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E-Book

Das Gewissen der Männer

Geschlecht und Moral - Reportagen aus der Despotie

AutorCheryl Benard, Edit Schlaffer
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl188 Seiten
ISBN9783688103409
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
In Indien, in Pakistan, im Iran oder in Saudi-Arabien sind Frauen nach wie vor allenfalls Menschen zweiter Ordnung. Die, sei es traditionell, sei es religiös, legitimierte Macht der Männer gilt in diesen Kulturkreisen auch heute noch mehr als das Menschenrecht auf körperliche und seelische Unversehrtheit. Mädchen, die gegen ihren Willen verheiratet werden und die ihr Leben lang aller Rechte beraubt und zur Unsichtbarkeit verdammt sind, junge Ehefrauen, die von der Schwiegerfamilie ausgebeutet, gequält und bedroht werden, Vergewaltigungen, Züchtigungen, Arrestierungen, Witwenverbrennungen oder die Steinigung von Ehebrecherinnen - dies sind die prägenden Merkmale für eine Atmosphäre der Gewalt, die sich mit dem westlichen Begriff «Diskriminierung» nur sehr unzureichend beschreiben läßt. Hier findet vielerorts ein Krieg statt, dessen Opfer ungezählt sind. In eindringlichen Reportagen, in denen eine grauenvolle Realität transparent wird, berichten Cheryl Benard und Edit Schlaffer anhand zahlreicher Einzelbeispiele von Frauenschicksalen.

Cheryl Benard wurde 1953 in New Orleans/USA geboren. Zusammen mit Edit Schlaffer leitete sie als Sozialwissenschaftlerin die «Ludwig-Boltzmann-Forschungsstelle für Politik und zwischenmenschliche Beziehungen» in Wien und gründete 1981 mit ihr die Menschenrechtsorganisation «Amnesty for Women».

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Leseprobe

Eine Reise nach Indien


Ist Herr Singh ein Mörder?

Indien – das ist Mystik, Farbe, gandhische Friedfertigkeit, bunte Saris, spirituelle Erhabenheit.

Indien, das ist Geldgier bis zum Mord, Frauenhaß bis zur systematischen Ausmerzung.

Wir fuhren nach Indien, um einen Kulturbericht zu schreiben, und schrieben statt dessen einen Kriegsbericht. Unbeobachtet von Blauhelmen, herrscht hier ein Krieg gegen die Frauen.

Neu-Delhi. Das obere Stockwerk eines Einfamilienhauses. Wir sitzen im Wohnzimmer; draußen, auf der Veranda, blühen Geranien. Uns gegenüber sitzt das Ehepaar Chhabra: ein gutmütiger, freundlicher Mann, Eigentümer einer Werkstatt für die Produktion von Maschinenteilen, und seine Frau, die uns Tee serviert und Nüsse. In der Ecke steht ein Fernsehgerät, mit Video; wir sehen einen Film. Es ist ein Film über die älteste Tochter der Chhabras, Shalina, über ein Mädchen, das in Indien berühmt wurde. Sie kam sogar ins Fernsehen, wo sie fünf Minuten lang eine kleine Ansprache hielt, eine kleine Ansprache über ihre Ehe. Mit fünf Medienminuten beendete Shalina ihr Leben; ein Dokumentarfilmteam nahm ihren qualvollen Verbrennungstod und ihre gestöhnte Anklage auf Video auf. Deswegen ist sie berühmt; ihre Bekanntheit speist sich darüber hinaus noch aus einem anderen bizarren Detail, in dem sich ihr Tod von den Tausenden Verbrennungsmorden an jungen Ehefrauen unterschied, die jährlich in Indien stattfinden: Shalina wurde nicht mit Benzin übergossen, wie die meisten, sondern mit Whisky.

Herr Chhabra spielt uns, auf unseren Wunsch, diesen Film vor. Er sieht ihn sich mit uns an und ergänzt die Sätze seiner Tochter dort, wo ihre Stimme versagt und man sie nur schlecht verstehen kann. Seine Frau sieht weg, ihr Blick zielt auf die entgegengesetzte Ecke des Zimmers, aber hören muß sie. Wie erträgt sie es, diese Filmkassette in ihrem Wohnzimmerregal aufzubewahren, diesen Film vorspielen zu lassen, immer wieder, für Journalisten, für Interessierte? Immer wieder die Stimme ihrer Tochter zu hören, aus einem gehäuteten, in Folie gewickelten Gesicht; immer wieder zu hören, wie sie zuerst den Tathergang beschreibt und dann, zuletzt, nur noch schwach nach ihrer Mutter ruft, ein bißchen wimmert und dann stirbt? Frau Chhabra erträgt es nicht; sie weint, lautlos, während die letzten Sekunden des Films abspielen und die Namen des Filmteams abrollen. In der Tür steht Shalinas Schwester, die zweitälteste Tochter, und nun sehen wir alle einige Minuten lang auf den Fernsehschirm, der nur noch schwarz flimmert, ehe Herr Chhabra sich besinnt und aufsteht, um ihn auszuschalten.

 

«Die Ehe in Indien ist ein Geschäft», erklärt uns später, angewidert, eine Sozialarbeiterin. «Wenn Sie vier Söhne haben, sind Sie Millionär. Wenn Sie vier Töchter haben, sind Sie ruiniert.»

Dabei ist der Ursprung dieser Sitte ein harmloser. Mitgift, ursprünglich war das nur eine Ausstattung, die liebende Eltern ihrer Tochter mit in die Ehe gaben. Und manchmal fügten sie noch ein paar kleine Aufmerksamkeiten für die Schwiegerfamilie hinzu. Dieser Brauch uferte jedoch schrecklich aus. Heute geht es in zahllosen Fällen nicht mehr um Geschenke, sondern um Bestechungen, Strafzahlungen und Lösegeld. Wer seine Tochter unter die Haube bringen will, muß viel bieten: ein aufwendiges Hochzeitsfest sowieso, goldene Armbanduhren, einen Kühlschrank, ein Motorrad, Schmuck für die Schwiegermutter, Saris für alle Frauen der Schwiegerfamilie, einen Farbfernseher. Geschickte Familien warten bis kurz vor der Heirat, um ihre Forderungen noch zu erhöhen. Denn die Hochzeit kurzfristig abzusagen, wäre dem Brautvater so entsetzlich peinlich, daß er ja sagen muß. Einige ganz besonders gierige Menschen warten sogar bis nach der Hochzeit. Sie sehen in dem jungen Mädchen nicht so sehr eine Braut als vielmehr eine Geisel. «Sag deinem Vater, daß er uns ein Auto kaufen soll.» «Dein Vater hat uns einen billigen, schlechten Fernseher gekauft. Sag ihm, daß er ein besseres Gerät schenken soll.» Um die Forderungen zu untermauern, wird das Mädchen beschimpft, beleidigt, geschlagen. Sie wird auch bedroht. Dann ist das, was «Ehe» heißt, eigentlich Terrorismus. «Dein Vater soll endlich das Auto bezahlen, sonst …»

Manchmal verheimlicht das Mädchen ihren Eltern solche Drohungen, weil sie sich schämt, weil sie ihrer Familie nicht noch zusätzliche Kosten verursachen will oder weil sie weiß, daß ihr Vater sich das Auto sowieso nicht leisten könnte. Manchmal gibt sie die Forderungen weiter und erhält von ihren Eltern die knappe Auskunft, daß man nun wirklich schon genug in sie investiert habe und sie jetzt selber sehen müsse, wie sie zurechtkommt, wie sie ihre neue Familie durch Fleiß, Demut und vielleicht eine schnelle Schwangerschaft auch ohne weitere Zahlungen für sich gewinnen kann. Und manchmal, gar nicht so selten, endet dieser Konflikt, wie Geiseldramen eben manchmal enden: mit der Hinrichtung der Geisel.

Dies geschieht sogar derart häufig, daß die indische Polizei vom Gesetzgeber bereits einschlägig Weisung erhalten hat: Wenn eine indische Frau in den ersten sieben Jahren ihrer Ehe stirbt, ist die Polizei angewiesen, von einem Mord auszugehen und entsprechend nachzuforschen.

 

Wir beginnen unsere eigenen Nachforschungen auch bei der Polizei. Die indischen Polizeistationen sind heimelig. Unter lieben Pastellbildern von turtelnden Tauben und flauschigen Kätzchen sitzen die Beamten und blättern für uns, nachdem wir die entsprechenden Bewilligungen eingeholt haben, in ihren Ordnern. Ja, gestern nacht, ein Mordversuch, das Mädchen liegt in der Verbrennungsklinik. Oder hier, vor zwei Tagen, eine Strangulierung, es ging um einen Motorscooter.

Bei Shalina ging es um Geld. Der Pandit, das ist der brahmanische Geistliche, der die Ehe arrangiert hatte, beschrieb die Familie zwar als gutsituiert. Tatsächlich aber gab es viele Probleme. Dieser junge Mann sollte einen Job kriegen, jener sein Studium finanziert bekommen, dieser Teil vom Haus renoviert und jenes neue Geschäftsunterfangen der Familie mit Kapital ausgestattet werden. Shalina wurde, um diesen Forderungen Nachdruck zu verleihen, geschlagen. Tagelang bekam sie nichts zu essen. Das sollte sie ihrem Vater berichten, damit er Angst bekam um sie und zahlte. «Ich habe ihr angeboten, daß sie wieder heimkommen kann», sagt Herr Chhabra. «Aber sie war sehr tapfer. Sie wollte uns nicht in Verlegenheit bringen. Sie wollte nicht, daß ihre Schwestern ihretwegen Heiratsschwierigkeiten haben.»

Shalina ertrug es bis zum Schluß, um ihre Familie nicht durch eine Trennung zu blamieren. Der Schluß: Ihr Mann überschüttete sie mit einer Flasche Whisky und setzte dann ihren alkoholdurchtränkten Sari in Brand. Dann schloß er sie, brennend, in ihrem Zimmer ein, damit sie nicht auf die Straße laufen und Hilfe erhalten konnte. Ein Nachbar hörte sie jedoch schreien und polterte so lange an der Tür, bis man ihn hereinließ. Mit einer Decke löschte er die Flammen. Aber die Familie schaltete schnell. Sie packten Shalina ins Auto, und dann fuhren sie so lange mit ihr ziellos durch die Straßen, bis sie schwor, ihre Verbrennung als Selbstmord auszugeben. Erst dann durfte sie in ein Krankenhaus.

Bei der Einlieferung war sofort klar, daß Shalina keine Überlebenschance mehr hatte, zu hochgradig waren ihre Verbrennungen. Der Arzt, Freund eines engagierten Filmemachers, rief das Videoteam herbei. Und Shalina war schon jenseits ihrer lebenslangen Rücksicht, ihrer Angst vor Skandalen und einem schlechten Ruf. Sie konnte, mit ihren letzten Worten, die Wahrheit sagen.

Viel hat es nicht genützt. Eine «Aussage auf dem Sterbebett» ist zwar nach indischem Recht ein unwiderlegbares Beweisstück. Es gab auch Zeugen und Beweise für die vorangegangenen Mißhandlungen und Bedrohungen. Aber Verurteilungen gibt es in solchen Fällen selten. Brautverbrennung, das ist Alltag, eine Privatangelegenheit. «Alle Leute sagen mir, daß ich die Sache vergessen soll», sagt Herr Chhabra. «Sie sagen, daß ich mir bloß noch größere Probleme aufbürde, wenn ich einen Skandal mache. Daß sich dann niemand finden wird, der meine anderen Töchter nimmt. Aber ich muß doch versuchen, eine Verurteilung zu erreichen. Nicht nur für Shalina, auch für die Tausende anderer Mädchen, die sonst noch umgebracht werden. Ich habe selber vier Mädchen, ich vertrete die Väter von Töchtern.»

Uns tut Herr Chhabra leid. All die Väter, die wir treffen und die den Verlust einer Tochter beklagen, tun uns leid. Sie haben alle denselben Gesichtsausdruck: eine Art ratloses Unverständnis. Die meisten von ihnen sind Geschäftsmänner; bis jetzt haben sie über Bilanzen und Schrauben und Motoren nachgedacht, sich als indische Patriarchen und Familienoberhäupter wohl gefühlt, ihre Töchter geliebt und sie der Sitte und dem Brauch entsprechend an einen Ehemann abgegeben. Und nun sind diese Töchter tot, und all die Orientierungsgrößen, an die sie ein Leben lang geglaubt haben, geraten in Zweifel: die Justiz, die Politiker, die ganze Gesellschaft. Statt dessen stehen sie ganz plötzlich auf einer Seite, die ihnen wildfremd ist. Herr Chhabra kramt in seinem dicken Adreßbuch, um zwischen den Namen der Lieferanten und Speditionen und Autofirmen die Telefonnummer seiner neuen Bündnispartner für uns herauszusuchen: die Feministische Aktionsgruppe Gegen Mitgift, die Frauengruppe Saheli. Die Väter tun uns leid, obwohl ihr Anteil an den Tragödien so deutlich ist. Sie waren es, die diese Ehen arrangiert haben, oft gegen den Willen ihrer Töchter. Sie waren es, die der Tochter zu Langmut und Gehorsam rieten und sie zurückschickten zu ihren Peinigern. Noch heute dominieren sie das Geschehen, beantworten sie alle Fragen,...

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