Einleitung
Haben Sie sich je gefragt, warum Sie der Mensch wurden, der Sie sind?
Ich zum Beispiel bin Kind einer Firmenpleite, eines verschlafenen Sonntags und des ersten Autos meines Vaters. Es war ein hellblauer VW Käfer 1200, und eigentlich wollte mein Vater den Wagen gar nicht. Er kam nur dazu, weil mein Onkel ein gutes Geschäft witterte. Ein Händler hatte ihm den Käfer billig angeboten, unter der Bedingung allerdings, dass er zwei davon nähme. So erhielt mein Vater, damals ein junger Chemiker ohne großes Gehalt, eines Tages Besuch von seinem Bruder, der ihm einen Vertrag unter die Nase hielt: »Ich habe für dich ein Auto gekauft. Du musst nur noch unterschreiben. Hier.« Im gleichen Jahr brach in Tirol ein Unternehmen zusammen. Die Webstühle, die es herstellte, genossen Weltruf, aber niemand wollte sie mehr haben – 1959 eroberten Nyltesthemden den Markt. Eine fällige Zahlung ließ auf sich warten, die schon angeschlagene Firma war nicht mehr flüssig, die Banken verloren die Geduld. Als das Geld nach ein paar Tagen doch noch eintraf, war es zu spät: Im Haus des Fabrikanten klebte der Kuckuck auf den Möbeln. Nach dem Bankrott zählte jeder Schilling, und so verließ die älteste Tochter, noch Studentin, das Haus. Sie hatte in München eine bezahlte Assistentenstelle gefunden.
Eine Bekannte erzählte ihr von dem jungen Mann mit dem blauen VW. Auch er pendelte zwischen seiner Arbeitsstelle in München und Innsbruck, wo seine Familie lebte. Jeden Freitag holte er fortan die junge Frau ab und chauffierte sie nach Tirol, sonntags traten sie die Rückfahrt an. So ging es Jahre, ohne dass romantische Gefühle in der Fahrgemeinschaft aufkeimten. Doch eines schönen Herbsttages verschlief meine Mutter nach einer durchfeierten Nacht, und ihre Freunde brachen ohne sie zu ihrer verabredeten Bergtour auf. Draußen strahlte die Sonne. Spontan rief sie bei ihrem Käferfahrer an: Ob er etwas mit ihr unternehmen wollte? Er wollte. Ein Jahr später waren sie verheiratet.
Ich habe mich oft gefragt, wie es gekommen wäre, hätte sich auch nur eine dieser Begebenheiten anders zugetragen: Wenn der Autohändler meinem Onkel nicht dieses seltsame Angebot gemacht hätte; wenn das Geld rechtzeitig bei meinem Großvater eingegangen und ihm der Konkurs erspart geblieben wäre; oder wenn an jenem Septembertag 1963 Wolken die Alpen eingehüllt hätten – würde es mich heute geben? Können es wirklich solche Kleinigkeiten sein, die in keinerlei Zusammenhang zu stehen scheinen, denen wir unser Leben verdanken – und die seinen Lauf bestimmen?
Solche Fragen fesseln uns und lassen uns zugleich schaudern. Dieses zwiespältige Gefühl muss auch der Philosoph Johann Gottfried von Herder empfunden haben, als er den Zufall »einen der beiden großen Tyrannen der Menschheit« nannte (der andere war für ihn die Zeit).[1] Die Naturwissenschaftler erschraken ebenfalls vor dem Chaos im Universum, als sie entdeckten, wie wenig die Natur unseren Vorstellungen gehorcht. Noch im Jahr 1970 beschrieb der französische Molekularbiologe und Nobelpreisträger Jacques Monod den Menschen als einen Glückstreffer im großen Lotteriespiel der Natur, der sich seine Verlorenheit endlich eingestehen sollte: »Der Mensch weiß nun, dass er seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Alls hat, das für seine Musik taub und gleichgültig ist gegenüber seinen Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen.«[2] Im Laufe der letzten Jahre jedoch hat sich die Wissenschaft so intensiv mit dem Unvorhersehbaren beschäftigt wie nie zuvor – und dabei eine ganz neue Sicht des Zufalls entwickelt: Das Schaudern ist dem Staunen gewichen.
Was verbirgt sich nun hinter dieser seltsamen Erscheinung, von der manche behaupten, sie sei nichts als eine Illusion? Mathematiker haben bewiesen, dass der Zufall sogar dort auftritt, wo alles streng nach Regeln verläuft; Physiker untersuchen, wie das Unvorhersehbare entsteht und warum es vor ihm kein Entrinnen geben kann; Evolutionsbiologen begreifen zunehmend, in welchem Maß Menschen dem Zufall ihr Dasein verdanken. Groß angelegte psychologische Studien zeigen, wie unvorhersehbar die Entwicklung einer Persönlichkeit und nicht zuletzt die Wege der Liebe verlaufen. Hirnforscher und Philosophen schließlich klären auf, warum es uns dennoch so schwer fällt, mit dieser schöpferischen Kraft Frieden zu schließen. Ihre Arbeiten begründen, weshalb uns der Glaube an ein Schicksal, einen höheren Plan, so tief eingeprägt ist.
Der Zufall ist mächtiger, als wir es uns je vorgestellt haben. Seine Erforschung rührt an die großen Rätsel der Wissenschaft, wie die Frage nach dem Aufbau der Welt und nach der Entstehung des Lebens, und betrifft zugleich im Kleinen den Lebensweg eines jeden von uns. Und doch ist es nicht der Dämon der Unordnung, den der Aufklärer Herder verwünschte, der hier sein Gesicht zeigt. Die englische Sprache betont von jeher die freundlichen Züge des Zufalls: Chance bedeutet eben auch »Möglichkeit«, ja sogar »Glück«.
Auch die Wissenschaft hat diese Seite des Zufalls erkannt – und lernt jetzt, ihn zu nutzen. Empfindliche Systeme wie elektronische Schaltungen lassen sich durch seine Wirkung stabilisieren; auch unsere Gehirne funktionieren so.[3] Und der Zufall, so zeigt sich, ist nicht nur Motor der Evolution, sondern ebenso aller menschlichen Kreativität. Selbst unsere menschlichsten Züge – Altruismus, Mitgefühl, die Fähigkeit zur Moral – würde es nicht geben, wenn unser Handeln stets vorhersehbar wäre.
Allerdings bezahlen wir für diese Errungenschaften einen Preis: Unsicherheit. In unsicheren Situationen aber fühlen sich die meisten Menschen unwohl. Deshalb vermeiden wir sie, wo immer es geht – und berauben uns damit vieler Chancen.
Wie können wir mit dem Stress der Unsicherheit besser fertig werden? Gibt es Strategien, aus Überraschungen den größten Nutzen zu ziehen? Kann man lernen, ein Glückspilz zu sein?
Dieses Buch will Sie mit dem Phänomen »Zufall« vertraut machen. Weil das Unvorhersehbare alle Bereiche unseres Handelns, Fühlens und Denkens durchdringt, kann es ihm nur in einer umfassenden Sicht gerecht werden. Zufälle haben eine Menge mit unerwarteten Zusammenhängen zu tun. Es wäre daher sinnlos, nur einen Aspekt herauszugreifen. Erst im großen Bild, in der Zusammenschau ist zu verstehen, wie der Zufall unser Leben bestimmt.
Im ersten Teil werden Sie erfahren, was Zufälle sind und wie sie entstehen. So viele Gestalten sie auch annehmen mögen, lassen sich doch erstaunlicherweise alle Erscheinungsformen – ob beim Glücksspiel, im Reich der Physik, in der menschlichen Gesellschaft – auf nur zwei gemeinsame Ursachen zurückführen: Komplexität und Selbstbezüglichkeit.
Diese Gedanken führen zu dem Problem, ob Ereignisse, die uns zufällig erscheinen, wirklich keiner Gesetzmäßigkeit folgen – oder ob wir diese Regeln lediglich nicht erfassen können. Dahinter verbirgt sich nichts anderes als die uralte Frage: »Zufall oder Schicksal?« Die Kapitel 3 und 4 in diesem ersten Teil sind die anspruchsvollsten des Buches, denn sie behandeln das grundlegende Rätsel, woher Zufälle kommen. Ich habe versucht, Ihnen den Weg durch die Gedankengänge der Physik so leicht und anschaulich wie möglich zu machen. Wer nicht so tief in die physikalischen Hintergründe einsteigen will, kann diese Kapitel auch überspringen. Das Verständnis des Folgenden hängt nicht davon ab.
Der Zufall als Schöpfer ist Gegenstand des zweiten Teils, der Sie mitnehmen will auf eine Reise von den Anfängen des Lebens auf der Erde bis zur Entwicklung des Computers, von der Entstehung des Menschen bis zur Entfaltung der Persönlichkeit eines jeden von uns. In welchem Maß bestimmt der Zufall, wie sich unser Charakter herausbildet, wie wir leben, wen wir lieben?
Nur durch Zufall kommt Neues in die Welt. Dieser Abschnitt soll deshalb auch aufzeigen, wie wir zu unseren Ideen finden. Allerdings setzt sich nicht jeder gute Einfall durch. Es braucht Glück und Raffinesse, einer Neuerung zum Erfolg zu verhelfen, und wie in jeder Konkurrenz siegt oft derjenige, der sich unvorhersehbar verhält. Zufall ist in vielen Fällen die beste Strategie.
Normalerweise entgeht uns, wie viel wir dem Zufall verdanken. Unser Gehirn ist darauf programmiert, nicht an Zufälle zu glauben. Damit wir uns in der Welt orientieren können, spiegelt es uns oft mehr Gewissheit vor, als wir haben. Der dritte Teil des Buches behandelt unseren Umgang mit Zufällen und Unsicherheit; er ist eine Wanderung durch das Reich der Illusionen. Eine der gefährlichsten davon ist, sich zu sicher zu fühlen – oder zu glauben, es könne vollkommene Sicherheit geben. Gerade dann nämlich gehen wir unkontrollierte Risiken ein und erleben häufig ein böses Erwachen.
In einer zunehmend unübersichtlichen Welt müssen wir ständig entscheiden, ohne im Besitz aller dafür nötigen Informationen zu sein. Der vierte Teil zeigt Wege, sich vor verhängnisvollen Fehlschlüssen zu schützen: Wir können unser Handeln so ausrichten, dass es uns auch dann nützt, wenn sich die äußeren Bedingungen überraschend verändern. Dadurch machen wir uns den Zufall zum Freund. Das Spiel mit dem Unerwarteten eröffnet zudem Strategien, Ideen zu entwickeln und systematisch günstige Gelegenheiten zu schaffen.
Allerdings gibt es diese Chancen nicht umsonst. Wer von ihnen profitieren will, muss von einem beliebten Trugbild Abstand nehmen: dass wir unser Leben restlos planen können. Sich mit dem Zufall zu beschäftigen lehrt Bescheidenheit.
Im Grunde...