Vorwort zur 3. Auflage
Amputationschirurgie und Prothesenversorgung sind so alt wie die Menschheit. Die älteste bekannte, 3000 Jahre alte Zehenprothese an einer ägyptischen Mumie ist bestimmt nicht die erste. Ein Gliedmaßenverlust ist seit jeher für den oder die direkt Betroffenen zunächst eine Katastrophe, an der oberen Extremität stärker als an der unteren, von mehrfachen Amputationen gar nicht zu reden. Bei angeborenen Fehlbildungen sind paradoxerweise die Eltern die Patienten, nicht ihre Kinder. Wenn überhaupt, werden sie es erst viel später.
Alle sehen sie sich vor Fragen gestellt, die selbst erfahrene Fachleute nicht beantworten können: Warum? Woher? Wie weiter? Hinzu gesellt sich das unterschwellige Gefühl, eine Amputation oder Fehlbildung sei eine Art von Bestrafung. In der Tat haben Amputationen als Strafmaßnahmen eine lange Tradition und werden da und dort heute noch praktiziert. Es ist verständlich, wenn das Bild zuerst beherrscht wird von Trauer und Wut. Bald jedoch folgen Wünsche und Erwartungen, das Ärgernis Amputation durch die Kunst der Wiederherstellungschirurgie oder aber durch die moderne Prothesentechnik ungeschehen zu machen. Die regelmäßig erscheinenden Sensationsberichte unterstützen diesen unerschütterlichen Glauben nach Kräften.
Die Realität sieht anders aus. Was immer auch getan werden kann: Es wird nie mehr so sein wie früher. Kaum ein Gebiet der Medizin, in welchem Wunsch und Wirklichkeit derart weit auseinanderklaffen.
Die „Contergan-Kinder“ mit ihren schweren multiplen Fehlbildungen, die vor 40 Jahren mit größtem Aufwand versorgt wurden, haben ihre künstlichen Arme längst weggelegt, im Gegensatz zu den Orthoprothesen für ihre unteren Extremitäten. Nicht wenige tragen zudem die Monate und Jahre stationärer Prothesenversorgung und -trainings in denkbar schlechter Erinnerung, wie der weltberühmte Bariton Thomas Quasthoff in seinen Lebenserinnerungen sie schildert. Es ist aber zu einfach, hinterher über die Betroffenen und Beteiligten den Stab zu brechen. Alle waren schlicht überfordert. Daran hat sich im Grunde bis heute nichts geändert.
Das Missverhältnis zwischen Stumpf und Prothese nimmt zu mit jedem Verlust an Länge. Nachuntersuchungen berichten übereinstimmend über die schlechte Akzeptanz von Prothesen nach körpernahen Amputationen an der oberen Extremität. Es wäre jedoch verfehlt, diese Tatsache der Prothesentechnik oder einem chronischen Mangel an Interesse am Thema und entsprechend an Forschungsgeldern in die Schuhe zu schieben. Es liegt vielmehr in der Natur der Sache, dass auch die aufwendigste Prothese den meilenweiten Abstand zum Vorbild bestenfalls ein wenig zu verringern, niemals jedoch zu schließen vermag.
Wir sehen unsere faszinierende Aufgabe darin, den Schaden von Anfang an möglichst zu begrenzen. Die wichtigsten Weichen zur Rehabilitation werden mit der Wahl der Amputationshöhe gestellt und nicht erst bei der Wahl der Prothese. Diese Aufgabe stellt an den Operateur weit höhere Anforderungen, als ihm sein chirurgisches Geschick abverlangt. Eine ganze Anzahl Faktoren muss er berücksichtigen, die mit dem Lokalbefund rein nichts zu tun haben.
Lässt sich eine Amputation tatsächlich nicht vermeiden, geht es zunächst darum, so peripher wie nur möglich einen schmerzfreien, belastbaren Stumpf zu schaffen und damit die Rehabilitationsaussichten entscheidend zu verbessern. Dieses Ziel lässt sich oft erst in mehreren Schritten erreichen. Eine ganze Reihe operativer Eingriffe zur Verbesserung der Stumpfqualität steht zur Verfügung. Die gesamte Palette der Hand-, der Gefäß-, der Tumor-, der Unfall- und Wiederherstellungschirurgie, aber auch der septischen und der Kriegschirurgie ist voll auszuschöpfen. Dazu gehören althergebrachte Methoden wie die Greifzange nach Krukenberg und die Kineplastik nach Sauerbruch, beide aus der Zeit des 1. Weltkrieges, so gut wie moderne mikrochirurgische Verfahren zur Replantation der abgetrennten Gliedmaße oder zum Transfer einer Zehe als Daumenersatz. Natürlich dürfen eigene Beiträge nicht fehlen, wie die sogenannte „innere Amputation“ des Fußes, die Knieexartikulation und ihre Varianten, die gestielte Muskellappenplastik bei der Markraum-Osteitis von Femur und Tibia, die offene Mobilisation des Ellenbogens bei Kontrakturen nach Starkstromverbrennungen. Keine operative Technik, die nicht eine kritische Prüfung über sich ergehen lassen musste. Mitarbeiter ergänzen die Reihe mit der Umdrehplastik nach Borggreve – van Nes, Verlängerungsostotomien an Stümpfen und plastisch-chirurgischen Verfahren.
Alle diese operativen Indikationen sind von Anfang an abzuwägen gegen eine Prothesenversorgung, etwa wenn es gilt, dem Handstumpf einen Gegenhalt zu verschaffen.
Allgemein geht es darum, um jeden Gewinn an Länge zu kämpfen. Knieexartikulierte mit ihrem endbelastbaren, kräftigen, langen Hebelarm gewinnen im Behindertensport die Goldmedaillen im Wettstreit mit den Oberschenkelamputierten, um nur ein Beispiel zu nennen. Die Prothesentechnik hat sich danach zu richten und nicht umgekehrt. Inzwischen hat sie die Vorteile eines langen, birnenförmigen Stumpfes längst erkannt. Auch nur wenige Zentimeter dürfen nicht geopfert werden in der Vorstellung, die Technik wäre in der Lage, einen zumindest gleichwertigen Ersatz zu bieten. Letzten Endes geht es um ein unwiederbringliches, einmaliges Stück Leben und damit auch um ethische Fragen.
Zum Slogan „Life before Limb“ gehört unbedingt auch die Überlegung „Limb is Life, too“. Wem der unschöne Begriff „Nachamputation“ fremd ist, der amputiert zu hoch und vergibt damit dem Patienten jede Chance, zum Beispiel sein Kniegelenk zu behalten und damit seine künftige Lebensqualität signifikant zu erhöhen. Ein gewisses Risiko postoperativer Komplikationen ist dabei einzukalkulieren und von allen Beteiligten mitzutragen.
Was hier vorgestellt wird, sind die praktischen Erfahrungen der Verfasser und ihrer Mitarbeiter. Alle versuchen sie so darzulegen, dass ein fachkundiger Leser sie auch nachvollziehen kann. Ungeübten erleichtern standardisierte operative Verfahren die Aufgabe. Raffinierte Techniken fordern die Könner heraus.
Genau die gleiche Einstellung prägt die Kapitel über die Prothesenversorgung. So schwierig wie die Indikationsstellung zur Amputation ist auch die Antwort auf die Frage, mit welcher Art Prothese dem Amputierten denn am besten gedient sei. Die Auswahl reicht von der ultramodernen elektronisch gesteuerten Versorgung und der täuschend ähnlichen Nachbildung zu viel simpleren Lösungen. Dazu gehört auch der Verzicht auf jede Prothese, wenn damit dem Amputierten besser gedient ist.
Zur Prothesenversorgung gehören Gehschulung und Prothesentraining, von Anfang an ausgerichtet auf Fähigkeiten und Fertigkeiten des Amputierten im Hinblick auf seine Rehabilitation im weitesten Sinne.
Dabei dürfen die verschiedensten technischen Hilfsmittel nicht fehlen. Auch sie sind nur sinnvoll, wenn sie die Lebensqualität verbessern. Für den Amputierten und erst recht für ein Kind mit angeborenen Fehlbildungen hat die soziale Integration in Familie, Schule, Beruf und Sport den höchsten Stellenwert.
Für „erfolgreich“, „problemlos“ oder gar „perfekt“ ist hier kein Platz. Es werden auch keine Quantensprünge geschlagen. Dafür hängen die Trauben so hoch wie nur möglich. Gesucht ist die „am wenigsten schlechte Lösung“, „la solution la moins mauvaise“, so viel eleganter auf Französisch.
Das Buch kann keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Dazu würden nicht einmal zehn Bände ausreichen. Es ist sehr persönlich und damit auch subjektiv geschrieben. Das Literaturverzeichnis könnte stellenweise aus einem medizinischen Antiquariat stammen. Die neuere Literatur lässt sich vollständiger im Internet abrufen.
Aus 3 mach 1: Dieses Buch ist ein Konzentrat aus 3 früheren Werken. Das erste handelt von der „Amputation und Prothesenversorgung der unteren Extremität“, erschienen 1989, in 2. Auflage 1995. 1997 entstand das Gegenstück über die obere Extremität, alle drei im Ferdinand Enke Verlag in Stuttgart. Anno 2000 veröffentlichte der Georg Thieme Verlag „Physiotherapie und Sport nach Beinamputationen“ von Birgit Wilde und René Baumgartner.
Im vorliegenden Werk suchen die Verfasser nun alle Aspekte unter einem Dach unterzubringen, miteinander zu verbinden, zu beurteilen und Doppelspurigkeiten auszuschalten. Darüber hinaus konnten sie gute 10 Jahre mehr an Erfahrungen hinzufügen.
Ihr Stolz sind ihre Langzeitergebnisse mit Patienten, die sie ein orthopädisches Leben lang begleiten konnten. Daraus ergibt sich automatisch eine Zurückhaltung bis Ablehnung von Verfahren mit brillanten Sofortergebnissen, bei denen niemand daran denkt, wie...