Seit einigen Jahren ist eine andauernde tief greifende Krise im österreichischen Gesundheitswesen zu beobachten, da es den anscheinend überzogenen Erwartungen der Menschen in Prävention und Therapie kaum genügen kann und dennoch die Grenzen seiner finanziellen Dotierung überschreitet. Die Pharmafirmen sehen sich gezwungen, neue Medikamente zu entwickeln oder gering modifizierte Präparate als Innovationen auf den Markt zu bringen. Deren Nebenwirkungen sind zuweilen problematisch, weshalb sie dann gelegentlich auch wieder „vom Markt“ genommen werden müssen.
Den Vertretern der Schulmedizin wird mangelnde menschliche Zuwendung vorgeworfen und die Fähigkeit abgesprochen, den Zivilisationserkrankungen kompetent zu begegnen. Die Schulmedizin sei in diesem Bereich nur mit der Bekämpfung der Symptome befasst, wodurch neue Leiden entstünden (vgl. STUDER, 1995).
Als mögliche Ursachen für Zivilisationserkrankungen, wie etwa Depressionen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Burn-out, werden die sich ständig verändernden Lebensumstände und Belastungen genannt, denen die Menschen ausgesetzt sind und für die die Medizin eine erhebliche Herausforderung darstellen.
Diese Herausforderung ist inzwischen auch immer größer geworden, da die Weiterentwicklung nicht nur seitens der Medizintechnik, sondern auch jener der „Psychologie“ in der Betreuung der Patienten[1] erwartet wird.
Will man diese Veränderung zusammenfassen, so glaubt man allgemein seit der Aufklärung, der Mensch sei selbständig und in der Lage, eigenverantwortlich zu handeln. Der Medizin kommt aber nicht die Aufgabe zu, die Menschen zu belehren oder gar zu einem „gesünderen“ Leben zu veranlassen, indem sie ihnen Verbote (Rauchverbot) auferlegt und Ernährungsrichtlinien empfiehlt (zur Gewichtsreduzierung, gegen Hypertonie etc.). Häufig wird das als Einschränkung persönlicher Freiheit bezeichnet und bewirkt das paradoxe Dilemma zwischen Freiheit und Lebensqualität, wie es der Heidelberger Jurist Paul KIRCHOF im Rahmen des Kongresses „Das Paradigma der Medizin im 21. Jahrhundert“ am 3. März 2006 in Salzburg ausführte.
Die Selbstbestimmung des Menschen in der Medizin soll als zentrales Thema behandelt werden, setzt aber ein Minimum an medizinischen Kenntnissen bzw. Basiswissen über den menschlichen Körper und dessen Funktionen sowie vernunftorientiertes Handeln voraus, um nicht das Opfer unbestimmten Neigungen und Schwächen zu werden.
Alternative Heilmethoden sind derzeit kein Bestandteil unseres etablierten Gesundheitssystems, werden aber von „Hilfesuchenden“ immer häufiger in Anspruch genommen. Rund 60% der österreichischen Patienten haben bereits Erfahrungen damit gemacht (vgl. TRNKA, 2009). Erstaunlicherweise werden die Aufwendungen dafür gern und ohne Widerstand getragen, wohingegen vorausgesetzt wird, dass diagnostische und therapeutische Verfahren der Schulmedizin insgesamt kostenfrei sind.
Die große Nachfrage nach einschlägigen Ratgebern, vor allem wenn diese medial präsent sind, bestätigt diesen Trend. Etwas mehr als ein Drittel der europäischen Bevölkerung (vgl. Schweiger, 2003) – Tendenz steigend – nimmt ihre Dienste gerne an. „Der Markt boomt“ und die Interessenten für diese so genannte „Außenseitermedizin“ können bereits aus einem breiten Spektrum an unterschiedlichen Methoden, nämlich ihrer Lebensanschauung entsprechend, die für sie geeignete alternative Behandlungsmethode auswählen.
Diese Tatsache wirft die Frage nach den Defiziten der Schulmedizin auf, die trotz ihrer Leistungsfähigkeit und ihres (wissenschaftlichen) Fortschrittes erheblicher Kritik ausgesetzt ist und von manchen Patienten teilweise oder sogar zur Gänze abgelehnt wird. Mit dem Auftreten der Alternativmedizin scheint die konventionelle Medizin in der Erwartung der Patienten unzureichend zu sein. Deshalb wird nach einer Ergänzung oder Alternative gesucht. Nun können alternativmedizinische Behandlungsmethoden ebenfalls helfen; sie können - zum Teil - auch zu einer subjektiven Linderung von Beschwerden führen, ja sogar zu einer Form passagerer Heilung, die die Schulmedizin in dieser Form nicht oder nur selten bietet. Ein 100%iger Therapieerfolg existiert jedoch weder in der konventionellen noch in der „unkonventionellen“ Medizin. Zudem sind chirurgische Verfahren immer mit Risiken verbunden. Die Medizin ist leider keine exakte Wissenschaft, die garantierte Erfolge und Ergebnisse anbieten kann. Die Gründe dafür liegen nicht nur in der Komplexität des Organismus – eben keine Maschine (LA METTRIE) oder ein unendlich komplizierter und in seinen Interaktionen undurchschaubarer Mechanismus, sondern auch in der Psyche des Patienten und dessen Einbindung in das soziale Umfeld. Zudem ist auch hinzunehmen, dass dem Arzt genauso physische und psychische Grenzen gesetzt sind. Eine schulmedizinische Abklärung des Kranken durch den Arzt sollte jedoch als vorrangiges Prinzip gelten. Der Verzicht auf die Anwendung moderner Diagnoseverfahren, wie das Erstellen eines Blutbildes oder die Durchführung eines EEGs (Elektroenzephalogramm), EKGs (Elektrokardiogramm), eines Röntgens, eines MRTs (Magnetresonanztherapie), einer Computertomografie oder interner Untersuchungen wird als fahrlässig betrachtet, da anhand dieser Diagnoseverfahren bereits bei Früherkennung von schweren Erkrankungen (Karzinomen etc.) weitere schulmedizinische Schritte unternommen werden können.
Doch trotz dieser Weiterentwicklung im Bereich der Diagnostik und Therapie wird Kritik an einer Schulmedizin geübt, die sich zu sehr auf Daten und Fakten konzentriert und dabei die menschliche Zuwendung vernachlässigt. Leider muss man einräumen, dass das Wissen und die Erfahrung der Schulmedizin (hard skills) alleine nicht immer zum gewünschten Erfolg führen, sondern für den Heilungsprozess oft auch soft skills, wie die Empathie des behandelnden Arztes sowie eine professionelle Kommunikation zwischen Arzt und Patient notwendig sind. Die Kunst des Heilens besteht daher in einer Symbiose von hard und soft skills, was von der Schulmedizin als durchaus erreichbares Ziel gesehen werden kann, aber der Alternativmedizin in dieser Form nicht gelingen kann.
Der Entschluss, mich im Rahmen meiner Dissertation mit diesem Thema zu befassen, wurde durch die zunehmende Popularität alternativmedizinischer Heilmethoden angeregt, obwohl die Schulmedizin auf hervorragende Erkenntnisse in der Erforschung, Diagnostik und Therapie physischer Krankheiten zurückblicken kann. Aufgrund des demografischen Wandels werden die Menschen immer älter, aber dank medialer Aufbereitung auch gesundheitsbewusster, obwohl die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit teilweise auch mit (hohen) privaten Kosten verbunden sind, die weder von den Krankenkassen noch von (allen) Versicherungen vollständig übernommen werden.
Das Ziel meiner Arbeit besteht darin, herauszufinden, in welchem Ausmaß und warum die Alternativmedizin seit geraumer Zeit eine so hohe Akzeptanz in der Gesellschaft findet, obwohl ihre Methoden weder mit denen der modernen Wissenschaften noch mit einem aufgeklärten Weltbild kompatibel erscheinen. Handelt es sich hier um ein Phänomen nach Rousseau – Zurück zur Natur, Naturheilkunde statt „Hard Core-Medizin“? Welche Anforderungen muss daher ein medizinisches System bzw. eine Behandlungsmethode erfüllen, um von der Gesellschaft weitergehend anerkannt zu werden als dies heute der Fall ist?
Anhand der kritischen Bestandsaufnahme von gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialpsychologischen Phänomenen wird eine Erklärung für diese Entwicklung in der Medizin nötig. Es drängt sich hier die berechtigte Frage auf, ob unser Medizinsystem immer weniger zufrieden stellt, ob die Ausbildung der Ärzte mangelhaft ist oder ob die Medien eine derartig große Breitenwirkung haben, die zu diesem beachtlichen Erfolg der Alternativmedizin führ(t)en (makrosoziologische Ursachen). Oder ist es die Wirksamkeit der alternativmedizinischen Behandlungsmethode, die Persönlichkeit des Arztes/Therapeuten bzw. dessen Charisma oder persönliche Zuwendung (mikrosoziologische Ursachen)? Auch die Vermittlung von Glauben und Hoffnung durch den Alternativmediziner, womit die wissenschaftlich orientierte Schulmedizin nur begrenzt dienen kann, könnte einen nicht unwesentlichen Einfluss auf die Psyche und Physis des kranken Menschen ausüben. Daraus resultiert die Frage nach der Bedeutung von Esoterik und Spiritualität in der Alternativmedizin. Hilft etwa Esoterik mehr als Aspirin?
Das Ziel jedes Medizinsystems sollte allerdings immer das Gleiche sein, nämlich die Erlangung des physischen und psychischen Wohlergehens des Patienten, und es sollte im Ermessen des Individuums liegen, inwieweit dafür wissenschaftlich geprüfte, esoterische, spekulative oder spirituelle Hilfen in Anspruch genommen werden können.
Was müsste also die Schulmedizin unternehmen, um an Akzeptanz und Attraktivität zu gewinnen? Verliert die klassische Medizin ihren Gegner, sobald sie alle Krankheitsbilder inklusive der Befindlichkeitsstörungen, bei denen die Alternativmedizin häufig Erfolg versprechend agiert, abdecken kann oder kommen bei diesen Überlegungen auch andere Elemente ins Spiel? Befindet sich etwa die Schulmedizin in einer Krise?
Aufgrund der Beschäftigung mit diesem Thema erwarte ich zudem...