Aus dem Nähkästchen eines Lehrers
Anekdoten der nachfolgenden Art könnten so ziemlich alle Erwachsenen beitragen, die beruflich oder ehrenamtlich mit Kindern der Helikopter-Eltern zu tun haben: Busfahrer, Kassiererinnen, Erzieherinnen, Kinderärzte und Übungsleiter in Sportvereinen. Da kommt es vor, dass eine Mama – in den USA heißen solche Frauen aus gutem Grund Soccer-Moms – mit dem Fußballtrainer streitet, weil sie ihren Sohn für falsch aufgestellt hält, oder sich beklagt, dass man ihn gar nicht aufgestellt habe. Natürlich habe die Mannschaft deswegen verloren, so meint sie. Die Rechthaberei mancher Eltern geht, wie der Spiegel berichtet, so weit, dass die Eltern der jungen Spieler den Schiedsrichter oder die gegnerische Mannschaft attackierten oder verunglimpften, weil sie sich schlecht behandelt fühlten. Allein in Bayern soll dies im Jahr 2010 in 69 Fällen vorgekommen und dem bayerischen Fußballverband gemeldet worden sein.
Folgende Beispiele sind willkürlich aus dem kunterbunten, aber realen schulischen Alltag genommen, um zu dokumentieren, welche Blüten die Eingriffe der Helikopter-Eltern treiben:
Da haben wir Eltern, bei denen es nichts gibt, woran sie sich nicht aufhalten könnten – über die Zahl der Englischvokabeln, über die Sitzordnung in der Klasse, über die unvermeidbare Zuteilung ihres Kindes zu einer bestimmten Klasse, über das Gewicht des Schulranzens, über das Fehlen eines Salatblatts auf dem in der Pause erworbenen Wurstbrötchen, über den fehlenden Wasserspender im Klassenzimmer.
Da haben wir die Mütter, die sich absolut nicht vorstellen können, dass ihre Töchter im Französischen eine Fünf eingefahren haben, wo sie doch selbst fließend Französisch sprechen und die Töchter am Vorabend der Prüfung zu Hause alle Vokabeln wie aus der Pistole geschossen aufsagen konnten.
Da haben wir den Vater, der es nicht akzeptieren will, dass sein verhaltensauffälliger Sohn binnen eines Quartals bereits sieben schriftliche Ermahnungen kassiert hat, und der auf drei Seiten ausführt, dass die Schule doch gefälligst kreative Menschen und keine Duckmäuser heranziehen solle.
Da haben wir den Schüler, der sich mit der Bemerkung weigert, ein herumliegendes Papier aufzuheben: «Dafür sind die Putzfrauen da!» Als er von der Schulleitung zu einer Extrarunde Reinigungsdienst verpflichtet wird, droht der Vater mit Aufsichtsbeschwerde.
Da haben wir die Mutter eines den Unterricht ständig heftig störenden Schülers, die sich der Kritik entzieht, indem sie dem Lehrer entgegenschleudert: «Sie wissen eben nicht, meinen Sohn richtig zu nehmen. Er verträgt keinen Druck, man muss ihn seinen eigenen Weg gehen lassen.»
Da haben wir den 14-jährigen Schüler, der bereits am Schulvormittag in stark alkoholisiertem Zustand angetroffen wurde und dessen Vater die Sorge der Schule mit der Bemerkung zurückwies: «Mein Sohn kann Alkohol trinken, weil ich es ihm erlaubt habe.»
Da haben wir die 12-jährige Göre, die sich vom Unterricht abmeldet und den Lehrern einen Brief der Mutter unter die Nase hält: «Ich hab ein Casting!»
Da haben wir die Eltern, die auf die 265 Jahreswochenstunden, die ein Schüler in den Jahrgangsstufen 5 bis 12 bzw. 13 nachweisen muss, damit sein Abiturzeugnis in Deutschland anerkannt wird, zwei oder noch mehr Stunden privates Golftraining angerechnet haben möchten.
Da haben wir die Mutter, die sich beim Elternabend darüber beschwert, dass die Kinder der ersten Klasse bereits bis 20 rechnen können sollten.
Da haben wir den Vater, der – aggressiv polternd – telefonisch, brieflich und persönlich vom Schulleiter erklärt haben möchte, warum sich sein Sohn als Torwart beim Parieren eines Torschusses in der Sportstunde die Speiche gebrochen hat und warum der Sportlehrer dies nicht zu verhindern wusste, und der sich natürlich rechtliche Schritte vorbehält.
Sodann haben wir immer häufiger Eltern, die ihrem Kind ohne genauere Kenntnis der Umstände in einer Klasse die Diagnose «Mobbingopfer» ausstellen, um Schulunlust, schlechte Noten oder eigenwilliges Verhalten ihres Kindes zu rechtfertigen. Hier sei die These gewagt, dass «Mobbing» zu einer elterlichen Trenddiagnose geworden ist, die in bald fünfzig Prozent der Fälle gar keine Grundlage hat.
Und nicht zuletzt haben wir so manche übersensiblen, aber trickreichen Eltern, die ständig auf der Jagd nach Gutachten sind, in denen ihrem Kind ADS, ADHS, Legasthenie, Dyskalkulie oder unentdeckte Hochbegabung attestiert wird.
Gewiss gibt es Ungerechtigkeiten, Einschränkungen und Belastungen. Die davon betroffenen Kinder sind sehr zu bedauern, und sie brauchen Hilfe und Beistand. Aber nicht in jedem Fall sind die Diagnosen der soeben genannten Kritisierenden nachvollziehbar. Oft geht es nur darum, sich als Eltern und das Kind mit einer entsprechenden, scheinbar logischen Begründung zu entlasten. Wer solche Diagnosen bekommen oder selbst ausgestellt hat, der empfindet sich seiner eigenen Verantwortung enthoben. Und natürlich ist es einfacher, den Kindern Medikamente zu verabreichen oder sie in «Profiprogramme» zu bringen, als das eigene erzieherische Verhalten zu hinterfragen und mühsam zu verändern.
Übrigens: Von Münchener Oberstufenschülern kann man lesen, dass sie zum Zweck des Schulbesuchs nach Berlin zogen – warum wohl nach Berlin? –, dort eine Wohngemeinschaft gründeten und im wochenweisen Wechsel von einer der Mütter betreut wurden.
Ein besonderes Kapitel sind die Tricksereien mancher Eltern um die Schulferien herum. Es ist schließlich bekannt, dass All-inclusive-Urlaube dann am teuersten sind, wenn die Ferien beginnen oder enden. Nichts ist leichter, als diese Praxis der Reiseveranstalter auszutricksen: Man beendet das Schuljahr seiner Kinder eben ein paar Tage früher oder bestimmt selbstherrlich, mit dem Schuljahr ein paar Tage später zu starten. Die Rechtfertigung für dieses Handeln ist eindeutig: An solchen Tagen passiere in der Schule ja ohnehin nichts, sagt man sich. Es mag ja sein, dass die letzten und die ersten Schultage vor und nach den Sommerferien nicht unbedingt hochkonzentrierter Unterricht stattfindet. Jedoch ist in diesen Tagen eine Menge zu regeln: Einige tausend Bücher sind einzusammeln, die Sportfeste und die Wandertage stehen an, die Schulfeste wollen – unter Mithilfe der Schüler – geplant und ausgestaltet werden und vieles mehr. Trotzdem: Auf die paar Schüler, die da fehlen, komme es nicht an, bilden sich manche Eltern ein und buchen eben für Tage innerhalb der Schulzeit – um einige hundert Euro oder gar einen Tausender günstiger. So weit, so schlecht. Aber es handelt sich nun mal um eine Ordnungswidrigkeit. Allein am Nürnberger Flughafen wurden in den Sommerferien 2007 etwa hundert Familien erwischt, die sich zu früh auf den Weg machten. Es sollen sogar Lehrer und deren Kinder darunter gewesen sein.
Bild am Sonntag startete dazu am 27. Juli 2008 über Emnid eine Umfrage mit der Fragestellung: Sollen Eltern bestraft werden, wenn sie vor Ferienbeginn ihre Kinder nicht zur Schule schicken, um vorzeitig in den Urlaub fahren zu können? Mit Ja antworteten 41 Prozent, mit Nein 58 Prozent. Pikant war, dass der Regelverstoß von Leuten mit höherem Bildungsabschluss stärker bagatellisiert wurde als von Leuten ohne Berufsabschluss: Letztere waren mit einem Anteil von 66 Prozent für eine Bestrafung, unter Leuten mit Abitur und/oder Hochschulabschluss war es genau umgekehrt: 64 Prozent wollten keine Bestrafung. Die Bereitschaft zum Regelverstoß scheint hier also mit formal höherem Bildungsgrad zu steigen.
Besonders machtvoll werden Helikopter-Eltern, wenn sie sich zusammentun. Dann werden Elternabende zu Lobbyistenabenden, zu parlamentarischen Untersuchungsausschüssen, ja zu Inquisitionsveranstaltungen. Das bislang individuelle Prinzensyndrom wird dann zum kollektiven. Charakteristisch sind Fragen wie: Warum gibt es in der Pause nichts zu kaufen, was vegan ist? Warum haben Sie keinen bilingualen Unterricht? Warum praktizieren Sie keine modernen Unterrichtsformen wie Materialtheke oder Wochenplanarbeit? Warum haben Sie nicht in allen Klassenzimmern Whiteboards? Man müsste die Kinder dann nicht mehr dem gefährlichen Kreidestaub aussetzen und würde noch eine Menge Geld einsparen, weil man dann in den Unterrichtsräumen keine Waschbecken für den Tafelschwamm mehr bräuchte. Warum haben Sie noch keine Schuluniformen eingeführt, das würde die sozialen Unterschiede ausgleichen und vor dem Markenwahn schützen? Warum geben Sie nicht mehr Einsen und Zweien, um die Kinder zu motivieren? Muss der Schulranzen voller Bücher denn immer so schwer sein, kann man denn keine Schließfächer für jedes Kind anschaffen, damit die Kinder nicht so viele Bücher und Hefte nach Hause und wieder zurück in die Schule schleppen müssen?
Natürlich gibt es unter den Mitgliedern von Elternbeiräten in der großen Mehrzahl die konstruktiven, die vernünftigen, die sich fürs sinnvolle Ganze engagieren. Ihnen geht es um das Wohl aller, sie haben sich nicht deshalb wählen lassen, weil sie Herrschaftswissen erringen und ihrem eigenen Kind einen Vorteil verschaffen wollen. Es gibt aber auch den Typ «Elternfunktionär», der mal als Notenallergiker, mal als polternder Aufsichtsrat, mal als notorischer Besserwisser auftritt. Übrigens: In Frankreich ist das anders. Dort endet der Einfluss der Eltern vor dem Schultor. Ihre Einmischung in schulische Belange wird nicht gern gesehen und zumeist auch unterlassen. In...