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E-Book

Das läuft schief in unserem Land

Ein Plädoyer für mehr Herz, Anstand und Verantwortung

AutorUlrich Meyer
Verlagriva Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783864137365
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Was ist bloß los in der Republik? Ulrich Meyer redet Klartext. Er blickt zurück auf die ganz persönlichen Erlebnisse seiner Kindheit und seiner Familie, die Geschichte unseres Landes und zieht den erschütternden Vergleich zum Hier und Heute: Es liegt vieles im Argen - zu viel. Arbeitgeber, die ihre Mitarbeiter ausquetschen wie Zitronen; Banker, die Milliarden verzocken und ihre Kunden beim Dispo über den Tisch ziehen; Beamte, die nicht viel mehr beherrschen als das Wort 'Nein', und Politiker, die nur an ihren zukünftigen Job in der Wirtschaft denken. Aber auch: Handwerker, die überteuert, aber schlecht arbeiten; Hartz IV-Empfänger, die vom Sozial-Betrug leben; und der Nachbar, der sein Heil im Nervenkrieg am Gartenzaun sucht. Raffzähne, Abzocker, Egoisten überall - die Liste der Dinge, die in unserem Land schief laufen, ist lang - Ulrich Meyer kennt sie wie kaum ein anderer. Seit 20 Jahren kämpft der Journalist und akte-Moderator für mehr Herz, Anstand und Verantwortung. Jetzt zieht er schonungslos Bilanz. Ulrich Meyer so persönlich wie noch nie. Kenntnisreich und amüsant. Mutig und auf den Punkt.

Ulrich Meyer, Jahrgang 1955, ist engagierter und kritischer Journalist und Fernsehmoderator. Ein Schwerpunkt seiner Tätigkeit: die SAT.1-Sendung akte mit weit über 100 000 Zuschriften in 20 Jahren; mit den Sorgen und Problemen der Zuschauer, mit ihren Klagen über Missstände. Ulrich Meyer, Jahrgang 1955, ist engagierter und kritischer Journalist und Fernsehmoderator. Ein Schwerpunkt seiner Tätigkeit: die SAT.1-Sendung 'akte' - mit weit über 180 000 Zuschriften in 20 Jahren, mit den Sorgen und Problemen der Zuschauer, mit ihren Klagen über Missstände.

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Leseprobe

Arbeitswelt:
Von fürsorglichen Patriarchen und Lohnprellern


1. War früher wirklich alles besser?


Für meinen Vater hat der Zweite Weltkrieg zehn Jahre gedauert: Erst 1949 kam er aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück, da war er 29. In jenen Tagen war das ein durchaus typisches Schicksal. Er nahm das unterbrochene Studium wieder auf, lernte in einem Zugabteil von Osnabrück nach Melle durch Zufall eine junge, hübsche Dame kennen, sagte ihr schon beim Aussteigen: »Ich werde Sie heiraten« und gründete tatsächlich bald eine Familie mit ihr, meiner Mutter. Davon hatte er schon in dem Lager in Sibirien geträumt: Er wollte endlich sein Leben leben und sein Kriegstrauma bekämpfen.

Mein Vater verkaufte Büromaschinen, erst als Selbstständiger, dann als Angestellter einer amerikanischen Firma. Das war damals ziemlich ungewöhnlich, die meisten Väter hatten deutsche Chefs. Aber dadurch wurden mein Bruder und ich sehr früh mit den kulturellen Unterschieden zwischen Amerika und Deutschland konfrontiert und lernten amerikanische Eigenarten kennen, die uns schwer beeindruckten. Dass es tatsächlich Menschen geben sollte, die zum Mittagessen Coca-Cola tranken, konnten anfangs weder mein irritierter Vater noch wir zu Hause fassen. Oft lamentierte er darüber, wie wenig die Amerikaner den deutschen Markt verstünden und einfach nicht einsehen wollten, dass seine Kunden auf Produkte Wert legten, die einwandfrei und für ewige Zeiten funktionierten. Dass man das auch anders sehen konnte, machte ihn ratlos.

Der Arbeitgeber unseres Vaters war für uns kaum greifbar, allein schon wegen der enormen Distanz, die uns immer auch ein bisschen träumen ließ: Der Stammsitz des Unternehmens lag an der amerikanischen Westküste. Ich sehe noch den Eintrag im Notizbuch meines Vaters vor mir, seine akkurate Handschrift, in der er mit seinem Füllfederhalter Adresse und Telefonnummer des Headquarters notiert hatte: San Leandro, Kalifornien. Damals war das von Köln mehr als eine Weltreise entfernt. Der Arbeitgeber unseres Vaters blieb also unsichtbar, wir wussten zwar um seine Existenz, bekamen ihn aber nie zu Gesicht. Erst Jahrzehnte später bin ich dort einmal vorbeigekommen und dachte an dem Ortsschild: Hier ist das also … San Leandro … Wahnsinn …

Mein Onkel Ulrich machte derweil ganz andere Erfahrungen. Er arbeitete als Journalist bei einer Zeitung, die von der Neuen Osnabrücker Zeitung übernommen worden war. Wenn ich mit ihm durch »seine« westfälische Stadt ging, eröffnete sich mir eine faszinierende Welt. Er war bekannt wie ein bunter Hund, und die Menschen vertrauten ihm, dem erstklassigen, engagierten Lokaljournalisten, der mir zu jedem Gesicht eine Geschichte erzählen konnte: Weißt du, was der Bürgermeister den ganzen Tag macht? Was der da vorne mal gewonnen hat? Und der da hinten für einen Sport treibt?

Doch dann wurde der nette Onkel Ulrich gegen Ende der 60er Jahre plötzlich arbeitslos, aus heiterem Himmel, wie es schien. Er war das unschuldige Opfer eines Aufkaufs, wodurch gleich mehrere verdiente Mitarbeiter – aus Gründen, die mit ihnen persönlich erst einmal nichts zu tun hatten – gemäß Sozialplan auf die Straße gesetzt wurden. Diese Ungerechtigkeit und die damit verbundene Demütigung hinterließen nicht nur bei Onkel Ulrich, sondern in der ganzen Familie ein bitteres Gefühl. Das war fies, das war neu, das kannte man von deutschen Arbeitgebern bis dahin noch nicht. Bis zu diesem Zeitpunkt waren alle auf der Wirtschaftswunderwelle gesurft, alle in eine Richtung: kraftvoll aufwärts. Die erste schwere Rezession von 1966 war eine Zäsur in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik und veränderte das bis dahin fruchtbare Zusammenspiel zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die viel und gerne gerühmte »Sozialpartnerschaft«, für immer.

Der westdeutsche Nachkriegsunternehmer war in den meisten Fällen ja keine Gesellschaft, sondern ein real existierender Mensch, der väterliche Eigentümer, der sich fürsorglich um die Schicksalsgemeinschaft seines Betriebes kümmerte. Denn so wurde das tatsächlich empfunden, als Schicksalsgemeinschaft. Der Arbeitgeber beeinflusste das eigene Leben so stark, dass man ihm allein schon deshalb Glück und Erfolg wünschte, weil man wusste, dass der eigene Erfolg und das eigene Glück – und das seiner Familie – davon abhingen. An dieser logischen Grundkonstellation hat sich bis heute nichts geändert, an dem Gefühl der Gemeinschaft und des Miteinanders schon.

Die Idee der Chefs war damals: Der Arbeitnehmer sollte gerecht behandelt werden, er und seine Familie sollten sich wohlfühlen. Es gab Werkswohnungen und Werkssiedlungen, Urlaubs- und Weihnachtsgeld und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. So wurde der Bevölkerung die Soziale Marktwirtschaft schmackhaft gemacht. Der Kapitalismus mit Herz schien nur Gewinner zu kennen und sollte neidische Blicke gen Osten, wo man sich im real existierenden Sozialismus versuchte, erst gar nicht aufkommen lassen. Die Gegenleistung für das soziale Verhalten des Unternehmers, die garantierte Stabilität des Arbeitsplatzes und faire Löhne, waren tief empfundene Loyalität und voller Arbeitseinsatz. Ein Versprechen auf Gegenseitigkeit, ein Schwur, auf den man sich unbedingt verlassen konnte und der den Betriebsfrieden langfristig sicherte.

Im Grunde arbeiteten auch die Arbeitnehmer in der Privatwirtschaft lange Zeit mit dem Bewusstsein von Beamten: Hier bleiben wir bis zur Rente. Warum auch wechseln? Gebrochene Arbeitsbiografien gab es praktisch nicht, im Regelfall wurden die verdienten Kollegen nach vielen Jahrzehnten der Treue mit Handschlag und einem Blumenstrauß oder sogar einer goldenen Uhr in den Ruhestand verabschiedet. Das Unternehmen brachte einem bei, was man können musste, notwendige Fortbildungen wurden vom Arbeitgeber organisiert, die Gewerkschaften sorgten dafür, dass alles in einem ordentlichen Rahmen ablief und niemand vergessen wurde.

Das war mehr als nur der Gründungsmythos der jungen neuen Bundesrepublik. Das war tatsächlich ein identitätsstiftender Faktor für das arg gebeutelte Land nach den Schrecken der Naziherrschaft und des verheerenden Krieges. In meiner Heimatstadt Köln liefen die Arbeiter aus den Ford-Werken selbst nach Schichtende und am Wochenende noch stolz mit ihrer blauen Ford-Pflaume am Hemd durch die Stadt. Sie wollten zeigen, zu wem sie gehören, wollten sich von der Masse abheben. Selbst in den damals schon hoch industrialisierten Großbetrieben gab es kaum ein Gefühl von Entfremdung, dafür aber jede Menge aufrichtig empfundenen Werkstolz. Das ging natürlich nicht nur den Ford-Arbeitern so. Im ganzen Land nannten sich die Arbeiter nach ihren Arbeitgebern: Es gab die stolzen Kruppianer, die nicht minder stolzen Siemensianer und so weiter …

Was Werkstolz für Arbeitnehmer bedeuten kann, hatte mir meine Mutter schon sehr früh an einem persönlichen Beispiel erklärt: Ihr Vater, mein Opa, war Prokurist einer Baufirma in Melle, damals noch Kreisstadt bei Osnabrück. An den Wochenenden liebte er es, meiner damals 16-jährigen Mutter voller Begeisterung und unermüdlichem Eifer »seine« Baustellen zu zeigen und zu erklären, was da Großartiges entstehen würde. Was meine Mutter schon aufgrund ihres Alters wohl nur halb so interessant gefunden haben dürfte wie er selbst.

Stellenweise war es in der jungen Bundesrepublik tatsächlich gelungen, dieses Geborgenheitsgefühl des starken und vorbildlichen deutschen Mittelstands auf die Großindustrie zu übertragen. In kleineren patriarchalischen Betrieben und Handwerkskreisen war – und ist – der Zusammenhalt ja grundsätzlich stärker und kaum Entfremdung von der eigenen Arbeit auszumachen. So entstehen belastungsfähige soziale Gefüge, so entstehen gesunde, positive Arbeitsverhältnisse. So entstehen gemeinsamer Stolz und ein Gefühl des Miteinanders. Eine Basis, auf der man auch Krisen besser und menschlicher abfedern kann.

Die starke Identifikation mit dem Betrieb und das damit einhergehende faire Miteinander waren entscheidende Faktoren beim Aufbau der sogenannten Deutschland AG, von der man viele Jahre lang bewundernd sprach. Umso stärker war der Schock der 66er-Rezession, umso nachhaltiger waren die Wellen, die in der Folge das Land erschütterten. Der Traum vom ewigen Aufschwung und von Vollbeschäftigung war vorbei. Plötzlich wurden laufend Menschen »freigesetzt«, wie es beschönigend hieß, Arbeitslosigkeit wurde zur permanenten Bedrohung, alles geriet ins Stocken. In nur wenigen Jahren vom Vorbild für die Welt zum kranken Mann von Europa – die Geschwindigkeit, mit der sich der ökonomische Wandel vollzog, war atemberaubend. Auf einmal wurde Deutschland zu einem ganz normalen Land mit ganz normalen Unternehmen und ganz normaler Arbeitslosigkeit. Und mit einer ganz neuen Sicht auf die Arbeitgeber.

2. Willkommen in der Realität!


Es mag ihn hier und da noch geben, den fürsorglichen Unternehmer, den verantwortungsbewussten Patriarchen, der die soziale Verantwortung für seine Schutzbefohlenen ernst nimmt und genau so wichtig findet wie das Erreichen angemessener ökonomischer Ziele. Doch selbst ohne übertriebene Sentimentalität lässt sich eindeutig festhalten: Dieser Typus ist mittlerweile die absolute Ausnahme.

Aus den Personenunternehmen der Nachkriegszeit wurden schnell Kapitalgesellschaften mit angestellten Managern – das war die erste Stufe des Wandels. Die nächste: der Auftritt ausländischer Investoren im ganz großen Stil. Als Kuwait Anteile von Daimler Benz aufkaufte, sorgte das noch bundesweit für Schlagzeilen: Arabisches Geld trifft auf schwäbische Mentalität – wie soll das gehen, fragten...

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