Kapitel 1
Einleitung
VOR ÜBER 80 Jahren stellte der Physiker Albert Einstein sein Konzept der Relativität vor. Im Kern postuliert die Relativität, dass alles nur in Relation zu etwas anderem existiert. Die unweigerliche Schlussfolgerung ist, dass nichts ganz allein sein kann – es gibt nichts Absolutes. Ohne Weiß gibt es kein Schwarz; schnell kann nur im Verhältnis zu langsam sein; ein Hoch kann nur in Beziehung zu einem Tief gesehen werden etc. Einstein wandte seine Theorie auf die Physik an und verlor dadurch ein größeres Publikum, für das seine Ausführungen gleichfalls von Interesse gewesen wären. Trotzdem haben andere, wie z.B. der Philosoph Bertrand Russell, daran gearbeitet, dieselben Ideen über die Physik hinaus zu verbreiten.
In einer als Serie erscheinenden Form seines Buches [The ABC of Relativity], die 1925 in The Nation veröffentlicht wurde, drückte Russell seine Überzeugung aus, dass die Menschen, wenn sie sich erst an die Idee der Relativität gewöhnt hätten, ihre Art, zu denken, ändern würden: Die Menschen würden mit größerer Abstraktion arbeiten und alte absolute Gesetze durch relative Konzepte ersetzen. Dies ist in der Welt der Wissenschaft sicherlich geschehen, aber die Absorbierung der Relativität in die Alltagskultur hat nicht viel zur Veränderung der Denkweise der meisten Menschen beigetragen, ganz einfach weil die wenigsten sich an die Relativität gewöhnt haben oder sie auch nur ansatzweise verstehen.2
Ungefähr zu derselben Zeit, als Einstein seine Arbeit begann, war Oliver Wendell Holmes jr., ein Richter des Obersten Gerichtshofes der USA, damit beschäftigt, das Rechtssystem unseres Staates in Richtung Relativität zu schieben. Er postulierte, dass die Gerichte nicht die absolute Wahrheit feststellen konnten. Sie konnten lediglich die relativen Vorzüge der unterschiedlichen Standpunkte bestimmen, die ihnen vorgetragen wurden, und dies war nicht in einem absolutistischen Regelwerk möglich, sondern verlangte nach einem sozial relevanten Regelwerk. Früh in seiner Laufbahn stellte Holmes fest:
Das Gesetz verkörpert die Geschichte der Entwicklung einer Nation über viele Jahrhunderte, und man kann es nicht handhaben, als enthielte es nur die Axiome und logischen Folgen eines Mathematikbuches. Um zu wissen, was es ist, müssen wir wissen, was es war, und was es wahrscheinlich werden wird.3
Die Werke von Einstein und Holmes standen nicht allein. Ihr zentrales Thema zeigte einen beginnenden Trend in der Gesellschaft an. Als die Welt gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend komplex wurde, erkannte man weithin, dass die absoluten Wahrheiten, die bisher die Geschicke der Menschen bestimmt hatten, nicht länger ihren Zweck erfüllen konnten, dass es eines relativen Bezugssystems bedurfte, wenn der Fortschritt weitergehen sollte – und genau so verhält es sich mit den Börsen.
Solche Ideen sind im Grunde genommen bescheiden. Sie erkennen unsere Grenzen. Sie spiegeln eher die östliche als die westliche Philosophie wider. Das Ziel, einen perfekten Investitionsansatz zu finden, ist eben dies, ein Ziel. Wir können ihm nahe kommen, aber es wird immer außerhalb unserer Reichweite bleiben. Denn es gibt kein perfektes System. Wir können nur im Rahmen unserer Fähigkeiten unser Bestes geben, angetrieben von den Möglichkeiten.
Bernard Mandelbrot entdeckte das nichtlineare Verhalten der Baumwollpreise bei seinen frühen Chaosforschungen. Andere folgten ihm und stellten fest, dass das Marktgefüge äußerst komplex ist, sodass Vorhersagen ähnlich schwer zu treffen sind wie bei dem uns am besten bekannten komplexen System, dem Wetter. Sobald ein System zunehmend komplex wird, versagen die herkömmlichen linearen analytischen Hilfsmittel, und es wird unglaublich schwierig, das System zu verstehen. Die einzige Möglichkeit, ein komplexes System zu verstehen, liegt in der Verwendung relativer Bezüge.
Es liegt nicht in der Absicht dieses Buches, die Tiefen dieser Diskussion auszuloten und das Für und Wider abzuwägen. Wir akzeptieren einfach die offenkundige Tatsache, dass die Kurse sich nicht „normal“ verhalten und dass die Börsen nicht so simple Systeme sind, wie manche Menschen denken. Unsere Prämisse ist, das die Märkte Systeme von wachsender Komplexität sind, die zunehmend schwerer zu meistern sind.
Die alte Weisheit sagt, dass man an der Börse Geld verdient, wenn man tief kauft und hoch verkauft – oder umgekehrt. Das stellte sich als immer schwieriger heraus, während die Märkte volatiler und die Muster immer komplexer wurden. Eine Geschichte von den Börsenständen in Chicago, wo die aktivsten Futureskontrakte der Welt gehandelt werden, erzählt, dass es einen Gott gibt, der über diese Börsenstände wacht. Dieser Gott kennt nur zwei Regeln: Nummer eins lautet: „Du wirst zum tiefsten Kurs kaufen – aber nur einmal in deinem Leben“. Nummer zwei lautet: „Du wirst zum höchsten Kurs verkaufen – aber wieder nur einmal in deinem Leben“. Natürlich steht es jedem frei, das Gegenteil dieser Regeln beliebig oft zu tun.
Der Zweck des vorliegenden Buches ist es, viele der Fallen zu umgehen, die den Anlegern oft zum Verhängnis werden, einschließlich des „Zum-tiefsten-Kurs-Kaufens“, bei dem der Anleger vermeintlich günstig kauft, nur um dann zuzusehen, wie der Kurs weiter einbricht, oder des „Zum-höchsten-Kurs-Verkaufens“, bei dem der Kurs nach dem Verkauf noch weiter ansteigt. Hier wird der herkömmliche emotionale Ansatz durch das relative Bezugssystem ersetzt, innerhalb dessen die Preise streng bewertet werden können, um dann rationale Anlageentscheidungen zu treffen, ohne auf absolute Wahrheiten Bezug zu nehmen. Vielleicht kaufen wir zum tiefsten Kurs oder verkaufen zum höchsten Kurs, aber wenn wir das tun, dann nur in einem relativen Sinn. Bezüge auf Absolutes werden minimiert. Die Definition von „Hoch“ ist das obere Band. Die Definition von „Tief“ ist das untere Band. Zusätzlich erhalten Sie eine Reihe von Anregungen, wie Sie dieses Regelwerk auf Ihre individuellen Präferenzen abstimmen und es Ihren persönlichen Risk-Reward-Kriterien anpassen können.
In Teil I lesen Sie nach dieser Einleitung in Kapitel 2 über das Rohmaterial, mit dem der Analyst arbeitet. In Kapitel 3 werden Sie erfahren, wie die richtigen Zeitrahmen für die Analyse ausgewählt werden und wie sie die richtige Länge und Breite der Bollinger-Bänder festlegen. Kapitel 4 liegt eher auf der philosophischen Linie und betrachtet die unterschiedlichen Ansätze der ständigen Hinweise und Ratschläge zum einen und des Erkennens von Möglichkeiten mit überragendem Risk-Reward-Potential zum anderen. Teil I schließt in Kapitel 5 mit einem Diskurs über die erfolgreiche Anwendung der Ideen und Vorschläge in diesem Buch.
Teil II deckt die technischen Details der Bollinger-Bänder ab. Lesen Sie in Kapitel 6 über die Geschichte der Trading-Bänder (und in Kapitel 20 in Teil IV kehren wir zum ältesten bekannten Handelssystem, das auf Trading-Bändern beruht, zurück). Darauf folgt Kapitel 7, das die Konstruktion der Bollinger-Bänder beschreibt. Kapitel 8 bespricht die Indikatoren, die sich von den Bollinger-Bändern ableiten: %b, eine mathematischen Methode zur Feststellung, ob wir hoch oder tief liegen, und Bandbreite, ein Maß der Volatilität. Den Abschluss von Teil II bildet das Kapitel 9 mit einer Besprechung von Volatilitätszyklen und einem Überblick über die akademischen Ideen, die das Konzept der Bollinger- Bänder unterstützen, sowie über die relevanten statistischen Themen.
Sollten Sie an den genaue Details hinter den Werkzeugen nicht so interessiert sein, lassen Sie Teil II einfach aus und gehen Sie gleich zu Teil III weiter, in dem diskutiert wird, wie man die Bollinger-Bänder anwendet. Die Teile III und IV bauen zwar auf den ersten beiden Teilen auf, sie können aber unabhängig voneinander gelesen werden.
Teil III erklärt die grundlegende Anwendung der Bollinger-Bänder. Am Anfang stehen Kapitel 10 und 11 über die Mustererkennung und führen Arthur Merrills Einteilung in M- und W-Muster ein. Die Kapitel 12 und 13 beschäftigen sich mit der Anwendung der Bollinger-Bänder, um die bekanntesten Handelsmuster zu erklären, wobei die M-Hochs in Kapitel 12 und die W-Tiefs in Kapitel 13 behandelt werden. Die schwierigste Phase, „entlang des Bandes gehen“, wird in Kapitel 14 erklärt. Darauf folgen zwei verwandte Kapitel über Volatilität. Kapitel 15 beschreibt den Engpass – mit einigen Beispielen aus dem Aktien- und Anleihenmarkt. Kapitel 16 zeigt die erste von drei einfachen Methoden, die den strengen Einsatz der Bollinger-Bänder illustrieren, ein Volatilitäts-Breakout, der auf dem Engpass beruht.
Teil IV fügt der analytischen Mischung die Indikatoren hinzu. Dabei geht es um das Zusammenfügen der Bänder mit Indikatoren innerhalb eines rationalen Entscheidungsfindungsprozesses. Kapitel 17 bespricht die Kombination von Bändern und Indikatoren im Allgemeinen. In Kapitel 18 folgt eine Diskussion der Volumenindikatoren, einschließlich derer, die sich am besten für die Verwendung mit den Bollinger- Bändern eignen. In Kapitel 19 und 20 konzentrieren wir uns auf die Kombination von Kursbewegung und Indikatoren in zwei rationalen Entscheidungssystemen unter der Verwendung von %b und Volumenoszillatoren – ein System folgt dem Trend und das...