentlichten Studien als auch solche, die nie in wissenschaftlichen Arbeiten erschienen waren.
Diese Studiendaten ergaben ein erschreckendes Bild: In sieben Studien war Reboxetin mit einem Placebo verglichen worden. Nur eine, die an 254 Patienten durchgeführt worden war, hatte ein ordentliches positives Ergebnis – diese Studie wurde in einer wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlicht, wo sie Ärzte und Wissenschaftler lesen konnten. Doch es waren sechs weitere Studien mit fast zehnmal mehr Patienten durchgeführt worden, die ergaben, dass Reboxetin nicht besser war als eine Zuckerpille. Keine dieser Studien wurde veröffentlicht. Ich hatte keine Ahnung von ihrer Existenz gehabt.
Es kam noch schlimmer. Die Studien, in denen Reboxetin mit anderen Medikamenten verglichen wurde, ergaben exakt dasselbe Bild: Drei kleine Studien mit insgesamt 507 Patienten zeigten, dass Reboxetin genauso gut war wie jedes andere Medikament. Alle waren veröffentlicht. Doch die Daten von 1657 Patienten blieben unveröffentlicht, und diese unveröffentlichten Daten zeigten, dass es Patienten mit Reboxetin schlechter ging als denen, die andere Medikamente bekamen. Als wäre das nicht schon schlimm genug: Es gab auch Angaben über Nebenwirkungen. In den Studien, die in der wissenschaftlichen Literatur erschienen, machte das Medikament einen guten Eindruck. Aber aus den unveröffentlichten Studien erfuhren wir, dass unter Reboxetin im Vergleich zur Einnahme der Konkurrenzmedikamente die Wahrscheinlichkeit von Nebenwirkungen höher war – ebenso wie die Wahrscheinlichkeit, dass die Probanden das Medikament nicht mehr nahmen und dass sie wegen der Nebenwirkungen die Studie abbrachen.
Wenn Sie jemals Zweifel haben sollten, ob mich die Geschichten in diesem Buch wütend machen – und ich versichere Ihnen, ich werde mich an die Zahlen halten und alles möglichst neutral darstellen –, dann brauchen Sie nur diese Geschichte zu lesen. Ich tat alles, was ein Arzt tun sollte: Ich las alle wissenschaftlichen Arbeiten kritisch, ich verstand sie, ich besprach sie mit meinem Patienten, und wir trafen aufgrund des vorliegenden Materials gemeinsam eine Entscheidung. Nach den veröffentlichten Daten war Reboxetin ein sicheres und wirksames Medikament. Tatsächlich war es aber nicht besser als eine Zuckerpille, und schlimmer noch: Es schadet mehr, als es nützt. Als Arzt tat ich etwas, was meinem Patienten eventuell schadete, nur weil ungünstige Daten nicht veröffentlicht worden waren.
Sie finden das verwunderlich oder ungeheuerlich? Das ist erst der Anfang. Da hier keiner das Gesetz gebrochen hatte, ist Reboxetin immer noch auf dem Markt, und das System, das dies zuließ, besteht immer noch – für alle Medikamente, in allen Ländern der Erde. Negative Daten gehen verloren, bei allen Behandlungsformen, auf allen Gebieten der Wissenschaft. Die Behörden und Berufsverbände, von denen wir vernünftigerweise erwarten, dass sie solchen Praktiken ein Ende bereiten, haben versagt.
Auf den folgenden Seiten werden wir die Literatur durchgehen, die ohne jeden Zweifel belegt, dass die sogenannte Publikationsbias – die statistisch verzerrte Darstellung der Datenlage – im gesamten medizinischen und wissenschaftlichen Bereich vorherrscht und dass die zuständigen Behörden nichts dagegen tun, obwohl das Ausmaß des Problems seit Jahrzehnten bekannt ist. Doch ehe wir uns mit dieser Untersuchung beschäftigen, vergegenwärtigen wir uns die Folgen und denken darüber nach, warum fehlende Daten wichtig sind.
Der empirische Nachweis (Evidenz) ist in der Medizin die einzige Möglichkeit herauszufinden, ob etwas funktioniert oder nicht. Dazu testen wir die Wirkstoffe so umsichtig wie möglich im direkten Vergleich und tragen alle Hinweise zusammen. Dieser letzte Schritt ist entscheidend: Wenn ich Ihnen die Hälfte der Daten vorenthalte, kann ich Sie sehr leicht von etwas überzeugen, was nicht stimmt. Wenn ich zum Beispiel eine Münze 100-mal werfe und Ihnen nur die Ergebnisse mitteile, bei denen Kopf oben war, kann ich Sie davon überzeugen, dass diese Münze zwei Kopfseiten hat. Aber das bedeutet nicht, dass das wahr ist. Das heißt, ich führe Sie in die Irre – und Sie sind ein Narr, wenn Sie mir das abkaufen. Genau diese Situation tolerieren wir in der Medizin schon immer. Wissenschaftler dürfen beliebig viele Studien durchführen und dann entscheiden, welche sie veröffentlichen.
Die Auswirkungen dieser Vorgehensweise reichen weit über die simple Täuschung von Ärzten über Nutzen und Schaden von Medikamenten und über die klinischen Studien hinaus. Medizinische Forschung ist keine abstrakte wissenschaftliche Beschäftigung: Es geht um Menschen. Und immer wenn wir eine Forschungsarbeit nicht veröffentlichen, setzen wir reale, lebendige Menschen vermeidbarem Leiden aus.
TGN1412
Im März 2006 kamen sechs freiwillige Probanden in ein Londoner Krankenhaus, um an einer Studie teilzunehmen. Ein neues Medikament mit der Bezeichnung TGN1412 wurde erstmals Menschen verabreicht, und jeder erhielt dafür rund 1750 Euro.[7] Innerhalb von einer Stunde bekamen diese sechs Männer Kopf- und Muskelschmerzen, und ihnen wurde übel. Dann verschlimmerte sich ihr Zustand: Sie bekamen hohes Fieber, wurden unruhig und vergaßen zeitweise, wer und wo sie waren. Bald bekamen sie Schüttelfrost, Hitzewallungen, ihr Puls raste und der Blutdruck fiel ab. Dann litt einer an Ateminsuffizienz, der Sauerstoffgehalt in seinem Blut fiel rasch, und seine Lungen füllten sich mit Flüssigkeit. Keiner wusste, warum. Bei einem anderen fiel der Blutdruck auf nur 65/40, er konnte nicht mehr richtig atmen und wurde eiligst auf die Intensivstation gebracht. Er verlor das Bewusstsein, wurde intubiert und künstlich beatmet. Innerhalb eines Tages ging es allen katastrophal schlecht: Flüssigkeit in der Lunge, Atembeschwerden, Nierenversagen, unkontrollierbare Blutgerinnungsstörungen, und die weißen Blutkörperchen verschwanden. Die Ärzte gaben ihnen, was ihnen zur Verfügung stand: Steroide, Antihistaminika oder Histamin-Rezeptorblocker. Alle sechs wurden auf der Intensivstation künstlich beatmet. Sie produzierten keinen Urin mehr und wurden an die Dialyse angeschlossen. Ihr Blut wurde ausgetauscht, erst langsam, dann schnell; sie brauchten Plasma, rote Blutkörperchen, Blutplättchen. Das Fieber dauerte an, einer bekam eine Lungenentzündung. Dann gelangte das Blut nicht mehr in die Extremitäten. Finger und Zehen wurden rot, dann braun, dann schwarz, begannen zu faulen und starben ab. Nur durch heldenhaften Einsatz der Ärzte kamen alle schließlich mit dem Leben davon.
Das britische Gesundheitsministerium rief eine Expertengruppe zusammen, und diese stellte zwei Fragen.[8] Erstens: Können wir verhindern, dass so etwas wieder geschieht? Es ist zum Beispiel einfach nur dumm, bei einem ersten Versuch am Menschen allen sechs Teilnehmern gleichzeitig ein völlig unbekanntes Medikament zu verabreichen. Neue Arzneimittel sollten den Probanden mit Verzögerung, langsam über einen Tag verteilt verabreicht werden. Dieser Einwand fand bei den Behörden und in den Medien große Beachtung.
Weniger beachtet wurde die zweite Fragestellung: Hätten wir die Katastrophe vorhersehen können? TGN1412 ist ein Molekül, das sich an einen Rezeptor mit der Bezeichnung CD28 an den weißen Blutkörperchen anlagert. Das war eine neue und experimentelle Behandlung und störte das Immunsystem auf eine neue und noch kaum verstandene Weise, die auch schwer in Tiermodellen nachzuvollziehen ist (anders als etwa beim Blutdruck, denn die Immunsysteme der verschiedenen Spezies unterscheiden sich stark).
Doch im Schlussbericht wurde festgestellt: Es gab Erfahrung mit einer ähnlichen Intervention – sie war nur nicht veröffentlicht worden. Ein Wissenschaftler stellte unveröffentlichte Daten einer Studie vor, die er zehn Jahre zuvor an einem einzigen menschlichen Probanden durchgeführt hatte. Dabei hatte er einen Antikörper verwendet, der sich an die Rezeptoren CD3, CD2 und CD28 anlagert. Die Wirkung dieses Antikörpers hatte Ähnlichkeit mit der von TGN1412, und dem Probanden des Tests war es...