Ein griechischer »Sonderweg«?
Nach einem hübschen sprachlichen Bild, das Augustinus zugeschrieben wird (ich habe die genaue Stelle leider nie gefunden), geht der Anfang in allem Fortschritt mit. Es ist klar, was dies für das hier vorliegende Unterfangen bedeutet: Falls es eine europäische Redekunst mit eigener Kontur gegeben hat, ist der Anfang von größter Bedeutung. Dazu existiert eine vielzitierte These wiederum schon aus der Antike. Sie stammt von Cicero und steht in dessen Geschichte der Redner, dem Brutus. Dort liest man, die Redekunst sei als letzte aller Künste (also nach Dichtkunst, Musik, Tanz usf.) in Griechenland erfunden worden, und zwar im Zusammenhang mit der Entstehung der Demokratie in Zeiten des Friedens. Cicero nennt auch einen ersten Namen – es ist Perikles:
Diese Epoche also war es, die als erste in Athen einen nahezu vollkommenen Redner hervorgebracht hat. Denn nicht bei den Gründern eines Staates, nicht bei Kriegführenden, nicht bei Unterdrückten, die von tyrannischer Willkürherrschaft gefesselt sind, pflegt die Lust am Reden zu erwachen: des Friedens Gefährtin ist die Redekunst, Begleiterin der Ruhe, Zögling eines schon wohl geordneten Staatswesens.
Ich unterbreche kurz, um die wichtigsten Fakten in Erinnerung zu rufen. Perikles lebte von ca. 490 bis 429. Seine politische Tätigkeit fällt zusammen mit dem Ausbau der Demokratie in Athen, die wesentlich sein Werk war. 514 und 510 hatte der Adel die Söhne des letzten großen Tyrannen Peisistratos ermordet bzw. vertrieben und eine Adelsherrschaft (Oligarchie) eingerichtet. Dann radikalisierte sich das System. Immer mehr Rechte gingen an die (Voll)bürger, die in gewählten Gremien Gericht hielten und die Politik bestimmten. Der Adel verlor immer weiter an Einfluss, bis im entscheidenden Jahr 462/1 nur noch ein einziges Vorrecht übrig blieb: die Blutsgerichtsbarkeit im Areopag.
Damit hatte ein einzigartiger Prozess seinen Höhepunkt erreicht, den der Historiker Christian Meier in seinem Buch Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte (1993) als »Sonderweg« bezeichnete: Eine kleine Stadt, die immerhin 490 bei Marathon und 480/479 bei Salamis und Platää die Perser besiegt hatte, organisierte sich selbst. Während ringsum Monarchien mit Einzelnen an der Spitze das Weltgeschehen prägten, entstand in Griechenland die erste Demokratie in einer (bloßen) Stadt. Ihre Ressourcen vergrößerte sie durch einen politischen Bund mit den in der Ägäis und am kleinasiatischen Ufer gelegenen Griechenstädten, und zwar unter dem (wie sich bald zeigte: vorgeschobenen) Motto des Schutzes gegen die Perser. Wenige Jahrzehnte gelang dies im Frieden mit dem Hauptkonkurrenten, nämlich Sparta. Dann wurde die Macht Athens so groß, dass selbst Perikles die Kräfte nicht mehr mit friedlichen Mitteln ausbalancieren konnte. 431 begann der Peloponnesische Krieg mit Sparta, bei dem sich Athen hinter seine Langen Mauern (rings um die Stadt mit Zugang zum Hafen) zurückzog und von See aus sein Überleben sicherte. 404 endete die Entwicklung in der Katastrophe, die die Demokratie in Athen hinwegfegte. Perikles war zu dieser Zeit längst tot. Er hatte den Kriegsausbruch nur wenige Jahre überlebt.
Was sagt Cicero? Dass die Kunst der Rede etwas mit Frieden zu tun habe, wofür die Demokratie die besten Voraussetzungen biete. Als Cicero dies schrieb, fand gerade das nächste große Experiment mit einem nichtmonarchischen Staat sein Ende: das republikanische Rom. Cicero setzt diesen Untergang in eins mit dem Untergang der Rede, der freien Rede, bei der »die Autorität und das Wort eines verantwortungsbewussten Bürgers den Händen wütender Mitbürger die Waffen noch entwinden konnte«. Die Macht der Rede ist danach nicht nur an die Potenz eines Redners, sondern auch an ein Publikum gebunden, das die Freiheit des Redens zulässt. Dies sei zum ersten Mal in Griechenland verwirklicht worden, in Athen. Aber nicht nur dort. Cicero fährt nämlich fort:
So sagt auch Aristoteles, es sei erst nach Vertreibung der Tyrannen in Sizilien gewesen, als nach langer Pause Privatansprüche wieder vor den Gerichten eingeklagt wurden: da hätten bei der scharfsinnigen, aber auch streitlustigen Anlage jenes Volkes zwei Sizilianer, Korax und Teisias, erstmals Regeln und Vorschriften verfasst. Zuvor sei nämlich noch niemand gewohnt gewesen, systematisch und kunstgerecht Reden zu halten.
Es gab also einen weiteren demokratischen Start in Griechenland, nach den Anfängen in Athen, aber vor der Radikalisierung von 462/1. Denn im sizilianischen Syrakus, einer von Korinth gegründeten Kolonie, hatte es drei Brüder gegeben, die als Tyrannen herrschten und beseitigt wurden, der letzte Bruder, Thrasybulos, im Jahre 466. Weil die Tyrannen viel Besitz an sich gerissen hatten, ging es nun um die Einklagung alter Ansprüche in ordentlichen Verfahren. Für Cicero liegt eine gewisse Pointe darin, dass dabei nicht nur geredet wurde, sondern kunstgerecht. Und dass weiterhin erste Lehrer auftraten, die dieses kunstgerechte Reden systematisierten. Um 466 gab es also nicht nur bereits Redner und Publikum, sondern auch eine systematisierte Redekunst in Form von (schriftlich fixierter) Rhetorik. Der zweite Fall, Syrakus, unterscheidet sich dabei vom ersten, von Athen, in einem wichtigen Punkt. Diesmal ist nicht von Politik die Rede, sondern vom Rechtswesen bzw. von Gerichten.
Was bedeutet das für die Erfindung der Redekunst? Stammt die Beredsamkeit nun aus der Politik oder aus dem Rechtswesen? Wer diesen Unterschied für weniger bedeutsam hält, weil in beiden Fällen wenigstens Friede zu den Voraussetzungen gehören, muss irritiert sein, wenn er von weiteren »Helden« der Beredsamkeit hört, die Cicero heranzieht. So heißt es, dass schon Homer etwas davon verstanden habe. Aber es folgt auch die Bemerkung, die Redekunst stamme nicht aus Griechenland, sondern aus Athen. Also doch nicht Homer in fernen Zeiten und unklarer Region, sondern diese konkrete Umgebung des demokratischen Stadtstaats. Ein ganzes Gemeinwesen stützt sich auf Reden, und es stützt sich dabei auf die Form von Rationalität, die sich bei Homer allenfalls andeutet: auf die Anerkennung von etwas Verbindlichem, das über bloßer Macht steht. Warum braucht man in Monarchien keine Reden? Weil ohnehin von oben und über alle Köpfe hinweg entschieden wird. Es wäre falsch zu glauben (und wird in diesem Buch ausführlich widerlegt), große Reden gebe es nur in Demokratien. Aber tatsächlich bilden Demokratien eine sehr günstige Voraussetzung für Reden, weil die politischen Entscheidungen ohne äußere Macht zustande kommen. Sie kommen eben durchs Reden zustande. Wie hat man sich dies näher vorzustellen?
Hören wir dazu etwas ausführlicher den Historiker Christian Meier mit seiner These vom Aufstieg Athens als »Sonderweg«. Inmitten monarchisch organisierter Staaten habe Athen den Nachweis erbracht, dass sich politische Macht auch anders organisieren lässt: eben verteilt auf im Prinzip alle – in diesem Fall scheiden universalistische Thesen von vornherein aus. Damit habe Athen allerdings eine Option eröffnet, die nicht mehr verlorenging, sondern im Gegenteil Europa prägen sollte. Athen machte eben den Anfang. Athen beschritt den Sonderweg. Wie konnte es dazu kommen? Einige der historischen Fakten kennen wir schon. Die Athener bauten seit Ende des 6. Jahrhunderts ihr politisches System Schritt für Schritt in Richtung Beteiligung der Bürger um. Es gab nur noch die Volksversammlung sowie die Gerichtsgremien – und Redner, die mit diesen Instrumentarien umgehen konnten. Derjenige, dem dies am besten gelang, wurde berühmt: Perikles. Einer, der ihn selbst erlebt hatte, war Thukydides, Verfasser der Geschichte des Peloponnesischen Krieges. Von ihm stammt auch das Urteil über die athenische Demokratie im Allgemeinen und Perikles im Besonderen. Sein berühmtes Fazit: Athen war »der Form nach eine Demokratie, in Wirklichkeit die Herrschaft des ersten Mannes«. Christian Meier hat das Urteil des Thukydides bestätigt. Und er hat Hinweise gegeben, worauf diese einzigartige Stellung beruhte. Sie beruhte tatsächlich auf einer überragenden Beredsamkeit. Wir wissen auch, wie dies genauer aussah. Perikles stand durchaus im Wettbewerb mit Konkurrenten, verdrängte sie aber und behauptete eine Ausnahmestellung. Sein einzig verbliebener Gegner war Kimon. Der hat es versucht, sich gegen die Macht von Perikles’ Beredsamkeit zu behaupten. Er ließ seine Anhänger in geschlossenen Blocks auftreten, um wirkungsvoller Beifall bzw. Missfallen auszudrücken. Aber gerade Kimon bezeugt die Redekunst von Perikles auf unvergleichliche Weise. Wenn er Perikles im Zweikampf niederringe, so Kimon, werde Perikles dies bestreiten, bis alle ihm glaubten.
Auf Perikles’ Beredsamkeit ist noch zurückzukommen. Zuvor aber im Zeitraffer mit der Hilfe von Meier die Fortsetzung der Geschichte Athens unter rednerischem Gesichtspunkt. Nach Perikles’ Tod gab es ein weiteres Duo, das die Geschicke der Stadt bestimmte: Nikias und Kleon. Nikias entstammte wie Perikles dem alten Adel, pflegte dessen Ideale, speziell eine betont ehrbare Lebensführung. Kleon gehörte dem neuen Typ des Geldadels an, war mit einer Gerberei reich geworden und benahm sich betont rüpelhaft. Und er biederte sich dem Volk an, nutzte dessen Schwächen aus, zum Beispiel den Blutdurst. Als sich im Krieg die Stadt Mytilene ergab, beratschlagte man in Athen über die Bestrafung. Kleon schlug gegen Nikias die Ermordung aller Männer sowie die Versklavung der Frauen und Kinder vor. Die Versammlung...