1 Wandel von Lebensqualität und Ungleichheit in der zweiten Lebenshälfte
Andreas Motel-Klingebiel, Susanne Wurm, Oliver Huxhold & Clemens Tesch-Römer
1.1 Einleitung
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist ein langes Leben für viele Menschen selbstverständlich geworden. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland hat sich im letzten Jahrhundert fast verdoppelt. Diese Erhöhung der Lebenserwartung gehört zu den Ursachen des demografischen Wandels und wird – gemeinsam mit der niedrigen Fertilität – häufig als Problem gesellschaftlicher „Überalterung“ behandelt, ist aber eine Erfolgsgeschichte moderner Gesellschaften. Gesellschaftlicher wie wissenschaftlicher Fortschritt sind die Quellen dieser Entwicklung.
Von den heute geborenen Kindern hat die Mehrzahl die Chance, 90 Jahre und älter zu werden, wenn sich der Prozess der Lebenserwartung weiter fortsetzt (Schnabel et al. 2005). Die lange Lebensspanne eröffnet viele Möglichkeiten der Ausgestaltung des eigenen Lebens, nicht nur in Kindheit, Jugend und jungem Erwachsenenalter, sondern bis ins Alter hinein. Viele jüngere wie ältere Menschen beschäftigen sich aber nur ungern mit dem Älterwerden und Altsein. Das Alter, das Altwerden, alte Menschen, das sind Themen, von denen viele Menschen einseitig negative Vorstellungen haben (Rothermund 2009). Das vorliegende Buch soll dazu beitragen, die heutige Realität des Altwerdens in Deutschland detailliert darzustellen. Wir werden die Vielfalt des Alters zeigen und dabei die positiven wie auch die negativen Seiten des Alters beschreiben.
Derzeit ist noch immer zu wenig über die Lebenssituationen von Menschen in der zweiten Lebenshälfte bekannt. Zudem ist die Frage, wie sich die wandelnden gesellschaftlichen Bedingungen auf unsere Biografien und Lebensläufe auswirken. Die Lebenssituationen älterer Menschen hängen in hohem Maße auch von Ereignissen und Entscheidungen ab, die zu früheren Zeitpunkten im Leben eines Menschen stattfinden. Die Phase des höheren Erwachsenenalters ist ein Abschnitt von mehreren in der persönlichen Biografie. Kindheit, Jugend, frühes und mittleres Erwachsenenalter bestimmen hierbei wesentlich mit, wie eine Person älter wird und welches Leben sie im Alter führt. Die Lebensphase Alter wird zugleich von langfristigen gesellschaftlichen Trends, von aktuellen politischen Entscheidungen und von wirtschaftlichen Entwicklungen geformt.
In diesem Buch werden wir einerseits beschreiben, wie sich die Lebensphase Alter gegenwärtig darstellt, und andererseits diskutieren, wie sich Alter und Altern seit Mitte der 1990er Jahre gewandelt haben. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen möchten wir im vorliegenden Band zwei Fragen behandeln:
- Wie leben Menschen in der zweiten Lebenshälfte und wie stark unterscheiden sich die Lebenssituationen dieser Menschen voneinander?
- Wie haben sich die Lebenssituationen in der zweiten Lebenshälfte gewandelt? In welchen Lebensbereichen hat sich die Situation verbessert oder verschlechtert, in welchen finden sich Angleichungen und wo kommt es zu Differenzierungen?
Die folgenden Kapitel werden diese Fragen auf der Grundlage der Daten des Deutschen Alterssurveys (DEAS) beantworten. Der DEAS hat das Ziel, die Lebenssituationen, Lebensläufe und Lebensplanungen alternder und alter Menschen in Deutschland zu beschreiben und zu analysieren. Es handelt sich dabei um eine bundesweit repräsentative, langfristig angelegte wissenschaftliche Altersstudie. Sie stellt eine wichtige Informationsgrundlage für die wissenschaftliche Forschung und Lehre, für politische Entscheidungsträger sowie für die interessierte Öffentlichkeit dar. Der DEAS wird aus Mitteln des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) gefördert.
Der DEAS untersucht Personen, die sich in der zweiten Lebenshälfte befinden, also 40 Jahre und älter sind. Durch die Betrachtung der gesamten Breite der zweiten Lebenshälfte können verschiedene Lebensabschnitte sowie Übergänge (Transitionen) im Lebenslauf untersucht werden, beispielsweise der Übergang in den Ruhestand. Menschen, die am DEAS teilnehmen, werden umfassend zu ihrer Lebenssituation befragt, unter anderem zu ihrem beruflichen Status oder ihrem Leben im Ruhestand, zu gesellschaftlicher Partizipation und nachberuflichen Aktivitäten, zu ihrer wirtschaftlichen Lage und Wohnsituation, zu familiären und sonstigen sozialen Kontakten sowie zu Gesundheit, Wohlbefinden und Lebenszielen. Damit deckt der DEAS ein breites Themenspektrum ab und ermöglicht eine Verknüpfung vor allem von gerontologischen, soziologischen, sozialpolitischen, psychologischen und ökonomischen Fragestellungen.
Die erste DEAS-Welle wurde im Jahr 1996 durchgeführt, die zweite Welle im Jahr 2002. Die aktuelle dritte Welle wurde im Jahr 2008 verwirklicht. Mit Vorliegen der dritten Welle verfügt der DEAS nunmehr über eine komplexe Stichproben- und Datenstruktur. Das kohortensequenzielle Design des Alterssurveys eröffnet vielfältige Analysemöglichkeiten (vgl. auch Kapitel 2 „Datengrundlagen und Methoden“). Für alle Befragungszeitpunkte ist es möglich, auf der Grundlage von repräsentativen Daten die Lebenssituationen und Lebenszusammenhänge im jeweils aktuellen Erhebungsjahr zu beschreiben (aktuell für das Jahr 2008). Zudem ist es möglich, die Auswirkungen des sozialen Wandels über die Zeit, das heißt die Zeitpunkte 1996, 2002 und 2008, zu analysieren. Da nicht nur zu jedem Befragungszeitpunkt eine vollständig neue Stichprobe aufgebaut wurde („Basisstichproben“), sondern zusätzlich hierzu die gleichen Personen wiederholt befragt wurden („Panelstichproben“), kann auch die individuelle Entwicklung im Zeitverlauf untersucht werden.
Schließlich ergibt sich eine weitere Analyseperspektive, indem individuelle Entwicklungen im Kontext des sozialen Wandels betrachtet werden. Hierfür können die individuellen Entwicklungen über sechs Jahre hinweg in den beiden Zeitfenstern 1996–2002 und 2002–2008 miteinander verglichen werden. Im vorliegenden Band werden die beiden erstgenannten Analysenperspektiven eingenommen: Es wird die aktuelle Lebenssituation von Menschen in der zweiten Lebenshälfte beschrieben und der soziale Wandel über die Zeitpunkte 1996, 2002 und 2008 analysiert.
Im Rahmen des DEAS wurden persönliche Interviews mit Personen durchgeführt, die in einer Einwohnermeldeamts-Stichprobe per Zufallsverfahren ausgewählt wurden. Die Interviews wurden in der Regel im Haushalt der Befragten geführt. In vielen Bereichen wurden hierbei in allen drei Erhebungswellen identische Erhebungsinstrumente verwendet. Zugleich wurden jedoch die Instrumente jeweils einer umfassenden Prüfung unterzogen, in einzelnen Bereichen modifiziert und erweitert sowie die Schwerpunktsetzungen des Surveys über die drei Wellen aktualisiert und den Wissensbedarfen in Forschung und Politik angepasst. Die Instrumente der drei Erhebungswellen sind über das Internet als Download beziehbar (www.deutscher-alterssurvey.de). Die anonymisierten Mikrodaten des DEAS werden nach Freigabe anderen Forscherinnen und Forschern zu wissenschaftlichen Analysezwecken durch das Forschungsdatenzentrum des Deutschen Alterssurveys (FDZ-DEAS) zur Verfügung gestellt sowie im GESIS Datenarchiv für Sozialwissenschaften dokumentiert.
Der DEAS hat gegenüber anderen, früheren und aktuellen, Surveys viele Vorzüge. Im Vergleich mit der zu Beginn der 1990er Jahre gestarteten Berliner Altersstudie (BASE) hat der DEAS den wesentlichen Vorteil, über eine kleine, nur lokale Stichprobe und ihre Nachverfolgung über die Zeit hinauszugehen und große repräsentative Stichproben der deutschen Wohnbevölkerung im Wandel der Zeit und in der Entwicklung der Lebensläufe zu berücksichtigen. Während BASE einen besonderen Schwerpunkt auf die Untersuchung hochaltriger Personen legte, konzentriert sich der DEAS auf die Untersuchung des mittleren und höheren Erwachsenenalters. Auch im Vergleich zur ebenfalls vor fast 20 Jahren initiierten Interdisziplinären Längsschnittstudie des Erwachsenenalters (ILSE) bietet der DEAS mit seinem deutschlandweit repräsentativen Sample, dem erheblich größeren Stichprobenumfang und der deutlich breiteren Erfassung der Lebenssituationen wesentliche Analysevorteile. Gegenüber dem ebenfalls auf die ältere Bevölkerung gerichteten europäischvergleichendem Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe (SHARE) hebt sich das Design des DEAS durch die wiederholten Basisstichproben, die für Deutschland deutlich höheren Stichprobenumfänge, den verstärkten Einbezug der Bevölkerung im mittleren Erwachsenenalter bei Überrepräsentierung der höheren Altersgruppen sowie die früher begonnene und bereits länger andauernde Untersuchungsperiode ab. Die DEAS-Stichproben ermöglichen Querschnitt-, Zeitreihen- und Längsschnittanalysen. Zugleich ist der Befragungsinhalt deutlich umfangreicher als jener von SHARE – letzterer konzentriert sich vor allem auf Gesundheit und materielle Sicherung im Alter. Das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) stellt ebenfalls Quer- und Längsschnittdaten auch für die Population älterer Menschen bereit, zeichnet sich aber nicht durch einen spezifischen inhaltlichen Bezug zu Fragen des Alterns und Alters aus. Dadurch können wesentliche Fragen zur Lebenssituation im Alter und ihrer Entwicklung weniger angemessen untersucht werden als mit dem DEAS (Romeu Gordo et al. 2009). Dies gilt auch für den Generations and Gender Survey (GGS), eine im Jahr 2005 durchgeführte Bevölkerungsumfrage mit bislang einer Wiederholungsbefragung im Jahr 2008. Im Mittelpunkt des GGS stehen Fragen zur Fertilität, Partnerschaftsentwicklung und Familienbeziehungen im internationalen...