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E-Book

Notizen über Besuche auf dem Land

Ein grauer Blick ins Grüne

AutorCheryl Benard, Edit Schlaffer
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl204 Seiten
ISBN9783688103423
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Dieses Buch erzählt von zwei Gemeinden. Die eine liegt im österreichischen Südburgenland, die andere in Bayern. Beide Orte wurden ausgewählt, weil die Autorinnen sie kannten, ein unübliches Auswahlkriterium für Sozialwissenschaftler, aber Cheryl Benard und Edit Schlaffer erschien es normal, daß man sich für Orte, Personen und Situationen interessiert, die man kennt. Das Leben in beiden Gemeinden spielt sich ab in Gesangsvereinen und Supermärkten, in Fabriken, Schulen und Altersheimen und wird bestimmt von Geldsorgen, Ärger mit Kollegen, Trinken mit Freunden, Träumen in der Gegenwart, Hoffnungen auf die Zukunft, Hausaufgaben und Schlagzeilen der Weltgeschichte, die man abends auf dem Sofa überfliegt. St. Anna im Burgenland ist arm. Die Frauen arbeiten zu Leichtlohntarifen in der nahe gelegenen Fabrik, die Männer pendeln in die nächste Stadt. Die Jugend findet keine Lehrstellen, die Familien betreiben nach Feierabend zusätzlich eine sich immer mehr reduzierende Landwirtschaft. Isarkirchen in Bayern ist reich, ist von einer bescheidenen Landgemeinde zu einem städtischen Vorort aufgeblüht mit Banken, Boutiquen und Industriebetrieben, angetrieben von hektischer Konsumorientierung und belastet von fehlender Integration. Unter dem forschenden und anteilnehmenden Blick der beiden Sozialwissenschaftlerinnen färbt sich das Grüne grau, ist die ländliche Idylle kaum mehr auszumachen.

Cheryl Benard wurde 1953 in New Orleans/USA geboren. Zusammen mit Edit Schlaffer leitete sie als Sozialwissenschaftlerin die «Ludwig-Boltzmann-Forschungsstelle für Politik und zwischenmenschliche Beziehungen» in Wien und gründete 1981 mit ihr die Menschenrechtsorganisation «Amnesty for Women».

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Leseprobe

Einleitung
Zwei Orte am Rande der Wohlstandsgesellschaft


Das folgende Buch handelt von zwei Orten. Einer liegt im Südburgenland, der andere in Bayern. Das Buch schildert das Leben in den Fabriken, Familien, Schulen und Altersheimen. Die beiden Orte wurden ausgewählt, weil wir sie kannten. Dieses Auswahlkriterium ist unüblich. Uns erleichterte es die Arbeit und die Gespräche. Es erscheint uns normal, daß man sich für Orte, Personen und Situationen interessiert, die man selbst kennt. Den Leuten, mit denen wir sprachen, erschien es auch normal.

Der eine Ort, den wir untersuchten, ist sehr arm. Immer schon wurde er überrollt von historischen Großereignissen, die meist in Form einer Katastrophe über das Dorf hereinbrachen. Man ist es gewohnt, hin und her geschoben zu werden. Die Türken belagerten das kleine Schloß. Die Russen vernichteten das Schwimmbad. Hitler ließ die Kirchenglocken, auf die man jahrelang gespart hatte, abholen und zu Kriegszwecken einschmelzen. Auch der Kaiser hatte das bereits einmal getan. Die Schule wurde erbaut, dann wurde sie geschlossen, weil der Ort an Ungarn fiel. Das Schulwesen wurde mühselig umgestellt. Kurz darauf kam der Ort wieder zu Österreich. Vor ein paar Jahren mußte die Obstgenossenschaft schließen, weil eine Konservenfabrik die Dose um einige Groschen weniger erzeugen kann. Bald wird die Hemdenfabrik schließen müssen, weil in Taiwan billiger gearbeitet wird. Noch billiger.

Dem anderen Ort geht es besser. Dafür wird es ihn aber vielleicht bald nicht mehr geben, weil München sukzessive seine Satellitenstädte schluckt. Inzwischen baut er auf. Sparkassen, Wohnhäuser, Geschäfte, Siedlungen. Fünfzehn Bauern regieren den Ort. Langsam werden ihre Höfe eingekreist von den Problemen der Großstadt. Minderheiten. Hochhäuser. Jugendbanden.

Zu diesen zwei Orten kommt eine kleine Verwirrung hinzu, die wir hier anmerken müssen. Es gibt die Orte und die Personen, die wir beschreiben. Die Beschreibung entspricht den tatsächlichen Verhältnissen, doch wurden Namen verändert, um die Schuldigen zu schützen, die über die Macht verfügen, den Unschuldigen Schwierigkeiten zu bereiten. Wenn Sie also glauben, sich und Ihren Ort wiederzuerkennen, dann haben Sie vielleicht recht, vielleicht auch nicht.

Die Situationen in beiden Orten zeigen die Schnittpunkte zwischen Einzelleben, Gemeinschaft und Weltgeschichte. Sie zeigen, wie der historische Zufall und die wirtschaftliche Gesetzmäßigkeit das individuelle Schicksal erzeugen und ihm dann noch den Anschein von Selbstverständlichkeit geben. Es ist schwierig, das im Auge zu behalten, wenn man die großen Linien von Ereignissen erfährt. 7000 Arbeitnehmer wurden gekündigt. Ein Arbeitsloser begeht Selbstmord. Eine Familie wird delogiert. Gemeldet wird nur ab einer bestimmten Zahl. Hundert Entlassungen sind noch nicht nachrichtenwürdig. Ein Nervenzusammenbruch ist noch keine Untersuchung wert.

Für die einzelnen sind Zufälle schwer einzuordnen. Würde der Ort St. Anna näher an einer Großtstadt liegen, ginge es ihm vielleicht eher so wie Isarkirchen. Der Ort St. Anna steht in gewisser Hinsicht auf verlorenem Posten. Es liegt nicht in der Macht der Bewohner, den Strömungen der Weltwirtschaft, die alle ihre Pläne ganz beiläufig wegschwemmen, zu entkommen. Jede Entscheidung ist falsch. Die Pläne gehen daneben. Die Rivalitäten zwischen den Parteien werden zwar von den meisten Politikern als destruktiv erkannt, trotzdem aber entscheiden diese Querelen über den Ausgang der Wahlen. Unpopuläre Entscheidungen, auch wenn sie langfristig wichtig wären, kosten die Kanidaten den Sieg. Daher baut man, statt in einen Betrieb zu investieren, eine Leichenhalle, weil der Nachbarort ein Marmorprunkstück dieser Bestimmung hat und die Bevölkerung ein Gegenstück fordert. Man hebt einen Teich aus, um Fremdenverkehr anzuziehen, weil der Nachbarort einen Badesee hat. Alle Verantwortlichen wissen, daß dieses Projekt dem Untergang geweiht ist, weil erstens der Wasserspiegel jährlich um beträchtliche Mengen sinkt und zweitens der Fremdenverkehr sich niemals hierher ins Abseits begeben wird. Die Leichenhalle hat drei Millionen Schilling gekostet. Die nächsten Vorhaben, Kanalisation und Müllabfuhr, werden auch in die Millionen gehen.

Ein kritischer Politiker meint dazu: Die Devise ist, recht viele Fremde sollen kommen. Aber bieten können wir ihnen nichts. Nicht einmal das Bad, das in der Planschbeckentiefe der Gründerzeit in Ortsmitte steht, wurde ausgebaut. Früher, sagt der Politiker, haben die Parteien nicht einmal miteinander geredet. Die Betriebe schließen, weil die Erben sich um die Aufteilung streiten, statt sich um Rationalisierungen zu kümmern. Das obrigkeitliche Denken, sagt er, ist sehr stark. Die Leute leben noch immer in fürstlichen Abhängigkeiten, nur jetzt halt ohne Fürst. Ein großes Problem sieht er im Bildungsdefizit der Leute.

Diese Art von Selbstgeißelung ist für die Einwohner des Ortes typisch. Selbstverschulden bietet sich als Erklärung für Armut an, sowohl in den einzelnen Familien als auch für den Ort in seiner Gesamtheit. Diese Bereitschaft ist sehr günstig. Die Politiker sind damit beschäftigt, die jeweils andere Partei im Kleinkrieg zu bekämpfen. Dabei geht es um die Kosten der Leichenhalle, nicht um die Monopolstellung der Fabrik. Die Arbeiter besaufen sich am Heimweg im Pendlerbus und werden von ihren Ehefrauen als Versager betrachtet. Sie selbst machen sich Sorgen über die Treue oder Untreue der Ehefrau während ihrer Abwesenheit. Wären sie nicht vollauf damit beschäftigt, würden sie sich vielleicht Gedanken über andere Dinge machen. Über die hoffnungslose Überlastung der Frauen in Fabrik, Hof und Haushalt. Über die Trennung der Familie. Über den Standpunkt der Gewerkschaft. Über die Lohnunterschiede. Über die Notwendigkeit, ihrer Arbeit nachzureisen.

Alle glauben statt dessen daran, daß sie für jedes Übel verantwortlich sind. Zugleich glauben sie, daß man bei den großen Fragen ohnehin nichts ändern kann. Diese Kombination von Selbstbeschuldigung und Resignation ist die konkrete Erscheinungsform der freien Selbstbestimmung der Moderne, auf die viele Philosophen besonders stolz sind. Wenn alles gutgeht, dann beweist das, daß es Fortschritt gibt. Wenn etwas schiefläuft, ist man selbst dafür verantwortlich, weil man falsch entschieden hat. Weil man unfähig ist. Weil man keine genügende Ausbildung besitzt.

Der Ort Isarkirchen glaubt, daß es in seinem Ermessen liegt, autonom zu bleiben, die richtige Kombination zwischen dem Wohlstand der modernen Welt und den Werten der Tradition zu finden. Er glaubt das, obwohl die Großstadt Jahr für Jahr näher rückt. Er glaubt das, obwohl schon die Sechsjährigen der ersten Volksschulklasse wissen, welcher Klasse sie angehören; welcher sozialen Klasse, nicht welcher Schulklasse. Es gibt eine Unterschicht. Am Spielplatz bleibt sie bereits unter sich. Wenn man Probleme anspricht, ist es den Leuten von Isarkirchen peinlich. Sie glauben, daß man ihren guten Willen in Frage stellt. Sie glauben nicht, daß breitere Entwicklungen ihre eigene Konsequenz haben, jenseits der Entscheidungsfreiheit rechtschaffener, wohlmeinender, gutgebildeter, vernünftiger und demokratisch gewählter Volksvertreter. Sie wollen nicht über Interessen sprechen, die im Gegensatz stehen, sondern nur über die Bereitschaft, alles zum Besten aller einzurichten. Hausaufgabenhilfe für Gastarbeiterkinder. Der Sozialstaat macht freundliche Gesten gegenüber den Schwächeren; sie werden ausgeführt von den Ehefrauen derjenigen guten Bürger, die es geschafft haben. Freiwillig und kostenlos. Man kann ja schließlich jene, die es nicht geschafft haben, nicht einfach auf der Strecke lassen; sonst steigen die Kriminalitätsstatistiken, und Isarkirchen ist ein friedliebender Ort; sonst fallen die Bodenpreise, und verwahrloste Siedlungen verunstalten die Umgebung.

Wir haben Gespräche mit Betroffenen und Verantwortlichen geführt, die wir im folgenden beschreiben. Unsere Kommentare sind Reaktionen darauf, sie enthalten auch Vermutungen über Zusammenhänge, Anmerkungen zu einschlägigen Theorien und die Wiedergabe von Situationen.

Die Entwicklungen sollen von zwei Perspektiven aus untersucht werden. Einerseits ergeben sich einschneidende Veränderungen in der Lebensgestaltung der einzelnen und der Familien sowie im Charakter der Gemeinden. Andererseits haben diese Veränderungen ihre Ursache in den globalen Entwicklungstendenzen auf der «Makro-Ebene», die von den Betroffenen meist nicht wahrgenommen werden können. In der Interpretation der Bürger ist die Armut in St. Anna auf die Inkompetenz einzelner Parteien oder Politiker, auf mangelnde Voraussicht bei der Planung, auf individuelles Scheitern von Familienvätern, auf die zu geringe Risikobereitschaft der Bevölkerung und auf den Zufall zurückzuführen; die Interessen, die hinter diesen «Fehl-Entscheidungen» stehen, sind für die Betroffenen meist undurchschaubar.

Seit seiner Funktion als Militärstützpunkt der ungarischen Macht im Jahre 1000 hatte St. Anna das Schicksal, als Randsiedlung die Konflikte und stürmischen Ereignisse, deren Zentren ganz woanders liegen, mittragen zu müssen. Ohne an den Entscheidungen und den Erträgen beteiligt zu sein, konnte es immer nur durch Anpassung an die jeweiligen Zeitströmungen überleben. Von der Türkenbelagerung über den Nationalsozialismus bis zu den Großkonzernen fand sich St. Anna immer wieder mit fremden Mächten konfrontiert, die alle Aufbau- und Autonomiebestrebungen regelmäßig wieder zerschlugen, um dem Ort ihren eigenen Stempel aufzudrücken. Die Bevölkerung gewöhnte sich im Lauf dieser Geschichte Flexibilität an: schon in der k.u.k. Monarchie arbeiteten die Männer als Pendler, als Telegrafenarbeiter führten bzw....

Blick ins Buch

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