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Ein mir von den Eltern vertrauensvoll überlassenes Einkaufsritual leitete am Freitagnachmittag das Wochenende ein. Erst kaufte ich beim Bäcker in der Greifswalder Straße Schrippen in gewaltigen Mengen. Danach ging es zurück in die Winsstraße, wo ich im Zeitungsladen nahezu sämtliche Druckerzeugnisse der DDR-Wochenpresse erstand: NBI, Für Dich, Freie Welt und Wochenpost. Obzwar meine Mutter bei der Lektüre regelmäßig beklagte, dass überall nur das Gleiche stehe, erhielten wir aus Gewohnheit die Dauerbestellung dieses Paketes über Jahre hinweg aufrecht.
Der Laden wurde von einer reifen Dame betrieben, die ihre Leibesfülle in eine Kittelschürze hüllte und die anspruchslose Frisur durch Haarklemmen in Form brachte. Alle vier Wochen wurde das routinemäßige Abholen der Zeitschriften durch eine bedeutende Ergänzung bereichert. Die Frau bückte sich, wobei sie mir ein gewaltiges Gesäß entgegenstreckte, holte unter dem Ladentisch das begehrte Magazin hervor und steckte es, von den Kunden im Laden unbemerkt, blitzschnell in den Stapel der anderen, von mir erworbenen Zeitungen. Möglicherweise war das überhaupt der Deal: Die vollständige Abnahme der gleichförmigen Einheitspresse gegen die monatliche Versorgung mit einer journalistischen Kostbarkeit. Der in der DDR so häufig angewandte Begriff der »Bückware« hat sich für mich in diesem Hinterteil materialisiert. Auch als wir schon längst nicht mehr in der Winsstraße wohnten, lief ich diese freitägliche Runde ab. Die Geruchsmischung im Einkaufsbeutel von frischen Schrippen und Druckerschwärze verband sich für mich mit der freudigen Erwartungsstimmung des anbrechenden Wochenendes.
Schon auf dem Heimweg durch die Winsstraße sah ich mir die zwei berühmten Markenzeichen des Magazins an, das vom Illustrator Werner Klemke gezeichnete Titelblatt mit dem versteckten Kater und irgendwo auf den Innenseiten ein Aktbild, das zu den allmonatlichen Sensationen gehörte.
Bei der Suche nach alten Ansichten der Winsstraße war ich auf eine schöne Aufnahme der Fotografin Helga Paris gestoßen. Eine Taube fliegt durch die Straße, die auf diesem Foto wie eine tiefe Schlucht wirkt. Die für Arbeiten von Helga Paris so typischen feinen Abstufungen von Grautönen lassen die tausendmal gesehenen Häuserfronten fremd und dramatisch erscheinen. Die Taube, dieses uralte Symbol der Hoffnung, in der Großstadt zur verhassten Plage degeneriert, erhält auf diesem Bild ihre Würde zurück. Sie ist Teil der rauen Realität dieser Straße und zugleich eine schwebende Metapher. Wie viele der Fotos von Helga Paris sieht auch dieses aus, als stamme es aus einem neorealistischen Film.
Die Winsstraße 1984 von Helga Paris fotografiert
Uschi hatte vom »La Bohème« auf die andere Straßenseite gewiesen. Helga Paris, die berühmte Fotografin, wohne gleich gegenüber. Sie sei nebenbei auch Vorsitzende des Vereins, der den Klub trägt, und eine faszinierende Frau, die ich einfach anrufen solle. Das tat ich dann, erfüllt von einem kleinen Anflug des Stolzes, dass sie, deren Name mir seit Jahrzehnten vertraut ist, in der Winsstraße lebt.
Nach ein paar Tagen treffe ich sie. Wir sitzen in einem großem Raum, der wie ein Arbeitszimmer auf mich wirkt, überall liegen Zeitschriften, in den Regalen stehen dichtgedrängt Bücher und in einem offenen Rollschrank Kartons mit Fotos. Üppiger, neobarocker Stuck verziert die Decke, wie immer beeindruckt mich dieser reiche Schmuck in privaten Räumen, der wie ein Gruß der längst verschwundenen Schöpfer dieser Wohnungen über den heutigen Mietern schwebt.
Das Fenster öffnet sich zum Hof hin, in den gerade die Sonne hineinscheint und den gläsernen Fahrstuhlschacht zum Leuchten bringt. »Gegenüber, im vierten Stock wohnte eine Familie mit vielen Kindern«, erinnert sich Helga Paris. »Die liefen außen auf den Fensterbrettern lang, schwangen sich von Fensterkreuz zu Fensterkreuz und verschwanden in der Speisekammer. Mir stockte jedes Mal der Atem, wenn ich das sah.«
Als Helga Paris 1966 in die Winsstraße zog, lebte auch ich noch hier. Wir hätten uns also schon früher begegnen können, beim Bäcker, beim Fleischer oder auf der Straße. Ich könnte auf einem ihrer Bilder verewigt sein, ein kleiner Junge in unverwüstlichen Lederhosen, auf einem Holzroller stehend oder Murmeln spielend. Ihr erschienen solche Motive als kostbar. Auf ihren Fotos hat sie lebenslang Momente der Alltäglichkeit festgehalten, nichts war ihr zu gering, zu unbedeutend.
Ihr Gesicht mit den hellen Augen, dem rotblonden Haar, das ihr in die Stirn fällt, ist mir längst bekannt. In einer Fotoserie hatte sie sich über Jahre hinweg, mit mimischen Variationen in die Kamera sehend, selbst porträtiert. In Ausstellungen hatte ich diesen Zyklus der schonungslosen Selbsterkundung gesehen, in dem sie ganz ungekünstelt und direkt wirkt. Jetzt sitzt sie sehr aufrecht und konzentriert vor mir, wie eine Tänzerin, die jeden Augenblick zum Auftritt aufspringen will.
Sie war mit ihrem Mann, dem Maler Ronald Paris, von dem sie inzwischen geschieden ist, aus einer kleineren Wohnung in Weißensee in die Winsstraße gezogen. »Damals wollte niemand hierher. Es war auch keine tolle Gegend.« Anfangs habe sie sich sogar etwas gegruselt. Viele Läden standen leer, die Bäume gab es noch nicht. Leute zogen aus, wenn sie eine Neubauwohnung ergattert hatten. »Wie meine Eltern«, füge ich traurig hinzu, stoße aber auf den praktischen Sinn von Helga Paris. »Sicher musste Ihre arme Mutter auch heizen?« Ich nicke schuldbewusst, dabei war ich wirklich zu klein, um ihr zur Hand zu gehen. »Daran denke ich mit Schrecken. Es dauerte ewig, bis die vier großen Zimmer warm waren«, sagt sie.
Helga Paris half sich mit Fantasie, wenn sie die Kohlen schleppte und den beschwerlichen Heizungsrundgang in der Wohnung antrat. Sie sah sich in einem jahrtausendealten Zug von heizenden, fürsorglichen Frauen, fühlte sich ihnen verbunden und war etwas getröstet. Während sie das lächelnd erzählt, wird mir bewusst, dass ich noch nie in meinem Leben einen Ofen in Gang setzen musste.
Helga und Ronald Paris gehörten zu den ersten Künstlern, die in diese proletarische Gegend kamen, und sie trafen den richtigen Ton nicht sofort. Ronald Paris, Meisterschüler an der Akademie der Künste, bestellte in einer Eckkneipe höflich und zurückhaltend ein Bier und wunderte sich, dass es niemals am Tisch eintraf. Ein Müllfahrer aus ihrem Haus, mit dem sie sich bald angefreundet hatten, zeigte ihnen, wie man das richtig macht: mit Berliner Ruppigkeit, mit Nachdruck und auf keinen Fall auf Hochdeutsch. Fortan klappte es.
Als Helga Paris diese Geschichte Jahrzehnte später, nach dem Mauerfall, bei einer Veranstaltung in Heidelberg erzählte, wunderten sich ihre Zuhörer sehr. Keineswegs über die Schwierigkeiten beim Bierbestellen, sondern über die Freundschaft des Intellektuellen-Paares mit dem Müllfahrer. Die Fotografin spürte in diesem Moment, dass es mit der deutschen Einheit etwas schwieriger werden könnte, als auch sie selbst angenommen hatte. Sie liebte gerade diese inzwischen fast verschwundene Mischung, diese gemeinsamen Feiern mit den anderen Hausbewohnern, mit den Müllmännern, mit der Fleischerin und ihrer Familie, diese Nähe und Vertrautheit von Menschen aus ganz unterschiedlichen Schichten. »Hier gab es Leute, die waren schon 1908 eingezogen.« Eine sehr zierliche und schon recht betagte Dame hackte im Keller ihr Brennholz selbst. Ein Nachbar, ein älterer, sehr gewinnender Herr ging nie ohne Hut aus dem Haus, was Helga Paris sehr beeindruckte. In der Wohnung des Pelzhändlers im ersten Stock hatte sich ein gehobenes Mittelstandsmilieu erhalten. Zigaretten kauften sie gleich um die Ecke in der Marienburger Straße bei Tabak-Arno, einem überaus freundlichen Juden.
Helga Paris ist Autodidaktin wie viele bedeutende Fotografinnen ihrer Generation. Sie studierte in Berlin Modegestaltung, war Dozentin für Kostümkunde. Ein schönes, Licht durchflutetes Porträtfoto ihrer beiden kleinen Kinder war der Auslöser für ihre ungeplante Laufbahn. Das Bild steht auf einer Kommode, hier im Zimmer, immer sichtbar, so als wolle Helga Paris stets ihre Anfänge vor Augen haben. Peter Voigt, renommierter Dokumentarfilmer in der DDR, sah das Foto. Er, wahrlich kein Mann großer Worte, murmelte ihr zu: »Mach mal weiter. Das ist gut«, und ermutigte sie damit nachdrücklich. Sie kaufte sich eine Kleinbildkamera, ließ sich von einer Freundin zeigen, wie man Filme entwickelt und prägte schon bald diese anhaltende Liebe zum Schwarz-Weiß aus. So wie die Bilder in den italienischen Filmen, die sie stark beeinflusst haben, Werke von de Sica, Rossellini und Fellini.
Ihr Geld verdiente sie mit Fotos für Kataloge, mit Künstlerporträts und Reproduktionen, während die wichtigen, gültigen Arbeiten in eigenem Auftrag entstanden.
Helga Paris wusste, dass die Menschen, die...