Erster Teil Alle Gebeine, die wir finden konnten
Einleitung
Wir sind Sternenstaub
Ich schreibe, um Verbindung zu unseren Vorfahren zu halten und um unter den Menschen Wahrheit zu verbreiten.
SONIA SANCHEZ
Wenige Tage nach den US-Wahlen von 2016 schickt mir asha den Link zu einem Vortrag des Astrophysikers Neil deGrasse Tyson. Wir müssen uns die Hoffnung bewahren, schreibt sie 3.000 Meilen von mir entfernt – sie lebt in Brooklyn, ich in Los Angeles. Wir hören uns beide an, wie Dr. deGrasse Tyson erklärt, dass die Atome und Moleküle in unseren Körpern tatsächlich auf Verschmelzung im Kern von Sternen zurückzuführen sind, die einst zu Gaswolken explodierten. Diese Wolken bildeten dann neue Sterne, die wiederum Gottseidank die nötige Mischung aus Stoffen besaßen, um nicht nur Planeten wie den unseren, sondern auch Menschen, wie uns, sie und mich, entstehen zu lassen. Der Physiker sagt, dass demnach nicht nur wir im Universum leben, sondern das Universum auch in uns ist. Er behauptet, dass wir Menschen im wahrsten Sinne des Wortes Sternenstaub sind.
Als ich Dr. deGrasse Tyson das sagen höre, weiß ich, dass er die Wahrheit spricht, denn ich habe das schon seit meiner Kindheit gewusst. Diese Magie. Dass wir Sternenstaub sind, habe ich am Leben der Menschen, von denen ich abstamme, erkannt.
Ich habe es an meiner hart arbeitenden Mutter gesehen. Eine Zeugin Jehovas, die zwei und manchmal sogar drei Jobs gleichzeitig hatte, die auf die Kinder anderer Leute aufpasste, an der Rezeption von Fitnessstudios saß oder im Telefonmarketing arbeitete. Die alles machte, was möglich war, 16 Stunden täglich, meine ganze Kindheit hindurch, als wir im Latino-Viertel Van Nuys lebten. Meine Mutter, kakaobraun und sanft, von ihrer Familie verstoßen wegen uns Kindern, die sie als sehr junge, unverheiratete Frau bekommen hatte. Meine Mutter, die niemals aufgab, obwohl sie nie so viel verdiente, dass es wirklich zum Leben reichte.
Ich sah es auch in dem schmalen braunen Gesicht meines Vaters, eines Jungen aus dem Cajun Country in Louisiana. Er war ein Heiler, der seine eigenen Verwundungen, seine Süchte einer Welt verdankte, die ihn nicht liebte und ihn das nicht nur einmal, sondern unablässig spüren ließ. Mein Vater, der sich stets zurückkämpfte und nie den Versuch aufgab, ein besserer Mensch zu werden. Auch wenn dafür kein Vorbild existierte.
Und ich wusste es, weil ich in 13. Generation von einem Volk abstamme, das im Rumpf von Sklavenschiffen überlebt, das Ketten, Peitschen und Monate in seiner eigenen Scheiße und Pisse überstanden hat. Von Menschen, denen man damals per Gesetz das Menschsein absprach, die mitansehen mussten, wie man ihnen ihre Namen, ihre Sprachen, ihre Göttinnen und Götter, ihre Tänze und die Rhythmen ihrer Lieder, die Würde ihrer Träume, ja ihre eigenen Familien entriss und stahl, sie auseinandernahm und wegwarf. Menschen, die trotz alledem eine Sprache entwickelten, Gott ehrten, eine eigene Bewegung hervorbrachten und an der Liebe festhielten. Was sollten sie sonst sein, wenn nicht Sternenstaub? Diese Menschen, die sich weigerten, einfach zu sterben. Die sich weigerten, die Vorstellung zu akzeptieren, ihre Leben und die ihrer Kinder würden nicht zählen, würden nichts bedeuten?
Unsere Ahnen mussten sich Familien frei erfinden. Sie stellten sich jeden Einzelnen von uns vor. Sie stellten sich mich vor. Das mussten sie tun. Nur so war es möglich, dass ich heute hier bin. Eine Mutter und Ehefrau, Organisatorin in der Community und queer, eine Künstlerin und Träumerin, die gerade lernt, Hoffnung zu schöpfen, während sie einen Weg durch die Schatten der Hölle sucht, auch wenn sie weiß, es hätte ganz anders kommen können.
Niemand hat erwartet, dass ich überlebe, und man hat mich auch nicht dazu ermutigt. Von meinen Brüdern und meiner kleinen Schwester, meiner Familie – der, in die ich geboren wurde, und der, die ich gegründet habe – erwartete niemand, dass sie überlebte. Wir führten ein riskantes Leben auf dem Drahtseil der Armut. An dessen Enden jeweils die Politik der persönlichen Verantwortung herrschte, die Schwarze[*] Pastoren und der erste Schwarze Präsident predigten. Diesen Grundsatz predigten sie viel lauter als die Verpflichtung zu kollektiver Verantwortung.
Sie predigten ihn lauter als den Widerspruch, die reichste Nation der Welt zu sein und gleichzeitig ein Ort mit extremer Arbeitslosigkeit, extremem Mangel an Löhnen, von denen man leben kann, und extremer Ungleichheit bei den grundlegenden Lebenschancen.
Sie predigten auch lauter darüber als über die Tatsache, dass Amerika nur 5 Prozent der Weltbevölkerung stellt, aber 25 Prozent der Gefängnisinsassen weltweit. Dazu zählten lange Zeit auch mein psychisch kranker Bruder und mein sanftmütiger Vater, die beide nie die Hand gegen irgendwen erhoben haben. Doch bis heute gehört zu diesen Gefangenen explizit nicht der Mann, der auf einen 17-Jährigen schoss und ihn tötete, obwohl der Junge nur Süßigkeiten und Eistee in der Hand hatte.
Jemand verfasste eine Petition, die es den ganzen weiten Weg bis ins Weiße Haus schaffte. Darin hieß es, wir seien Terroristen. Wir, die wir als Reaktion auf die Ermordung dieses Kindes gesagt hatten: Black Lives Matter. Das Dokument gewann in der ersten Juliwoche des Jahres 2016 an Zustimmung, nachdem eine Woche lang gegen die kurz aufeinander folgenden Erschießungen von Alton Sterlin in Baton Rouge und Philando Castile in Minneapolis demonstriert worden war. Am Ende jener Woche, nämlich am 7. Juli, eröffnete ein Scharfschütze in Dallas, Texas, das Feuer während eines Protestmarschs unserer Bewegung. Zu der Kundgebung hatten Mütter und Väter ihre Kinder mitgebracht, um gemeinsam zu fordern: Wir haben das Recht zu leben.
Als Schütze wurde der 25 Jahre alte Micah Johnson identifiziert, Afghanistan-Veteran und Reservist bei der Army. Er verschanzte sich in einem Gebäude auf dem Campus des El Centro College, nachdem er fünf Polizisten erschossen und elf weitere Menschen verletzt hatte, darunter auch zwei Demonstranten. In den frühen Morgenstunden des 8. Juli 2016 war er die erste Einzelperson, die jemals von der Polizei in die Luft gesprengt wurde. Dazu verwendete man eine Bombe des Militärs und programmierte einen Roboter, der sie zu Micah Johnson transportierte. Keine Geschworenen, kein Prozess. Keine Geduld, wie man sie den Killern gegenüber hatte walten lassen, die in Charleston neun Gottesdienstbesucher oder in Aurora, Colorado, Kinobesucher ermordet hatten.
So werden wir nie erfahren, was seine wahren Motive waren und ob er psychisch labil war. Mit Sicherheit wissen wir nur, dass die einzige Organisation, der er jemals angehörte, die U. S. Army war. Und wir merken uns, dass die weißen Massenmörder in Aurora und Charleston lebend gefasst wurden. Einer von ihnen bekam auf dem Weg ins Gefängnis sogar noch Fast Food besorgt. Wir merken uns außerdem, dass die meisten Cops, die in diesem Land getötet werden, von Weißen getötet werden, die man anschließend lebend fasst.
Und wir sind Zeugen der vielfältigen Arten, auf die der Geist von Micah Johnson als Waffe gegen Black Lives Matter gerichtet wird. Gegen mich gerichtet wird. Das ist eine alte Taktik, die man schon immer gegen Menschen angewandt hat, die die weiße Vorherrschaft infrage stellen. Und genauso merken wir uns, dass Nelson Mandela bis 2008 auf der Terroristenliste des FBI stand.
Trotzdem ist der Vorwurf, eine Terroristin zu sein, verstörend. Ich erlaube mir daher, leise zu weinen, als ich an einem Sonntagmorgen im Bett liege und drei Tage nach Dallas ein hysterischer Rudolph Giuliani mit hochrotem Gesicht Lügen über uns verbreitet.
Wie so viele Leute, aus denen unsere Bewegung besteht, habe auch ich mein Leben zwischen den Schreckenszwillingen Armut und Polizei verbracht. Ich wuchs im Klima des Drogenkriegs auf, das erst Ronald Reagan und danach Bill Clinton angeheizt haben. Das Viertel, in dem ich gelebt und geliebt habe, und die Straßen, in denen viele Mitglieder von Black Lives Matter gelebt und geliebt haben, waren explizite Kriegsschauplätze. Und der Feind, das waren wir.
Es ist eine Tatsache, dass schon immer mehr Weiße als Schwarze oder Braune Drogen genommen und verkauft haben. Und doch sehen die meisten von uns, wenn sie die Augen schließen und sich einen Drogendealer oder -konsumenten vorstellen, ein schwarzes oder braunes Gesicht. Mehr braucht man eigentlich nicht zu wissen, falls man sich nicht auf Anhieb vorstellen kann, dass jemand, der nichts getan hat, trotzdem von der Polizei schikaniert wird. Es genügte tatsächlich schon, nur zu atmen, wenn man Schwarz war, um eingesperrt zu werden – oder sogar Schlimmeres zu erleben.
Ich trage die Erinnerung an ein Leben mit dieser Furcht in mir. Die Furcht davor, dass ich oder jeder Angehörige meiner Familie ungestraft getötet werden könnte. Sie steckt in meinem Blut, meinen Knochen und jedem meiner Schritte.
Und dennoch nannte man ausgerechnet mich eine Terroristin. Nannte man die Angehörigen unserer Bewegung Terroristen.
Uns – mich, Alicia Garza und Opal Tometi – die drei Frauen, die Black Lives Matter gegründet haben, nennt man Terroristinnen.
Uns, das Volk.
Wir sind keine Terroristen.
Ich bin keine Terroristin.
Ich bin Patrisse Marie Khan-Cullors Brignac.
Ich...