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E-Book

Das Guantanamo-Tagebuch unzensiert

AutorMohamedou Ould Slahi
VerlagTropen
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl496 Seiten
ISBN9783608110487
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Der Spiegel-Bestseller jetzt verfilmt als »Der Mauretanier« mit Tahar Ramin, Jodie Foster und Benedict Cumberbatch. Todesdrohung, Gewaltanwendung, sexueller Missbrauch: Mohamedou Slahis Geständnis wurde unter Folter erpresst. Er galt jahrelang als einer der Hauptverdächtigen der Anschläge vom 11. September. Doch obwohl ein Gericht bereits 2010 seine Freilassung angeordnet hatte, blieb er bis zum Oktober 2016 inhaftiert. Sein ergreifender Bericht ist die bisher einzige bekannte Chronik eines Guantanamo-Gefangenen, die in der Haft verfasst wurde. Ein schockierend authentischer Bericht, der erstmals in der von US-Behörden unzensierten Fassung vorliegt. Slahis Gefangenschaft dokumentiert fast ein ganzes Jahrzehnt des amerikanischen »Kriegs gegen den Terror«. Donald Rumsfeld - mit der Akte »Slahi« vertraut - autorisierte die Behörden, den mutmaßlichen Al-Qaida- Verschwörer intensiven Verhören zu unterziehen - und nahm dabei auch Folterungen in Kauf. Im Jahr 2005 begann Slahi, seine Geschichte niederzuschreiben, doch erst zehn Jahre später konnten seine Anwälte eine Veröffentlichung seiner Aufzeichnungen in zensierter Form erwirken. Nach seiner Freilassung 2016 füllte Slahi die geschwärzten Stellen seines emotionalen, stets um Fairness bemühten Berichts über Entführungen und Folter durch Geheimdienste und Militärs und verleiht so seinen Mitgefangenen und Peinigern ein glaubwürdiges Profil, das von Machtmissbrauch und Menschlichkeit erzählt.

Mohamedou Ould Slahi, geboren 1970 in Mauretanien, studierte in Deutschland und arbeitete in Kanada. Bei seiner Rückkehr nach Mauretanien wurde er 2001 verhaftet und über Jordanien schließlich nach Guantanamo Bay, Kuba, verschleppt, wo er 14 Jahre lang inhaftiert war, ohne dass je eine offizielle Anklage gegen ihn erhoben wurde. Seit seiner Freilassung im Oktober 2016 lebt Slahi bei seiner Familie in Mauretanien. Herausgeber und Mitautor Larry Siems war langjähriger Direktor des »Freedom to Write«-Programms am PEN American Center. Seine journalistischen Arbeiten erschienen u. a. in der New York Times und der Los Angeles Times.

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Leseprobe

Jordanien – Afghanistan – GTMO


Juli 2002 bis Februar 2003


Das amerikanische Team übernimmt … Ankunft in Bagram … Von Bagram nach GTMO … GTMO, das neue Zuhause … Ein Tag im Paradies, der nächste in der Hölle

Flughafen Amman, 19. Juli 2002, 10 Uhr abends.1

Die Musik hatte aufgehört. Die Unterhaltungen der Wachen verstummten allmählich. Der Lastwagen leerte sich.

Ich fühlte mich allein in dem großen Leichenwagen.

Lange musste ich nicht warten: Ich spürte die Gegenwart anderer Menschen, ein schweigendes Team. Ich erinnere mich an kein einziges Wort von der Ankündigung, die dann folgte.

Jemand entfernte die Ketten von meinen Handgelenken. Er machte die eine Hand frei, ein anderer Typ packte und verbog sie, während eine dritte Person neue Ketten befestigte, die sicherer und schwerer waren. Meine Hände waren jetzt vor mir gefesselt.

Jemand riss mir meine Kleider mit einer Art Schere vom Körper. Was soll das jetzt um alles in der Welt?, dachte ich. Ich fing an, mir Sorgen zu machen wegen dieses Ausflugs, den ich weder wollte noch initiiert hatte. Irgendjemand traf über meinen Kopf hinweg sämtliche Entscheidungen. Ich hatte alle möglichen Sorgen, nur nicht die, eine Entscheidung treffen zu müssen. Mir schossen viele Gedanken durch den Kopf. Die zuversichtlicheren gingen in die Richtung: Vielleicht bist du in der Hand von Amerikanern, aber mach dir keine Gedanken, die wollen dich nur heimbringen und sicherstellen, dass alles geheim bleibt. Die weniger zuversichtlichen waren eher von der Art: Jetzt hast du es echt verbockt! Die Amerikaner haben es geschafft, dir irgendwelchen Mist anzuhängen, und jetzt stecken sie dich für den Rest deines Lebens in ein US-Gefängnis.

Ich wurde bis auf die Haut ausgezogen. Es war erniedrigend, doch wegen der Augenbinde blieb mir der scheußliche Anblick meines nackten Körpers erspart. Während der gesamten Prozedur war das einzige Gebet, das mir noch einfiel, das Notgebet Ya hayyu! Ya kayyum! O ewig Lebender, O Immerwährender …, das ich die ganze Zeit vor mich hinmurmelte. Jedes Mal, wenn ich in eine ähnliche Situation kam, vergaß ich all meine Gebete – nur nicht dieses Notgebet, das ich aus dem Leben unseres Propheten, Friede sei mit ihm, gelernt habe.

Einer aus dem Team wickelte eine Windel um meinen Intimbereich. Nun war ich wirklich ganz sicher, dass das Flugzeug in die USA flog. Ich fing jetzt an, mir gut zuzureden, dass »alles gut wird«. Meine einzige Sorge war jetzt nur noch, dass meine Familie mich im Fernsehen in einer derart entwürdigenden Situation sehen könnte. Ich war so dürr. Ich war schon immer dünn, aber nie derartig abgemagert: Meine normale Kleidung war so weit geworden, dass ich aussah wie eine kleine Katze in einer großen Tasche.

Als das US-Team damit fertig war, mir die Sachen anzuziehen, die man für mich angefertigt hatte, nahm mir jemand für einen Augenblick die Binde ab. Ich konnte nichts sehen, weil er die Taschenlampe direkt auf meine Augen richtete. Er steckte von Kopf bis Fuß in einer schwarzen Uniform. Dann öffnete er seinen Mund, streckte seine Zunge heraus und bedeutete mir, dasselbe zu tun, einfach Ah zu sagen wie beim Arzt, was ich befolgte. Ich sah ein Stück von seinem sehr hellhäutigen, mit blonden Härchen bewachsenen Arm, was meine Theorie bestätigte, dass ich mich in den Händen von Onkel Sam befand.

Die Augenbinde wurde heruntergezogen. Die ganze Zeit hörte ich laute Flugzeugmotoren; ich bin mir ziemlich sicher, dass einige Flugzeuge starteten und landeten. Ich hatte das Gefühl, mein »Spezial«-Flugzeug käme näher, oder der Lastwagen näherte sich dem Flugzeug, das weiß ich nicht mehr genau. Aber ich erinnere mich daran, dass zwischen dem Lastwagen und dem Aufgang zum Flugzeug kein Abstand war, als die Eskorte mich vom Lastwagen herunternahm. Ich war so erschöpft, krank und müde, dass ich nicht gehen konnte, meine Begleiter mussten mich die Stufen hinaufschleifen wie eine Leiche.

Im Flugzeug war es entsetzlich kalt. Ich wurde auf eine Liege gelegt; die Wachen fesselten mich, höchstwahrscheinlich am Boden. Ich fühlte, dass man eine Decke über mich legte: Sie war zwar dünn, aber es war eine nette Geste.

Ich entspannte mich und überließ mich meinen Träumen. Ich dachte an die einzelnen Mitglieder meiner Familie, die ich nie wiedersehen würde. Wie traurig sie sein würden! Ich weinte leise und ohne Tränen; aus irgendeinem Grund hatte ich all meine Tränen am Anfang der Expedition vergossen, als hätte ich da die Grenze zwischen Leben und Tod überschritten. Ich wünschte, ich hätte mich den Menschen gegenüber anständiger verhalten. Ich wünschte, ich wäre meiner Familie gegenüber gütiger gewesen. Jeden Fehler, den ich in meinem Leben begangen hatte, bedauerte ich, in meinem Verhältnis zu Gott, zu meiner Familie, zu allen Menschen!

Ich dachte über das Leben in einem amerikanischen Gefängnis nach; dachte an die Dokumentationen, die ich gesehen hatte, die Härte im Umgang mit den Gefangenen. Ich wünschte mir blind zu sein oder sonst irgendeine Art von Behinderung zu haben, dann würden sie mich von den übrigen Gefangenen isolieren, mich menschlich behandeln und mir Schutz gewähren. Ich überlegte, wie wohl die erste Anhörung durch einen Richter verlaufen würde. Habe ich eine Chance, in einem Land, das so viel Hass gegenüber Muslimen empfindet, ein faires Gerichtsverfahren zu bekommen? Oder bin ich schon verurteilt, bevor ich auch nur die Möglichkeit habe, mich zu verteidigen?

Unter der warmen Decke überfluteten mich die schmerzlichsten Träume. Immer wieder machte sich Harndrang bemerkbar. Die Windel nützte mir gar nichts: Ich konnte mein Gehirn nicht dazu überreden, meiner Blase das entscheidende Signal zu schicken. Je mehr ich mich bemühte, desto sturer wurde mein Gehirn. Die Wache neben mir schüttete mir aus einem Becher immer wieder Wasser in den Mund, was meine Lage noch verschlimmerte. Ich konnte mich dagegen nicht wehren – schluck oder erstick! Ständig auf einer Seite zu liegen machte mich völlig fertig, aber jeder Versuch, meine Position zu ändern, scheiterte, denn eine starke Hand drückte mich immer wieder zurück.

Ich hatte das Gefühl, das Flugzeug sei ein großer Jet, und nahm deshalb an, wir seien direkt in die USA unterwegs. Nach fünf Stunden verlor das Flugzeug dann jedoch an Höhe und landete sanft. Bis in die USA, das wusste ich, war es noch ein Stück weiter. Wo sind wir? In Ramstein, Deutschland? Ja! Das muss Ramstein sein: In Ramstein befindet sich ein amerikanischer Militärflughafen für Transitflugzeuge aus dem Nahen Osten; hier wird wahrscheinlich aufgetankt. Doch als das Flugzeug gelandet war, tauschten die Wachen die Metallketten gegen Plastikfesseln aus, die auf dem Weg zu einem Hubschrauber heftig in meine Handgelenke einschnitten. Während ich aus dem Flugzeug herausgezogen wurde, klopfte mir eine der Wachen auf die Schulter, als wollte er sagen: »Alles wird gut.« In meiner Qual vermittelte mir diese Geste die Hoffnung, dass unter den Leuten, die mich umgaben, immerhin auch einige menschliche Wesen waren.

Als ich die Sonne sah, fragte ich mich: Wo bin ich? Doch, das muss Deutschland sein: Es war Juli, da geht die Sonne früh auf. Aber warum Deutschland? Ich hatte doch in Deutschland nichts verbrochen! Was für einen Mist hängen sie mir an? Aber das deutsche Rechtssystem bot für mich sehr viel bessere Aussichten; ich kannte die Abläufe und beherrschte die Sprache. Außerdem ist das deutsche System vergleichsweise transparent, und es gibt nicht diese Verurteilungen zu zwei- bis dreihundert Jahren. Ich brauchte mir also keine Sorgen zu machen: Ich werde vor einen deutschen Richter gestellt, der mir darlegt, was die Regierung gegen mich vorzubringen hat, und dann werde ich für kurze Zeit in Untersuchungshaft kommen, bis mein Fall entschieden ist. Ich werde nicht gefoltert, und ich werde nicht in die fiesen Visagen von Vernehmungsbeamten blicken müssen.

Nach ungefähr zehn Minuten landete der Hubschrauber, und ich wurde in einen Lastwagen verfrachtet, rechts und links flankiert von Wachen. Der Fahrer und sein Nachbar unterhielten sich in einer Sprache, die ich noch nie gehört hatte. Ich dachte, was zum Geier reden die jetzt, womöglich Philippinisch? Ich vermutete das, weil ich weiß, dass die Amerikaner auf den Philippinen militärisch ziemlich präsent sind. Ja, natürlich, das mussten die Philippinen sein: Die machen mit den USA gemeinsame Sache und hängen mir irgendeinen Mist an. Was würde ich von ihrem Richter zu hören bekommen? Aber ich wollte jetzt eigentlich nur noch...

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