2Familie und Bindung
Die verbindenden Beziehungen innerhalb der Familie sowie die Art und Weise, wie wir als Säuglinge und Kleinstkinder mit unseren Bedürfnissen nach Fürsorge, Geborgenheit und Sicherheit wahr- und ernst genommen werden, wie unsere Eltern als »sichere Basis« und »sicherer Hafen« unsere Entwicklung begleiten, nimmt maßgeblich Einfluss auf die Art und Weise, wie wir später als Erwachsene uns selbst und die anderen konzeptualisieren.
Im Zusammenhang mit der Arbeit bei Familienrekonstruktionen stellen sich mir unter anderem folgende Fragen:
•Inwiefern tragen Bindungserfahrungen in der Herkunftsfamilie zu hilfreichen, unterstützenden Bewältigungsstrategien bei?
•In welchem Zusammenhang stehen frühkindliche Bindungserfahrungen und Traumata?
•Wie kann das Konzept der Mentalisierung dazu beitragen, die Entwicklung eines »autonomen Selbst« zu beschreiben?
•Inwieweit kann eine frühe Erfahrung von »sicherer Bindung« als Resilienzfaktor bei der Überwindung traumatischer Ereignisse angesehen werden?
•Welche Bedeutung kann den im Nationalsozialismus verbreiteten bindungsfeindlichen Erziehungsmethoden im Kontext familiärer Beziehungen beigemessen werden?
Es soll hier also nicht darum gehen, das gesamte bindungstheoretische Konzept aufzugreifen, sondern es geht vielmehr um einen für das Thema relevanten Ausschnitt.
2.1 Allgemeines zur Bindungstheorie
In ihrem Lehr- und Einführungstext Die Sprache der Familientherapie (1984) beziehen sich Simon und Stierlin unter dem Stichwort »Bindung« vor allem auf psychoanalytische Konzepte. Dort seien vor allem drei Bindungsrepräsentanzen unterschieden:
»In Anlehnung an psychoanalytische Vorstellungen lassen sich drei Ebenen der Bindung unterscheiden. Auf der ersten, mehr affektiven dieser Ebenen wird überwiegend das Bedürfnis nach elementarer Triebbefriedigung und Abhängigkeit angesprochen bzw. ausgebeutet. Es lässt sich von Es-Bindung sprechen. Auf der zweiten Bindungsebene spielen hauptsächlich kognitive Prozesse eine Rolle: Es lässt sich von Ich-Bindung sprechen. Auf der dritten Ebene schließlich wird die Loyalitätsbereitschaft des Gebundenen ausgenutzt, wir reden von Überich-Bindung (Stierlin 1974)« (ebd., S. 48).
Bowlby (2007, S. 21) widerstrebt eine Definition, die Begriffe wie »Abhängigkeit« oder »Abhängigkeitsbedürfnis« enthält. Er definiert Bindung »als natürliches, vom Nahrungs- und Sexualtrieb abzugrenzendes ›Überlebensmuster‹«.
Die Frage, wann bindungstheoretische Erkenntnisse und die Bedeutung von Emotionen auch in der systemischen Therapie mehr Gewicht erhielten, lässt sich nicht wirklich beantworten. Von Schlippe und Schweitzer (2012, S. 64) verorten diese Entwicklung in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre und sprechen von einer »emotionalen Wende« in der systemischen Therapie. Neben neueren Erkenntnissen zu mimischen Signalen und affektiver Kommunikation sei es vor allem die Bindungstheorie, aus der zahlreiche Impulse für die systemische Arbeit entstanden seien. Es entwickelten sich nicht nur eigene systemisch orientierte Therapiekonzepte wie die mentalisierungsbasierte Familientherapie (Mentalization-based therapeutic interventions for families, Asen a. Fonagy 2011). Bindungstheoretische Aspekte und emotional affektive Kommunikationsformen werden in der systemischen Arbeit als wesentliche Bestandteile zwischenmenschlicher Interaktion wahrgenommen und in der Arbeit genutzt.
Die Entstehung und Entwicklung einer Bindungstheorie sowie die Forschungsergebnisse zu entsprechendem Bindungsverhalten, wie sie von Bowlby und Ainsworth erforscht und beschrieben wurden, sind in vielfacher Weise ausführlich dokumentiert und dargelegt (vgl. u. a. Grossmann u. Grossmann 2003; Spangler u. Zimmermann 1995; Gloger-Tippelt 2001).
Bevor ich auf einzelne Aspekte unterschiedlicher Bindungsmuster und ihre Bedeutung für die spätere Entwicklung eingehe, stelle ich (in aller Kürze) grundlegende Vorannahmen vor:
•Bindungsverhalten ist keineswegs auf Säuglinge und Kleinstkinder beschränkt, sondern begleitet den Menschen von der Geburt bis in den Tod.
•Das Kind entwickelt über das Bindungsverhalten und die Reaktionen seiner unmittelbaren Umgebung (das sind primär in der Regel die Eltern und andere Familienmitglieder) innere Arbeitsmodelle von Bindung und Beziehungen.
•Die wichtigste Funktion dieser Arbeitsmodelle in der Entwicklung besteht darin, zukünftige Ereignisse gedanklich vorwegzunehmen und eigenes Verhalten vorausschauend planen zu können. In diesen Arbeitsmodellen sind sowohl affektive als auch kognitive Komponenten enthalten. Darüber hinaus entwickeln sich – analog zu der jeweiligen Ausprägung der Arbeitsmodelle – eine entsprechende Sprache, Mimik, Gestik usw.
»Das einjährige Kind setzt sein Arbeitsmodell direkt in seine Bindungsstrategie und damit in Verhalten um, das sechsjährige Kind verschlüsselt sein Arbeitsmodell bereits in die Art des Dialoges, den es mit der Mutter führt. Beim Erwachsenen lässt sich das Arbeitsmodell am besten daran erkennen, wie er über bindungsrelevante Themen spricht, wenn er aufgefordert wird, sich an seine Bindungserfahrungen zu erinnern« (Fremmer-Bombik 1995, S. 113).
•Auf der Grundlage der internalisierten Arbeitsmodelle macht das heranwachsende Kind neue Erfahrungen, die wiederum dazu beitragen, dass sich das Arbeitsmodell genau so modifiziert oder auch neu (re)konstruiert. Gerade diese Erkenntnis ist für pädagogisches/therapeutisches Handeln besonders bedeutsam: Wo sich aktuell und kontinuierlich etwas Sicheres, Bindendes, Hilfreiches konstruiert, bestehen gute Chancen, aktiv zu de-konstruieren.
•Bowlby (1969) geht davon aus, dass die kindliche Suche nach Nähe zu einer Bindungsperson universell sei, da hierin eine biologische umweltstabile Tendenz vorliege. Bindungsverhalten lässt sich vornehmlich in drei Kategorien (und eine vierte Unterkategorie) unterteilen – sicher, unsicher-vermeidend und unsicherambivalent (hinzu kommt die Variable desorganisiert, die sich vor allem auf die als »unsicher« skizzierten Kategorien bezieht).
»Die Möglichkeiten der Bindungsperson, auf dieses Nähe-Erhalten zu reagieren, sind begrenzt. Sie kann dieser Absicht möglichst gut entsprechen (was zu einer sicheren Bindung führt) oder das Nähe-Suchen oft zurückweisen (was zu einer unsicher-vermeidenden Bindung führt, oder für das Kind nicht vorhersehbar, inkonsistent auf den Wunsch nach Nähe reagieren (was zu einer unsicher-ambivalenten Beziehung führt). Ist die Bindungsfigur in eigenen bindungsrelevanten, unverarbeiteten Problemen gefangen, so bleibt das Bindungsverhalten des Kindes länger desorganisiert« (Fremmer-Bombik 1995, S. 111).
•Bei der Betrachtung oder Beschreibung solcher Bindungsmuster versteht es sich von selbst, dass sie als mögliche (unter vielen) zu verstehen sind und der darin liegende Charakter einer Hypothese (die auch verworfen werden kann) zu berücksichtigen ist.
Neuere Erkenntnisse der Hirnforschung weisen darauf hin, dass frühkindliche Bindungserfahrungen sich auch hirnorganisch auswirken und abbilden und somit erheblichen Einfluss auf Entwicklungs- und Lernprozesse haben (Hüther 2003).
2.2 Bindung und Irritationen
Es sind insbesondere die Ergebnisse der Forschungstätigkeit von M. Ainsworth (1969) zu der fremden Situation, die zu einer Beschreibung und Klassifizierung verschiedener Bindungsmuster bzw. -stile beigetragen haben. Im entsprechenden Experiment wurden Mütter mit ihren bis zu zwölf Monaten alten Säuglingen verschiedenen Trennungs- und Wiedervereinigungssituationen ausgesetzt, nachdem sie über einen Zeitraum von etwa zwölf Monaten hinweg regelmäßig in der gewohnten häuslichen Umgebung beobachtet worden waren. Im Labor wurde dann vor allem beobachtet, wie die Kinder auf die neue Umgebung, die Trennung und die anschließende Wiedervereinigung reagierten. Eine detaillierte Beschreibung der Versuchsreihe findet sich auch bei Gloger-Tippelt (2001).11
Sogenannte sicher gebundene Kinder können in fremden Situationen ihre Umgebung aktiv und neugierig erkunden, während die Mütter12 fast unbedeutend erscheinen. In der Trennungssituation setzen sie zunächst ihr Spiel fort oder lassen sich von einer fremden Person beschäftigen und werden erst bei andauernder Trennung unruhig. Sie erleben die Bindungsfigur (innerlich) als weiterhin verfügbar, fühlen sich sicher und geschützt. Äußert ein Kind sein Unbehagen und kehrt nun die Mutter...