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E-Book

Die Dongdong-Tänzerin und der Sichuan-Koch

Geschichten aus der chinesischen Wirklichkeit

AutorLiao Yiwu
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl496 Seiten
ISBN9783104025315
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Spannende und unmittelbare Einblicke in das wahre China von heute. Der Friedenspreisträger Liao Yiwu hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, den kleinen, den unterdrückten Leuten in China eine Stimme zu geben. Als »Sprachrohr der Gesellschaft« ist er im Land unterwegs und bringt die Menschen zum Erzählen. Während Liao Yiwu in seinem hoch gelobten Buch ?Fräulein Hallo und der Bauernkaiser? sein Augenmerk auf den Zusammenprall politischer Wirklichkeit mit jahrtausendealten Traditionen richtete, berichtet er nun eindrücklich von der chinesischen Gegenwart. Eine Gemüsehändlerin, ein Restaurantbesitzer oder ein Anwalt kommen genauso zu Wort wie Nichtstuer, Geldeintreiber, Spieler, Säufer und Mörder. Spannende und unmittelbare Einblicke in das wahre China von heute. »Ein unbeirrbarer Chronist und Beobachter, der Zeugnis ablegt für die Verstoßenen des modernen China.« Aus der Begründung der Jury zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels

Liao Yiwu, geboren 1958 in der Provinz Sichuan, wuchs als Kind in großer Armut auf. 1989 verfasste er das Gedicht »Massaker«, wofür er vier Jahre inhaftiert und schwer misshandelt wurde. 2007 wurde Liao Yiwu vom Unabhängigen Chinesischen PEN-Zentrum mit dem Preis »Freiheit zum Schreiben« ausgezeichnet, dessen Verleihung in letzter Minute verhindert wurde. 2009 erschien sein Buch »Fräulein Hallo und der Bauernkaiser«. 2011, als »Für ein Lied und hundert Lieder« in Deutschland erschien, gelang es Liao Yiwu, China zu verlassen. Seit seiner Ausreise nach Deutschland erschienen die Titel »Die Kugel und das Opium« (2012), »Die Dongdong-Tänzerin und der Sichuan-Koch« (2013), »Gott ist rot« (2014), »Drei wertlose Vita und ein toter Reisepass« (2018), »Herr Wang, der Mann, der vor den Panzern stand« (2019) sowie der Roman »Die Wiedergeburt der Ameisen« (2016). Zuletzt erschien 2022 sein Dokumentarroman »Wuhan«. Für sein Werk wurde er mit dem Geschwister-Scholl-Preis und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Liao Yiwu lebt in Berlin.

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Leseprobe

Vier Lehrmeister (Vorwort des Autors)


Ich bin am 19. Tag des sechsten Monats nach dem chinesischen Bauernkalender geboren. Nach dem, was die alten Leute sagen, ist das der Tag, an dem Boddhisattva Guanyin, die Retterin aus Kummer und Not, die Erleuchtung erlangt hat. Ein großer Tag. Doch direkt darauf folgte die fürchterliche Hungersnot von 1959 bis 1962, und landesweit verhungerten zig Millionen Menschen. Mein längst verstorbener Vater hat mir einmal erzählt, mit gut einem Jahr sei mein Körper voller Ödeme und mein kleines Glied ganz durchsichtig gewesen, selbst zum Weinen hätte mir die Kraft gefehlt. Zum Glück habe ein alter Arzt der chinesischen Medizin am Niushikou in Chengdu mich von der Schwelle des Todes zurückgeholt und mir mein kleines Leben gerettet. Mein Vater erzählte weiter, durch die Behandlung des alten Arztes seien zuerst die Geschwüre weggegangen und anschließend habe er für ergänzende Nahrung gesorgt. Schließlich habe man mich über mehrere Monate hinweg jeden Morgen und jeden Abend über einen Eisentopf gehalten, in dem alle möglichen Kräuter köchelten, und mir das gelbe Wasser, wie das die chinesische Medizin nennt, Tropfen für Tropfen aus dem Körper gepresst.

Auf diese Weise wurde der Hunger mein erster Lehrmeister, er hat mich meine ganze Kindheit über verfolgt; und obwohl er meine Entwicklung nachhaltig beeinflusste, ich in allem hinterher war und noch mit vier Jahren Schwierigkeiten mit dem Laufen hatte, so hat er doch meinen Geschmack geschärft und schlussendlich die Art und Weise meines Schreibens bestimmt.

Ich war gerade in die Volksschule gekommen, als die Kulturrevolution ausbrach und die Familie auseinandergerissen wurde. Meine Mutter ist mit mir und meiner kleinen Schwester aus Yanting, einer Kleinstadt im Norden von Sichuan, auf eigene Faust nach Chengdu gezogen, wo sie bei einer jüngeren Schwester ihrer Mutter, der Frau eines ehemaligen Bürokraten der Guomindang, unterkam. Darauf folgten unzählige weitere Umzüge und unzählige Überprüfungen – ich erinnere mich, ich war neun Jahre alt, als meine Mutter mitten in der Nacht als angeblich flüchtige Grundbesitzerin zur Polizeistation vor Ort gebracht und verhört wurde. Von da an waren mir diese typisch chinesischen Bezeichnungen »Schwarzwohner« und »Schwarzer Haushalt« in die Seele gebrannt, sie wurden mein zweiter Lehrmeister. Noch viele Jahre später stand ich unter der Kuratel dieses strengen »Zuchtmeisters«. Um die Schande, mit der ich geboren war, abzuwaschen und auch, um diesen Lehrer-Schüler-Komplex, in dem sich alle möglichen Gefühle der verschiedensten Lebensabschnitte vermischten, in Ordnung zu bringen, habe ich mich freiwillig noch viel tiefer sinken lassen und bin noch mit einer Vielzahl von »Schwarzwohnern aus Schwarzen Haushalten« in Kontakt gekommen – die Intelligenz unseres Landes definierte sie oder uns als die »schweigende Mehrheit«.

Ich ernannte mich selbst zum »Aufnahmegerät der Epoche«, schrieb die »Gespräche vom Bodensatz der chinesischen Gesellschaft«[1] und traf damit den Nerv des offiziellen China. Sie kamen gar nicht auf die Idee, den besonderen Hintergrund des Autors als eines »Schwarzwohners aus einem Schwarzen Haushalt« in Rechnung zu stellen, auch wenn ich bereits öffentlich bekannt hatte: Dieses Buch ist ein Buch voller Narben und »ohne jede Scham«. Bei all dem Blut, all dem Leid und all der Schande können Leute wie wir nur überleben, wenn wir jede Scham fallen lassen. Nur so, in der Geschäftigkeit von Kakerlaken, können wir ein normales Leben führen.

Mein dritter Lehrmeister war die Obdachlosigkeit. Unter dem Ansturm der Kulturrevolution wurde meine Familie in alle Himmelsrichtungen zerstreut, ich selbst verkam zu einem Penner, sprang auf Wagen auf, aß, ohne zu zahlen und ohne zu arbeiten, lebte von Kinderarbeit, fälschte Reisepapiere und Behördenstempel, trieb mich auf den Fernstraßen in den Bergen herum, hauste in den Strohhütten von Verwandten, die in ihren Bauerndörfern in bitterster Armut lebten – das Einzige, was ich zum Glück nicht machte, war betteln und stehlen. Da ich meine Zeit mit Nichtstun verbrachte, bin ich nach dem Ende der Kulturrevolution viermal durch die Aufnahmeprüfung für die Universität gefallen. Beim fünften Mal kam ich auf Empfehlung des offiziellen Schriftstellerverbandes ohne Prüfung in die Schreibklasse der Universität Wuhan, doch weil ich mir in jungen Jahren auf meinen Wanderschaften schlechte Angewohnheiten zugelegt hatte, bin ich ständig angeeckt und schließlich von der Schule geflogen – der Stimulus dieser unablässigen »Erziehung im Ausnahmezustand« hatte in mir eine Dichternatur reifen lassen, die etwas von einem streunenden Köter hatte. Während der gesamten 80er Jahre, also während der gesamten Zeit meiner Jugend, habe ich mich im Land herumgetrieben, so wie die modernen Literaten im Westen eine Generation zuvor, ich habe Gedichte geschrieben, Lesungen veranstaltet, mich herumgeprügelt und inoffizielle Publikationen herausgebracht. Dies alles hat auf verschiedenste Weise meinem späteren Leben und Schreiben seinen Stempel aufgedrückt.

Parallel zur Nacht des großen Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens las ich dann das Gedicht »Massaker«, und wie ich in diesem Gedicht ausrief: Chinesen haben kein Haus. Unser Haus ist eine warme Sehnsucht. In diesem Wunsch lasst uns sterben! und mich so gegen die absolute innere wie äußere »Obdachlosigkeit«, die mein dritter Lehrmeister mir aufzwang, auflehnte, zeigte mein vierter Lehrmeister, das Gefängnis, zur rechten Zeit sein blutiges Eisengesicht. Der Ort, an dem ich verhaftet wurde, nannte sich »Rindhornbucht«. Der Staat hatte an den Enden dieser Bucht zuvor zehn bis zwanzig Polizisten in den Hinterhalt platziert, wackere Bullen; aus dem Ganzen hätte man einen Lehrfilm machen können über Einkreisung und Unschädlichmachung von Topkillern. Die großartige Aktion zur Aufnahme eines neuen Schülers des Lehrmeisters Gefängnis übertraf alle meine Erwartungen. Es folgte eine Leibesvisitation, und ich war noch nicht wieder zu mir gekommen, als ich, dieser schlechte, mit literarischen Ambitionen vollgestopfte Student, auch schon auf dem Flur des Untersuchungsgefängnisses zu Boden gedrückt und bis auf die Haut ausgezogen wurde. Der Leser mag nun meinen, ich hätte mir das in Klippschulen übliche Education-Board eingehandelt – dem war nicht so, man fuhr mir mit Essstäbchen im Anus herum und suchte da drin nach etwas, was da nicht hineingehörte.

Was daraufhin geschah, steht in meinem Buch Für ein Lied und hundert Lieder[2]. Um mich meinem vierten Lehrmeister nachhaltig dankbar zu zeigen, der den Dichter in mir zum Zeugen komprimierte, werde ich in alle Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dieses mein »neues Leben« nicht mehr vergessen. Ich bin dem Gefängnis dankbar, es hat mich von morgens bis abends mit so vielen verschiedenen Menschen zusammengesteckt, mit zum Tode Verurteilten, mit Konterrevolutionären, mit Menschenhändlern, mit einem Bauernkaiser, mit großen Räubern und Schwindlern – es sei, so der Rechtsabweichler und Dichter Liu Shahe, eine besondere Fügung, dass die Richtung meines Schreibens auf diese Weise von Grund auf umgekehrt worden sei.

Das Gefängnis war mein letzter Lehrmeister, und obwohl schon viele Jahre seit meiner Entlassung vergangen sind, lebe ich immer noch in einem großen unsichtbaren Gefängnis. In meinen Träumen bin ich immer auf der Flucht, wenn ich aufwache, habe ich Krämpfe. In meinen Träumen schreie ich: Ich will nicht Chinese sein!, aber ich muss doch in diesem Bett schlafen, und das Bett steht in China. Ich bin versessen darauf, anderen gute Ratschläge zu geben und Pläne für ihren illegalen Grenzübertritt zu spinnen, ich selbst aber sitze immer nur da und schwelge in dem Gefühl, ein »ideologischer Verbrecher« zu sein. Die Unbezähmbarkeit meiner Gedanken, die Unbezähmbarkeit meiner Füße und die unausweichlichen Auseinandersetzungen mit der Polizei haben mir zwei Scheidungen und über zehn Ablehnungen von Ausreiseanträgen eingebracht. Ob mein Vaterland aus übergroßer Liebe so besorgt ist, der streunende Köter könnte nicht wiederkommen, wenn er erst einmal weg ist? Oder sollten die Beamten der Sondereinheit, die mich seinerzeit verhaftet haben, auf einmal für Ein- und Ausreise zuständig sein und tiefere Anhänglichkeiten für ihre ehemaligen Häftlinge empfinden? Ich bin mir da nicht sicher. Ich habe nur das Schreiben, und neben dem Schreiben wieder nur das Schreiben. Wenn ich nicht schreibe, ist mein Leben leer, öde, oberflächlich, ohne Erinnerung und kommt einem langsamen Selbstmord nah; und das Schreiben ist Mühsal, eine endlose Mühsal.

Wieder sind ein paar Jahre im Flug vergangen, die Geschichten vom Bodensatz der Gesellschaft sind eine nach der anderen fertig geworden oder werden gerade fertig. Immer wieder sage ich mir: Hör auf! Willst du kein Zuhause? Selbst ein verdammter streunender Köter hat einen Platz, wo er hingehört. Aber das ist das Leben; dieser Kraft, die einen vorantreibt, dieser von oben kommenden, unsichtbaren Kraft kann man nicht entkommen.

Doch in diesem Augenblick legen sich mir all die Freunde und Feinde, die meinen Werdegang begleitet haben, um die Schultern wie das Licht einer Wintersonne.

Ich danke meinem ersten Lehrmeister, dem Hunger – auch wenn es mir heute an nichts fehlt, ist mit dem Fortschreiten der Zeit meine Sorge um die Welt tiefer geworden, und der Hunger nach Freiheit brennt heftiger als jeder Hunger des Körpers.

Ich danke meinem zweiten Lehrmeister, dem Schwarzwohnen – als »Schwarzwohner« war ich über...

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