Prolog
Zwei Geschichten, zwei Tage im Mai, dazwischen die historischen Entwicklungen eines ganzen Jahrhunderts. Beide Geschichten – die eine ein melodramatisches Märchen, die andere tragische Realität – liefern wichtige Erkenntnisse über die sizilianische Mafia, und sie machen ungefähr deutlich, warum man jetzt endlich eine Geschichte der Organisation schreiben kann.
Die erste Geschichte wurde der Welt am 17. Mai 1890 im Teatro Costanzi in Rom vorgeführt. Nach einer vielfach geäußerten Ansicht war es die erfolgreichste Opernpremiere aller Zeiten. Cavalleria rusticana (die »Bäuerliche Ritterlichkeit«) von Pietro Mascagni stellte klangvolle Melodien in den Dienst einer einfachen Geschichte von Eifersucht, Ehre und Rache, und angesiedelt war sie unter den Bauern Siziliens. Das Werk wurde begeistert aufgenommen. Es gab dreißig Vorhänge; die italienische Königin war zugegen und soll den ganzen Abend über applaudiert haben. Die Cavalleria wurde schnell zu einem internationalen Hit. Wenige Monate nach jenem Abend in Rom schrieb Mascagni an einen Freund, er sei mit 26 Jahren durch seinen Einakter bis an sein Lebensende reich geworden.
Zumindest das eine oder andere Musikstück aus Cavalleria rusticana kennt wohl jeder, und jeder weiß, dass die Oper mit Sizilien zu tun hat. Das Intermezzo erklingt zu der berühmten Zeitlupen-Titelszene von Raging Bull, in dem Martin Scorcese mit italoamerikanischem Machogehabe, Stolz und Eifersucht abrechnet. Die Opernmusik zieht sich auch durch Der Pate Teil III von Francis Ford Coppola. In der entscheidenden Szene ersticht ein als Priester verkleideter Mafiakiller sein Opfer in dem üppig ausgestatteten Teatro Massimo in Palermo, während auf der Bühne Cavalleria rusticana gespielt wird. Die tragende Tenorrolle des Turiddu singt der Sohn von Don Michael Corleone. Am Ende des Films erklingt noch einmal das Intermezzo als Begleitung zum einsamen Tod des gealterten Don, gespielt von Al Pacino.
Etwas anderes ist im Zusammenhang mit der Cavalleria weniger bekannt: Die Handlung ist ein Mythos über Sizilien und die Mafia in reinster, so weit wie irgend möglich harmloser Form, und dieser Mythos ähnelte ein wenig der offiziellen Ideologie, deren sich die sizilianische Mafia eineinhalb Jahrhunderte lang bediente. Danach war die Mafia keine Organisation, sondern ein kompromissloser Sinn für Stolz und Ehre, der angeblich tief im Charakter jedes Sizilianers verwurzelt war. Das Bild von der »bäuerlichen Ritterlichkeit« stand in diametralem Gegensatz zu der Idee, die Mafia könne auch nur im Hinblick auf ihre Vergangenheit diesen Namen verdienen. Auch heute kann man die Geschichte der Mafia nicht erzählen, ohne sich mit diesem Mythos auseinander zu setzen.
Die zweite Geschichte führt uns auf einen Berg oberhalb der Straße, die in Palermo von der Stadt zum Flughafen führt. Wir schreiben den 23. Mai 1992, es ist fast 18 Uhr, und Giovanni Brusca, ein stämmiger, bärtiger junger Ehrenmann, beobachtet ein Stück der Schnellstraße kurz vor dem Abzweig zu der Kleinstadt Capaci. Zuvor haben seine Leute mit Hilfe eines Skateboards dreizehn kleine Fässer mit fast 400 Kilo Sprengstoff in ein Kanalisationsrohr gesteckt.
Wenige Meter hinter Brusca steht ein anderer Mafioso. Er raucht und telefoniert mit seinem Handy. Plötzlich bricht er das Gespräch ab, beugt sich nach vorn und mustert die Straße durch ein Fernrohr, das auf einem Baumstumpf steht. Als er einen Konvoi aus drei Fahrzeugen näher kommen sieht, zischt er: »Vai!« (»Los!«), nichts geschieht. »Vai!«, drängt er noch einmal.
Brusca hat bemerkt, dass der Konvoi unerwartet langsam fährt. Er wartet noch ein paar scheinbar unendliche Sekunden und lässt die Wagen sogar an einem alten Kühlschrank vorüberfahren, den er als Markierung an den Straßenrand gestellt hat. Erst als er von hinten ein drittes, fast panisches »Vai!« hört, drückt er auf den Knopf.
Die Detonationen lassen ein tiefes, donnerndes Rollen entstehen. Eine gewaltige Explosion zerreißt den Asphalt, wirbelt den ersten Wagen durch die Luft. Er landet sechzig oder siebzig Meter entfernt in einem Olivenhain. Aus dem zweiten Auto, einem kugelsicheren Fiat Croma, wird der Motor herausgerissen, und die zerschmetterten Reste des Wagens stürzen in den tiefen Explosionskrater. Der dritte ist beschädigt, aber noch intakt.
Die Opfer des Anschlags waren der führende Anti-Mafia-Ermittler und Untersuchungsrichter Giovanni Falcone und seine Frau (in dem weißen Croma) sowie drei Leibwächter (in dem vorausfahrenden Fahrzeug). Mit dem Mord an Falcone hatte die sizilianische Mafia sich ihres gefährlichsten Feindes entledigt, der zum Symbol für den Kampf gegen die Organisation geworden war.
Die Bombe von Capaci ließ ganz Italien stillstehen. Die meisten Menschen im Land wissen noch heute, wo sie gerade waren, als sie davon erfuhren, und danach erklärten mehrere Prominente, sie schämten sich dafür, Italiener zu sein. Für manche war die Tragödie von Capaci ein überragender Beweis für Arroganz und Macht der Mafia. Aber der Anschlag kennzeichnete auch die endgültige Abkehr von dem Mythos aus Cavalleria rusticana: Die offizielle Ideologie der Mafia hatte offiziell ihren Bankrott erklärt. Dass die erste glaubwürdige Geschichte der Mafia in italienischer Sprache erst nach Capaci verfasst wurde, ist kein Zufall.
Die liebenswürdige kleine Liebes-Dreiecksgeschichte von Cavalleria rusticana erreicht ihren Höhepunkt auf dem Marktplatz einer sizilianischen Kleinstadt, wo der raubeinige Kutscher Alfio es ablehnt, sich von dem jungen Soldaten Turiddu zum Trinken einladen zu lassen. Die beiden tauschen keinerlei offene Vorwürfe aus, aber beide wissen, dass die kleine Kränkung tödliche Folgen haben wird: Alfio hat erfahren, dass Turiddu ehrenrührige Absichten auf seine Frau verfolgt. Ihr kurzer Wortwechsel verkörpert in gedrängter Form ein ganzes primitives Wertesystem. Beide erkennen, dass ihre Ehre verletzt wurde, dass die Blutrache gerechtfertigt ist und dass der Konflikt nur durch ein Duell bereinigt werden kann. Wie es die Sitte vorschreibt, umarmen sich die beiden, und als Zeichen, dass er die Herausforderung annimmt, schnappt Turiddu mit den Zähnen nach Alfios rechtem Ohr. Turiddu sagt unter Tränen und Küssen seiner Mutter Lebewohl und verlässt die Bühne, um sich mit Alfio in einem nahe gelegenen Obstgarten zu treffen. Dann hört man aus der Ferne den Schrei einer Frau: »Turiddu ist tot!« Während die Bauern entsetzt aufheulen, fällt der Vorhang.
Mascagni stammte aus der Toskana. Als er Cavalleria rusticana vertonte, war er noch nie in Sizilien gewesen. Bei den Proben änderte der Tenor den Text der Eröffnungsarie: Beide Librettisten kamen aus Mascagnis Heimatstadt und hatten ihr keinen ausreichend sizilianischen Ton verliehen. Aber das spielte kaum eine Rolle. Sizilien – oder zumindest ein bestimmtes Bild davon – war 1890 ganz groß in Mode. Das Publikum im Teatro Costanzi erwartete – und bekam – die pittoreske Insel geboten, die es aus den illustrierten Magazinen kannte: ein exotisches Land voller Sonne und Leidenschaft, bewohnt von mürrischen, dunkelhäutigen Menschen.
In Wirklichkeit war die Mafia 1890 bereits eine mörderische, hoch entwickelte kriminelle Vereinigung mit engen politischen Verflechtungen und internationaler Reichweite. In der sizilianischen Hauptstadt Palermo beteiligten sich Kommunalpolitiker an Banken- und Aktienbetrug, und sie unterschlugen Mittel, die man der Stadtverwaltung für Sanierungsmaßnahmen zugewiesen hatte. Unter ihnen waren etliche Mafiosi. Allgemein hatte man aber von der Mafia ein ganz anderes Bild. Mascagnis Publikum hielt Turiddu und insbesondere den Kutscher Alfio bei allem ländlichen Pathos der Handlung nicht nur für typische Sizilianer, sondern auch für typische Mafiosi. Das Wort »Mafia« bezeichnete nach der allgemeinen Vorstellung nicht nur eine Organisation, sondern auch eine Mischung aus gewalttätiger Leidenschaft und einem »arabischen« Stolz, der angeblich über das Verhalten der Sizilianer bestimmte. »Mafia« galt vielfach als primitiver Begriff von Ehre, als rudimentärer Kodex der Ritterlichkeit, an den sich die rückständigen Bewohner in den ländlichen Gebieten Siziliens hielten.
Und das war auch nicht nur ein Missverständnis, das die hochnäsigen Norditaliener verbreiteten. Sieben Jahre nach dem atemberaubenden Erfolg von Mascagnis Oper schrieb der altkluge sizilianische Soziologe Alfredo Niceforo das Buch L’Italia barbara contemporanea (»Das barbarische zeitgenössische Italien«), eine Untersuchung der »rückständigen Rassen« Italiens. Dabei versah er manche Cavalleria-artigen Gemeinplätze über die sizilianische Mentalität mit einem abwertenden Beigeschmack: »Der Sizilianer … hat ewig die Rebellion und die grenzenlose Leidenschaft seines eigenen Ich im Blut – er ist, kurz gesagt, ein Mafioso.« Niceforo, Cavalleria rusticana und große Teile der italienischen Kultur jener Zeit brachten Sizilianer und Mafia systematisch durcheinander. Den gleichen Fehler machten auch später Generationen von Beobachtern aus Sizilien, dem übrigen Italien und anderen Ländern: Sie verwischten alle klaren Grenzen zwischen der Mafia und der »urtümlichen Mentalität des sizilianischen Unterbewusstseins«, wie ein englischer Reiseschriftsteller es in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts formulierte.
Allzu lange wurde die sizilianische Kultur mit der mafiosità verwechselt, und diese Begriffsverwirrung war im Interesse des organisierten Verbrechens. Es braucht wohl nicht besonders betont zu werden, dass es für die Verbrecherorganisation namens Mafia...