EINFÜHRUNG
Die ultimative Macht
Jeder hat sein eigen Glück unter den Händen, wie der Künstler eine rohe Materie, die er zu einer Gestalt umbilden will. Aber es ist mit dieser Kunst wie mit allen: Nur die Fähigkeit dazu wird uns angeboren; sie will gelernt und sorgfältig ausgeübt sein.
JOHANN WOLFGANG VON GOETHE
Macht und Intelligenz stellen in einer ganz bestimmten Form den Gipfel des für den Menschen Erreichbaren dar. Sie sind der Ursprung der größten Leistungen und Entdeckungen der Menschheitsgeschichte. Diese Intelligenz wird weder an unseren Schulen gelehrt, noch von Professoren untersucht, und dennoch haben wir fast alle irgendwann einmal einen Blick darauf erhaschen können. Das geschieht häufig, wenn wir unter Anspannung sind – unter Zeitdruck ein Problem lösen, eine Krise meistern müssen. Oder es passiert, wenn wir uns dauerhaft einer Aufgabe widmen. Unter dem Druck der Situation fühlen wir uns dann in unerwarteter Weise energiegeladen und fokussiert. Unser Verstand geht völlig in der Aufgabe auf, die es zu bewältigen gilt. Aus dieser intensiven Konzentration entspringen die verschiedensten Ideen – selbst im Schlaf, aus heiterem Himmel –, als würden sie direkt aus unserem Unterbewusstsein hervorbrechen. Andere Menschen scheinen unserem Einfluss zu diesen Zeiten weniger Widerstand entgegenzubringen; vielleicht sind wir ihnen gegenüber besonders aufmerksam, oder wir verfügen in ihren Augen über eine besondere Stärke, der sie Respekt zollen. Gut möglich, dass wir unser Leben normalerweise eher passiv verbringen, als eine Folge von Reaktionen auf alle möglichen Vorfälle, aber während dieser besonderen Tage oder Wochen sind wir offenbar in der Lage, die Ereignisse selbst zu bestimmen und Dinge zu bewirken.
Diese Macht lässt sich folgendermaßen beschreiben: Die meiste Zeit leben wir in einer inneren Welt der Träume, Sehnsüchte und zwanghaften Gedanken. In einer Phase außergewöhnlicher Kreativität dagegen verspüren wir den Drang, etwas zu vollbringen, das praktische Auswirkungen hat. Wir zwingen uns unser alltägliches Denkschema zu verlassen und mit der Welt, mit anderen Menschen und der Wirklichkeit in Verbindung zu treten. Anstatt im Zustand permanenter Ablenkung wie ein Irrlicht bald hierhin, bald dorthin zu jagen, sammeln sich unsere Gedanken und dringen vor bis zum Kern der Wirklichkeit. In diesen Augenblicken ist es, als würde unser Verstand von innen nach außen gekehrt, vom Licht der uns umgebenden Welt durchflutet – von neuen Erkenntnissen und Ideen, die uns beflügeln und unsere Kreativität anregen.
Wenn die Frist eingehalten, die Krise überstanden ist, dann sinken unsere Fähigkeiten und Kreativität meist wieder auf das übliche Maß zurück. Wir lassen uns wieder ablenken und das Gefühl der Kontrolle ist wieder verloren. Wenn wir diesen Zustand nur aktiv herbeiführen oder irgendwie länger in Gang halten könnten! Aber irgendwie ist er rätselhaft und schwer zu erreichen.
Das liegt daran, dass diese Art von Macht und Intelligenz einerseits von der Forschung ignoriert wird, andererseits durch zahllose Mythen und Missverständnisse verklärt wird, was das Mysterium noch verstärkt. Wir glauben, Kreativität und Bravour tauchen wie aus dem Nichts auf, als Früchte einer natürlichen Begabung, vielleicht auch einer guten Stimmung oder einer Sternenkonstellation. Es wäre enorm hilfreich, dieses Rätsel aufzuklären – diesem Gefühl der Macht einen Namen zu geben, seine Ursachen zu untersuchen, die geistige Begabung zu definieren, die zu diesem Zustand führt und zu verstehen, wie sich dieser herbeiführen und aufrechterhalten lässt.
Nennen wir diesen Zustand Meisterschaft – das Gefühl, dass wir die Realität, andere Menschen und uns selbst besser unter Kontrolle haben. Für viele bleibt dies eine vorübergehende Erfahrung, während es für manche – die Meister ihres Fachs – zur Daseinsform wird, zur Art und Weise, wie sie die Welt sehen. (Zu diesen Meistern zählen Leonardo da Vinci, Napoleon Bonaparte, Charles Darwin, Thomas Edison, Martha Graham und viele andere.) Und zur Meisterschaft führt im Grunde ein einfacher Prozess – der diese Macht praktisch für jeden zugänglich macht.
Dieser Prozess lässt sich so beschreiben: Angenommen, wir lernen Klavier spielen oder wir treten eine neue Arbeitsstelle an und müssen bestimmte Fertigkeiten entwickeln: Wir beginnen als Außenseiter; unsere ersten Eindrücke vom Klavierspiel oder der Arbeitsstelle basieren auf Vorurteilen und sind häufig von Angst geprägt. Die Klaviatur sieht zu Anfang ziemlich bedrohlich aus – noch kennen wir nicht die Beziehungen zwischen den Tasten, den Akkorden, den Pedalen und allem anderen, das für das Entstehen von Musik von Bedeutung ist. An der neuen Arbeitsstelle sind uns weder das Machtgefüge der Kollegen noch die Eigenheiten des Chefs geläufig, und die Regeln und Vorgehensweisen, die als wichtig für den Erfolg gelten, kennen wir nicht. Wir sind unsicher, weil wir einfach nicht über das nötige Wissen verfügen.
Mag sein, dass wir uns in solchen Situationen begeistern können für all das Neue, das wir lernen und mit den neuen Fähigkeiten anfangen können, aber allzu schnell wird klar, wie viel Mühe das kosten wird. Die größte Gefahr besteht darin, sich nun Empfindungen wie Langeweile, Ungeduld, Angst und Unsicherheit zu gestatten, denn damit hören wir auf, zu beobachten und zu lernen. Der Prozess kommt zum Stillstand.
Wenn wir diese Empfindungen aber im Zaum halten und der Zeit ihren Lauf lassen, dann setzt eine bemerkenswerte Entwicklung ein. Je länger wir andere beobachten und ihrem Beispiel folgen, desto mehr gewinnen wir Klarheit, lernen die Regeln und erkennen, wie die Dinge funktionieren und zusammenwirken. Wenn wir weiter üben, fällt es uns immer leichter; wir beherrschen die grundlegenden Fertigkeiten und können uns an neue und interessante Herausforderungen wagen. Wir erkennen Verbindungen, die uns bislang verborgen geblieben waren. Nach und nach gewinnen wir Zutrauen in unsere Fähigkeit, Probleme zu lösen oder Schwierigkeiten durch beständiges Bemühen zu überwinden.
An einem gewissen Punkt machen wir den Schritt vom Lernenden zum Praktizierenden. Nun folgen wir unseren eigenen Ideen und erhalten dabei wertvolle Rückschlüsse. Unser stetig anwachsendes Wissen wenden wir auf immer kreativere Weise an. Anstatt stur das Vorgehen anderer zu kopieren, bringen wir nun unseren eigenen Stil und unsere Persönlichkeit ins Spiel.
Wenn wir diesem Prozess im Lauf der Jahre treu bleiben, wird ein weiterer Sprung erfolgen – zur Meisterschaft. Die Klaviatur ist nun kein äußerer Fremdkörper mehr, denn wir haben sie verinnerlicht und zu einem Teil unseres Nervensystems, unserer Fingerspitzen gemacht. Im beruflichen Umfeld ist uns die Gruppendynamik und die aktuelle Lage des Betriebes vertraut. Diese Vertrautheit hilft uns bei zwischenmenschlichen Kontakten; wir verstehen andere Menschen besser und können ihre Reaktionen vorhersehen. So kommen wir zu schnellen und äußerst kreativen Entscheidungen. Ideen fliegen uns zu. Die Regeln beherrschen wir inzwischen so gut, dass es an uns ist, sie zu brechen oder neu zu schreiben.
Beim Prozess, der zu dieser höchsten Form der Macht führt, lassen sich drei Phasen oder Ebenen unterscheiden. Die erste ist die Lehrzeit; die zweite ist die Aktiv-Kreative Phase, die dritte die Meisterschaft. In der ersten Phase befinden wir uns außerhalb unseres Fachgebiets und lernen so viel von den Grundlagen und Regeln wie möglich. Da wir noch nicht das ganze Feld überblicken, ist unser Einfluss noch gering. In der zweiten Phase können wir durch viel Übung und Vertiefung schon ins Innere des Getriebes blicken; wir verstehen, wie die Dinge zusammenhängen, und gelangen so zu einem sehr viel umfassenderen Verständnis für das Fachgebiet. Dies bringt neue Einflussmöglichkeiten mit sich: Nun können wir mit den Bausteinen experimentieren und in schöpferischer Weise spielen. In der dritten Phase reichen unsere Kenntnisse, unsere Erfahrung und unsere Konzentration so tief, dass wir das Gesamtbild in völliger Klarheit überblicken. Wir haben nun Zugang zum Kern des Lebens – zur menschlichen Natur und den natürlichen Vorgängen. Genau deshalb erschüttern uns die Werke echter Meister bis ins Mark; der Künstler hat etwas vom Geist der Wirklichkeit eingefangen. Deshalb kann der brillante Wissenschaftler ein neues physikalisches Grundgesetz entdecken und der Erfinder oder Unternehmer auf etwas stoßen, das sich niemand zuvor vorgestellt hat.
Wir können diese Fähigkeit Intuition nennen, aber Intuition ist lediglich ein plötzliches und unmittelbares Begreifen dessen, was real ist, ohne dafür Wörter oder Formeln zu gebrauchen. Wörter und Formeln kommen später vielleicht hinzu, aber letztlich ist es diese blitzartige Intuition, die uns der Wirklichkeit näher bringt – wenn unser Verstand plötzlich von einem Funken Wahrheit erleuchtet wird, der uns und anderen bislang verborgen geblieben war.
Auch ein Tier hat die Fähigkeit zu lernen, aber in der Beziehung zu seiner Umwelt und bei der Vermeidung von Gefahr ist es mehr oder weniger ausschließlich auf seine Instinkte angewiesen. Der Instinkt befähigt es, schnell und wirkungsvoll zu handeln. Wir Menschen erschließen uns unsere Umwelt dagegen durch unser Denken und unsere Vernunft. Das Denken kann allerdings einige Zeit erfordern und dadurch ineffektiv sein. In seiner manisch selbstbezogenen Art hat es außerdem die Tendenz, uns von unserer Umwelt abzukoppeln. Die intuitiven Fähigkeiten auf Meisterniveau sind dagegen eine ideale Kombination von Instinkt und Vernunft, von Bewusstem und Unbewusstem, von Tier und Mensch. So können wir unmittelbar...