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Die Schlafwandler

Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog

AutorChristopher Clark
VerlagDeutsche Verlags-Anstalt
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl896 Seiten
ISBN9783641118778
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis18,99 EUR
Das Standardwerk zum Ersten Weltkrieg
Lange Zeit galt es als ausgemacht, dass das deutsche Kaiserreich wegen seiner Großmachtträume die Hauptverantwortung am Ausbruch des Ersten Weltkriegs trug. In seinem bahnbrechenden Werk kommt der renommierte Historiker und Bestsellerautor (Preußen) zu einer anderen Einschätzung.

Christopher Clark beschreibt minutiös die Interessen und Motivationen der wichtigsten politischen Akteure in den europäischen Metropolen. Diese ?Schlafwandler? waren ?wachsam, aber blind, von Alpträumen geplagt, aber unfähig, die Realität der Greuel zu erkennen, die sie in Kürze in die Welt setzen sollten?. Mit seinem eindrucksvollen ?Monumentalgemälde? (NZZ) zeichnet der Autor das Bild einer komplexen Welt. Gegenseitiges Misstrauen, Fehleinschätzungen, Überheblichkeit, Expansionspläne und nationalistische Bestrebungen führten zu einer Situation, in der ein Funke genügte, den Krieg auszulösen. Dessen verheerende Folgen vermochte kaum jemand abzuschätzen.

Christopher Clark, geboren 1960, lehrt als Professor für Neuere Europäische Geschichte am St. Catharine's College in Cambridge. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte Preußens. Er ist Autor einer Biographie Wilhelms II., des letzten deutschen Kaisers. Für sein Buch »Preußen« erhielt er 2007 den renommierten Wolfson History Prize sowie 2010 als erster nicht-deutschsprachiger Historiker den Preis des Historischen Kollegs. Sein epochales Buch über den Ersten Weltkrieg, »Die Schlafwandler« (2013), führte wochenlang die deutsche Sachbuch-Bestseller-Liste an und war ein internationaler Bucherfolg. 2018 erschien von ihm der vielbeachtete Bestseller »Von Zeit und Macht«, 2020 folgte das von der Kritik gefeierte »Gefangene der Zeit« und 2023 das Epochengemälde »Frühling der Revolution. Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt«. Einem breiten Fernsehpublikum wurde Christopher Clark bekannt als Moderator der mehrteiligen ZDF-Doku-Reihen »Deutschland-Saga«, »Europa-Saga« und »Welten-Saga«. 2022 wurde ihm der Ehrenpreis des Bayerischen Ministerpräsidenten verliehen.

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Leseprobe

KAPITEL 1
Serbische Schreckgespenster

Mord in Belgrad

Kurz nach zwei Uhr morgens am 11. Juni 1903 näherten sich 28 Offiziere der serbischen Armee dem Haupteingang des Königspalastes in Belgrad.20 Nach einem Schusswechsel wurden die Wachen vor dem Gebäude verhaftet und entwaffnet. Mit den Schlüsseln, die sie dem befehlshabenden Offizier abnahmen, drangen die Verschwörer in die Empfangshalle ein und begaben sich zu den königlichen Schlafgemächern. Eilig rannten sie die Stufen hoch und die Korridore entlang. Als die Verschwörer feststellten, dass die königlichen Gemächer von einer schweren Eichentür versperrt waren, sprengten sie die Tür mit einer Schachtel Dynamit auf. Die Sprengladung war so stark, dass die Flügel aus den Angeln gerissen und quer durch das Vorzimmer geschleudert wurden. Der Adjutant des Königs, der hinter der Tür gestanden hatte, wurde tödlich getroffen. Die Detonation ließ darüber hinaus im Palast den Strom ausfallen, sodass es im ganzen Gebäude stockfinster wurde. Die Eindringlinge ließen sich davon nicht abhalten, entdeckten in einem Nachbarzimmer ein paar Kerzen und stürmten weiter. Als sie das Schlafzimmer erreichten, waren König Alexander und Königin Draga nicht mehr dort. Aber der französische Roman, den die Königin gelesen hatte, lag aufgeschlagen mit den Seiten nach unten auf dem Nachttisch. Jemand berührte die Laken und spürte, dass das Bett noch warm war – offenbar hatte das Paar es erst vor kurzem verlassen. Nachdem die Eindringlinge vergeblich das Schlafzimmer durchsucht hatten, durchkämmten sie mit Kerzen und gezogenem Revolver in den Händen den ganzen Palast.

Während die Offiziere von Zimmer zu Zimmer zogen und auf Schränke, Wandteppiche und andere potenzielle Verstecke schossen, kauerten König Alexander und Königin Draga im ersten Stock in einem winzigen Anbau zur Schlafkammer, wo die Dienstmädchen der Königin in der Regel ihre Kleider bügelten und stopften. Fast zwei Stunden dauerte die Suche. Der König nutzte diese Pause, um sich so leise wie möglich eine Hose und ein rotes Seidenhemd anzuziehen; er wollte nicht, dass seine Feinde ihn nackt fanden. Der Königin gelang es derweil, sich mit einem Unterrock, einem Korsett aus weißer Seide und einem einzigen gelben Strumpf notdürftig zu bekleiden.

Unterdessen wurden in der Stadt weitere Opfer aufgetrieben und getötet: Die beiden Brüder der Königin, die allgemein verdächtigt wurden, Ränke gegen den serbischen Thron zu schmieden, wurden aus dem Haus ihrer Schwester in Belgrad gejagt und »zu einer Wache in der Nähe des Palastes gebracht, wo sie beschimpft und barbarisch niedergemacht wurden«.21 Auch in die Wohnungen des Regierungschefs Dimitrije Cincar-Markovi? und des Kriegsministers Milovan Pavlovi? drangen Mörder ein. Beide wurden erschlagen; auf Pavlovi?, der sich in einer Holzkiste versteckt hatte, wurden 25 Schüsse abgegeben. Innenminister Belimir Theodorovi? wurde angeschossen und irrtümlich für tot gehalten, erholte sich später aber von seinen Wunden; andere Minister wurden unter Arrest gestellt.

Im Palast wurde der loyale erste Adjutant des Königs, Lazar Petrovi?, den man nach einem Schusswechsel entwaffnet und gefasst hatte, von den Verschwörern durch die dunklen Zimmer geführt und gezwungen, den König von jeder Tür aus zu rufen. Als sie zu einer zweiten Suche in die Schlafkammer zurückkehrten, entdeckten sie schließlich hinter dem Wandteppich einen versteckten Eingang. Ein Angreifer schlug vor, kurzerhand die Wand mit einer Axt einzuschlagen. Da erkannte Petrovi?, dass das Spiel aus war, und erklärte sich bereit, den König aufzufordern, sein Versteck zu verlassen. Hinter der Täfelung fragte der König nach, wer denn rufe, worauf der Adjutant antwortete: »Ich bin’s, Euer Laza, öffnet Euren Offizieren die Tür!« Der König erwiderte: »Kann ich mich auf den Eid meiner Offiziere verlassen?« Die Verschwörer antworteten zustimmend. Einer Version zufolge erschien der König, vor Angst zitternd, die Brille auf der Nase und notdürftig mit dem roten Hemd bekleidet, in seinen Armen die Königin. Das Paar wurde in einem Kugelhagel aus nächster Nähe niedergeschossen. Petrovi?, der einen versteckten Revolver in einem aussichtslosen Versuch zog, seinen Herrn zu schützen (zumindest wurde das später behauptet), wurde ebenfalls getötet. Es folgte eine Orgie sinnloser Gewalt. Die Leichen wurden, laut der späteren Aussage des traumatisierten, italienischen Barbiers des Königs, dem man den Befehl erteilte, die Körper abzuholen und sie für das Begräbnis einzukleiden, mit Säbeln zerstochen, mit einem Bajonett aufgerissen, teilweise ausgenommen und mit einer Axt zerhackt, bis sie zur Unkenntlichkeit verstümmelt waren. Der Leichnam der Königin wurde zum Geländer des Schlafzimmerfensters geschleppt und, so gut wie nackt und völlig blutverschmiert, in den Garten geworfen. Als die Mörder versuchten, mit Alexander ebenso zu verfahren, schloss sich dem Vernehmen nach eine Hand des Königs für einen Moment um das Geländer. Ein Offizier hackte die Faust mit einem Säbel durch. Die einzelnen Finger und der Körper des Monarchen fielen zu Boden. Als sich die Attentäter im Garten versammelt hatten, um eine Zigarette zu rauchen und ihr Zerstörungswerk zu inspizieren, fing es an zu regnen.22

Die Ereignisse vom 11. Juni 1903 markierten einen Neubeginn in der serbischen politischen Geschichte. Die Dynastie Obrenovi?, die Serbien während des größten Teils der kurzen Existenz des Landes als unabhängiger Staat regiert hatte, war ausgelöscht. Nur wenige Stunden nach dem Attentat verkündeten die Verschwörer das Ende der Obrenovi?-Linie und die Thronbesteigung durch Peter Karadjordjevi?, der damals in der Schweiz im Exil lebte.

Warum wurde mit der Obrenovi?-Dynastie so schonungslos abgerechnet? Die Monarchie hatte in Serbien nie stabile Institutionen etabliert. Die Wurzel des Problems lag nicht zuletzt im Nebeneinander rivalisierender dynastischer Familien. Zwei große Sippen, die der Obrenovi? und der Karadjordjevi?, hatten sich in dem Befreiungskrieg gegen die osmanische Herrschaft ausgezeichnet. Der dunkelhäutige einstige Viehhirte »Kara Djordje« (serbisch für »Schwarzer Georg«) Petrovi?, der Begründer der Karadjordjevi?-Linie, führte im Jahr 1804 einen Aufstand an, mit dem es ihm gelang, für einige Jahre die Osmanen aus Serbien zu vertreiben. Im Jahr 1813 flüchtete er jedoch ins österreichische Exil, als die Osmanen eine Gegenoffensive begannen. Zwei Jahre danach brach unter der Führung von Miloš Obrenovi? ein zweiter Aufstand aus. Dem geschickten Politiker Obrenovi? gelang es, mit den osmanischen Behörden die Anerkennung eines serbischen Fürstentums auszuhandeln. Als Karadjordjevi? aus dem Exil nach Serbien zurückkehrte, wurde er auf Befehl von Obrenovi? und mit dem Einverständnis der Osmanen ermordet. Nachdem Obrenovi? sich seinen ärgsten Widersacher vom Hals geschafft hatte, wurde ihm der Titel Fürst (serbisch: knez) von Serbien verliehen. Angehörige des Obrenovi?-Clans regierten Serbien während des größten Teils seines Bestehens als Fürstentum innerhalb des Osmanischen Reiches (1817–1878).

Peter I. Karadjordjevi?

Corbis

Die beiden rivalisierenden Dynastien, eine exponierte Lage zwischen dem Osmanischen und dem Habsburgischen Reich und eine ausgesprochen respektlose politische Kultur, die von Kleinbauern dominiert wurde – alle diese Faktoren zusammengenommen sorgten dafür, dass die Monarchie eine umstrittene Einrichtung blieb. Es ist bezeichnend, wie wenige serbische Regenten des 19. Jahrhunderts auf dem Thron eines natürlichen Todes starben. Der Gründer des Fürstentums, Miloš Obrenovi?, war ein grausamer Autokrat, dessen Herrschaft immer wieder von Aufständen erschüttert wurde. Im Sommer 1839 dankte er zugunsten seines ältesten Sohnes Milan ab, der zu dem Zeitpunkt so schwer an den Masern erkrankt war, dass er bei seinem Tod 13 Tage später noch immer nichts von seinem Aufstieg mitbekommen hatte. Die Herrschaft des jüngeren Sohnes Mihailo fand ein vorzeitiges Ende, als er durch eine Rebellion im Jahr 1842 abgesetzt wurde. Damit war der Weg frei für die Einsetzung eines Karadjordjevi? – keines anderen als Alexander, Sohn des »Schwarzen Georgs«. Aber im Jahr 1858 wurde auch Alexander gezwungen abzudanken, ihn löste wiederum Mihailo ab, der im Jahr 1860 auf den Thron zurückkehrte. Mihailo war in seiner zweiten Regierungszeit nicht beliebter als in der ersten; acht Jahre später fiel er gemeinsam mit einer Kusine einer Verschwörung zum Opfer, die möglicherweise der Karadjordjevi?-Clan unterstützt hatte.

Die lange Regierungszeit von Mihailos Nachfolger, Fürst Milan Obrenovi? (1868–1889), brachte ein gewisses Maß an politischer Stabilität. Im Jahr 1882, vier Jahre nachdem der Berliner Kongress Serbien den Status eines unabhängigen Staates zuerkannt hatte, erklärte Milan das Land zu einem Königreich und sich selbst zum König. Doch die außerordentlich starken politischen Turbulenzen blieben ein Problem. Im Jahr 1883 lösten die Bemühungen der Regierung, die Feuerwaffen der Bauernmilizen im Nordosten Serbiens zu konfiszieren, einen großen Provinzaufstand aus: den Timoker Aufstand. Milan antwortete mit brutalen Vergeltungsmaßnahmen gegen die Rebellen und einer Hexenjagd auf führende politische Persönlichkeiten in Belgrad, die im Verdacht standen, die Unruhen geschürt zu haben.

Die serbische politische Kultur wandelte sich Anfang der 1880er Jahre durch das Aufkommen moderner politischer Parteien mit eigenen Zeitungen, Versammlungen, Manifesten, Wahlkampfstrategien und lokalen Ausschüssen. Auf diese...

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