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E-Book

Das Spiel ist aus

Geschichten über das Verlieren

AutorHolger Gertz
VerlagDeutsche Verlags-Anstalt
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783641196011
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Hier geht es einmal nicht um die Sieger
Der Verlierer ist spannender als der Gewinner, er muss darüber nachdenken, was die Niederlage mit ihm macht. Und er ist uns näher, wir erkennen uns leichter in ihm wieder als im strahlenden Sieger. Holger Gertz, Autor der Süddeutschen Zeitung, beschäftigt sich in seinen Reportagen, Porträts und Essays oft mit Verlierern und Verlorenen. Ob der tragische 54er-Weltmeister Werner Kohlmeyer, die Bayern nach dem verlorenen »Finale dahoam«, der Doping-Betrüger Lance Armstrong oder der in Deutschland inzwischen so geschmähte Boris Becker - es ist vor allem die genaue Beobachtung des Geschlagenen, die die Texte zu einem Erlebnis macht. Gertz fällt nicht über den Verlierer her, verklärt ihn aber auch nicht zur tragischen Gestalt. Er nähert sich behutsam, bringt Details zum Sprechen, ignoriert das scheinbar Offensichtliche und holt ihn von der Showbühne ins Leben zurück.

Holger Gertz, 1968 in Oldenburg geboren, schreibt seit fünfzehn Jahren für die Süddeutsche Zeitung, vor allem als Reporter der Seite Drei, als Kolumnenautor und als Tatort-Kritiker. Er berichtet von den großen Sportereignissen und zeichnet feinsinnige Porträts, etwa von Udo Jürgens, Egon Bahr oder Franz Beckenbauer. Für seine Reportagen wurde er vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Axel-Springer-Preis, dem Georg-Schreiber-Preis sowie (als Teil des Streiflicht-Teams) dem Deutschen Sprachpreis und dem Henri-Nannen-Preis. 2010 war er Reporter des Jahres.

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Leseprobe

VOR DEM SPIEL

Meine Verlierer – Vom Glück, dass ein Leben länger dauert als neunzig Minuten

Im Rückblick zerfällt jedes Ereignis in tausend Einzelbilder, und natürlich erinnert sich jeder an etwas anderes, wenn er gefragt wird: Weißt du noch? Wenn ich mich ans Weltmeisterschaftsfinale 2014 erinnere, das große Spiel zwischen Deutschland und Argentinien, erinnere ich mich zuerst an den Geruch von Schweiß und Rauch auf der Pressetribüne des Maracanã-Stadions von Rio de Janeiro. Das Internet war down, ohne Internet würde keiner der Reporter seine Berichte senden können. Ein Schockmoment. Die Reporter schwitzten, sie rauchten ihre letzten Turnierzigaretten, obwohl die Fifa die Raucherei verbietet. Aber egal. Das Internet ging nicht, und das ist meine erste Erinnerung: wie wir auf der Pressetribüne alle Verlierer waren, Ausgelieferte.

Irgendwann hatten wir dann ein Netz, schwach, aber stabil. Das Spiel lief, ich sah es aus der zweigeteilten Arbeitsposition des Reporters, halbe Aufmerksamkeit auf dem Platz, halbe Aufmerksamkeit beim Text. Wenn man live schreiben muss, legt man sich innerlich irgendwann auf einen Sieger fest, man versucht zu erahnen, wie das Spiel ausgeht, und an dieser Ahnung tackert man den Verlauf der eigenen Story fest. Weil meine Geschichte, während sie entstand, eine Tendenz in Richtung des Weltmeisters Deutschland entwickelte, war ich kein bisschen euphorisch, aber komplett erleichtert, als Mario Götze die Vorlage von André Schürrle tatsächlich annahm und ins Tor zwirbelte. Wir Pressemenschen saßen etwas links vom Mittelkreis, die entscheidende Szene vor dem Tor der Argentinier sahen wir aus der Distanz. Aber das Netz, wie es sich bauschte, sahen wir sehr deutlich. Wenigstens mit dem inneren Auge der Phantasie.

Dann war das Spiel vorbei, ich schickte die Geschichte in die Redaktion und stand von meinem Platz auf, weil alle standen, und weil man stehen muss, wenn man gerade Fußballweltmeister geworden ist. Die Stadionregie spielte irgendwas von Calvin Harris, scheußliche Gebrauchsmusik als Soundtrack eines historischen Moments. Auf dem Rasen lachten die Deutschen, umarmten sich, wurden zum Knäuel aus kleinen, großen Jungs. Sie waren jetzt alle in der Nähe des Mittelkreises, deshalb konnte ich sie von meinem Platz aus gut sehen. Und dann verdichtete sich ein Bild zu einem Moment, der bleibt und bleiben wird, und den ich immer nenne, wenn einer fragt: Weißt du noch? Ich sah Miroslav Klose.

Er saß auf dem Rasen, das Getümmel um ihn herum berührte ihn für den Moment nicht, die johlenden Deutschen, die weinenden Argentinier, die Wichtigtuer von der Fifa mit den Akkreditierungsmarken vorm Bauch. Er saß auf dem Rasen, Miroslav Klose, ein dünner Mann, sechsunddreißig Jahre, eigentlich zu alt, eigentlich zu oft verletzt, eigentlich zu spät dran. Einer von denen in der deutschen Mannschaft, die einen großen Titel immer knapp verpasst hatten. Verlorene Generation, schreiben dann die, die wie ich immer nur auf der Tribüne sitzen. Ein Schlagwort. Ein Urteil. Früher konnte einer, der nichts Großes gewann, trotzdem zur Legende werden, Uwe Seeler zum Beispiel. Heute ist einer, der nichts Großes gewinnt, am Ende eben doch ein Verlierer.

Ein Verlierer, oder ein Unterschätzter, der sich auf den allerletzten Metern und im allerletzten Länderspiel in einen Gewinner verwandelt und sich von vielem befreit, was in ihm frisst und nagt. So was muss wie ein Traum sein.

Weltmeister Klose. Ich erinnere mich, dass ich in Gedanken dieses Begriffspaar aufsagte, es schien noch nicht richtig zusammenzupassen. Weltmeister Klose saß auf dem Rasen. Er stützte sein Gesicht in beide Hände und betrachtete das Gras. Er schüttelte den Kopf. Er glaubte nicht, was passiert war. Er war, auf eine sehr stille Art, fassungslos.

Sie hätten, ihm zu Ehren, Jimmy Cliff spielen sollen in diesem Stadion: »You can get it if you really want«. Das wäre sein Lied gewesen.

Ich hatte Miroslav Klose bei der Weltmeisterschaft 2002 zum ersten Mal länger gesprochen, es war seine erste WM und auch meine. Er verlor im Finale. Mir wurde ein Aufnahmegerät geklaut. Danach folgte ich seinen Spuren und sprach mit ihm bei mehreren großen Turnieren. Bei der Weltmeisterschaft in Südafrika 2010 – er verlor im Halbfinale – traf ich ihn im Mannschaftsquartier in Pretoria, danach gelang mir ein recht federnder Einstieg zu einer Klose-Geschichte. »Es ist nicht leicht, Miroslav Klose zu verstehen, er spricht so leise, dass man ihn sich gerne ans Ohr halten würde.« Ich näherte mich ihm auch bei geringfügigeren Anlässen. Wenn es für Werder Bremen um etwas ging, fragte ich gern Klose. Werder ist mein Lieblingsverein. Einmal saß ich mit Klose in einem Restaurant beim Weserstadion, Café Ambiente, Tisch 36, eine Nische gleich rechts hinterm Eingang. Der Laden war voll, die anderen schauten zu ihm rüber, aber keiner wollte ein Autogramm, und Klose sagte: »Ich bin so oft hier – die haben bestimmt alle schon eins.« Er war Ende zwanzig damals, ungefähr zu der Zeit hat er damit angefangen, sich nach Spielen in eine Eiswanne zu legen, kleine Faserrisse in der Muskulatur werden dadurch angeblich nicht zu größeren Faserrissen.

Wie lange kann ein Stürmer versuchen, das Schicksal zu drehen? Wenn es gut läuft, bis zweiunddreißig, dreiunddreißig. Klose legte sich in die Wanne, um die Karriere um ein paar Jahre zu dehnen, er kalkulierte ein paar Hoffnungsläufe ein, er hat schon früh damit angefangen, seine Weltmeisterschaft zu gewinnen, die anderen bekamen davon nur nichts mit.

Er spielte nie in der Jugendnationalmannschaft, er war nicht in den tollen Internaten, die es inzwischen gibt. Er hat nicht viel gewonnen, seine Klubs Kaiserslautern und Bremen waren keine Siegerteams. Die Zeit bei Bayern München war ergiebiger, aber 2011 reichten sie ihn weiter, zu Lazio Rom, ablösefrei. Die Bayern haben ihn verschenkt. Seine Laufbahn wurde beschienen von der milden Sonne des Nachsommers. Aber in der Nationalmannschaft wurde er gebraucht, er fuhr als einziger echter Stürmer mit nach Brasilien zur WM 2014. Und rettete die Deutschen im Spiel gegen Ghana. Und wurde Rekordschütze aller WM-Stürmer, besser als Pelé, Gerd Müller, besser als Ronaldo. Und wurde Weltmeister.

Weltmeister Klose. So können Verlierergeschichten enden. In der schönsten aller Pointen.

In der englischen Popkultur gibt es eine Art ungeschriebenes Gesetz: Eine Band wird uninteressant, wenn sie Erfolg hat. Auch mich haben Verlierer immer mehr interessiert als Gewinner, nicht nur, wenn ich von Sportereignissen berichtet habe. Faszinierend zu sehen, wie der gerade abgewählte Bundeskanzler Schröder 2005 in der sogenannten Elefantenrunde rumpöbelte, weil er die Niederlage gegen Angela Merkel nicht ertrug. Etwas gerät außer Kontrolle, wenn einer verliert, und das zu beschreiben ist spannender, als zu versuchen, für den Triumph immer neue Begriffe zu finden, was eh nie hinhaut. Bilder eines Siegers sind stärker als Texte über einen Sieg. Pat Conroy schreibt in seinem Buch My losing season: »Verlieren ist ein finsterer, kompromissloser Lehrer. Kaltblütig, aber auch klarsichtig in seinem Verständnis, dass das Leben oft mehr Verhängnis als Spiel ist.« Während der Sieg das herrliche Ende einer Geschichte ist, kann die Geschichte des Verlierers in Gedanken weitergesponnen und -erzählt werden. Wie fühlt der sich jetzt? Diese Frage stelle ich mir nicht, wenn ich einen sehe, der sich ans Triumphieren gewöhnt hat. Diese Frage stelle ich mir, wenn einer am Rand so eines Kampfplatzes steht und sich auf die Lippe beißt, damit er nicht anfangen muss zu heulen.

Als Journalist muss man manchmal an Orte, an denen Trost nicht günstig zu kriegen ist. Die holländische Stadt Enschede nach der Explosion einer Feuerwerksfabrik, das österreichische Amstetten, nachdem der Wahnsinn in der Familie Fritzl entdeckt worden war. Man nähert sich bei solchem Anlass Menschen, die im Schock sind, oder in Trauer, und es ist immer ein unangenehmes Gefühl, weil man spürt, dass man übergriffig zu werden beginnt. Allein dadurch, dass man da ist. Was beim Sport geschieht, ist verwandt mit solchen existenziellen Momenten, aber es ist doch harmloser, in der Regel stirbt ja keiner im Stadion. Man hat es mit Verlierern zu tun, die deswegen nicht Verlorene sein müssen. Man kann sie beschreiben, ohne sich wie ein schnüffliger Voyeur vorzukommen. Wer Sportler bei großen Wettbewerben betrachtet, schaut in wahrhaftige Abgründe hinein, aber oft gibt es nach einer Niederlage auch die Aussicht auf einen Twist, eine Wendung. Ein Verlierer, der Gewinner geworden ist nach tausend Niederlagen, hat eine größere Tiefe als einer, dem immer alles zufällt.

Ich bin selbst keiner von denen, die zu den großen Checkern und Preisabräumern und Menschenfängern gehören, schon gar nicht zu den großen Sportlern. Ich habe in meiner Jugend ein paar Jahre beim VfB Oldenburg Fußball gespielt, in der Abwehr, ich hatte einen guten Blick für die Situation, aber ich war zu langsam. Mein Trainer sagte: »In den Fünfzigern wärst du ein Großer geworden«, was vielleicht ein Trost sein sollte, sich aber wie das Gegenteil anfühlte. Ich habe nicht nur in dieser kurzen aktiven Fußballzeit öfter verloren als gewonnen, ich fühle mich solidarisch mit dem, der verliert, er geht mir nahe. Ich bestaune die wie aus schwerem Stein geschlagenen Körper der Schwimmer, wie man sie bei Olympischen Spielen sieht. Aber ich werde berührt von Figuren wie der des Schauspielers Philip Seymour Hoffman, der in der Komödie Jack goes boating einen verschlossenen...

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