VORWORT
Als Auguste Rodin im Juni 1902 Wien besuchte, lud Berta Zuckerkandl den großen französischen Bildhauer zusammen mit Gustav Klimt, Österreichs berühmtestem Maler, zu einer Jause ein, einem typischen Wiener Nachmittag mit Kaffee und Kuchen. Berta, ihrerseits eine renommierte Kunstkritikerin und Grande Dame eines der distinguiertesten Wiener Salons, erinnert sich in ihrer Autobiografie an diesen denkwürdigen Nachmittag:
Neben Klimt saßen zwei wunderschöne Frauen, die auch Rodin entzückten. … Alfred Grünfeld [der in Wien lebende frühere Hofpianist von Kaiser Wilhelm I.] hatte sich in dem großen Saal, dessen Flügeltüren weit offen standen, ans Klavier gesetzt. Klimt schlich sich zu ihm. »Ich bitte, spielen’s uns Schubert!« Und Grünfeld, die Zigarre im Mund, träumte Schubert vor sich hin.
Da beugt sich Rodin zu Klimt hinüber. »So etwas wie bei Euch hier habe ich noch nie gefühlt! Ihre Beethoven-Freske, die so tragisch und so selig ist; Eure tempelartige unvergeßliche Ausstellung und nun dieser Garten, diese Frauen, diese Musik! Und um Euch, in Euch diese frohe kindliche Freude. Was ist das nur?!«
Ich übersetzte Rodins Worte. Klimt neigte seinen schönen Petrus-Kopf und sagte nur ein Wort:
»Österreich!«1
Dieser idealisierte, romantische Blick auf das Leben in Österreich, den Klimt mit Rodin teilte und der nur sehr entfernt etwas mit der Wirklichkeit zu tun hatte, hat sich auch mir unauslöschlich eingeprägt. Ich musste Wien schon als Kind verlassen, doch das Geistesleben vom Wien der Jahrhundertwende liegt mir im Blut – mein Herz schlägt im Dreivierteltakt.
Die Quellen für Das Zeitalter der Erkenntnis waren meine spätere Faszination von der intellektuellen Entwicklung Wiens zwischen 1890 und 1918 und mein Interesse an der österreichischen Kunst der Moderne, Psychoanalyse und Kunstgeschichte sowie an der Gehirnforschung, der ich mich verschrieben habe. In diesem Buch untersuche ich den zwischen Kunst und Wissenschaft andauernden Dialog, dessen Wurzeln im Wiener Fin de Siècle liegen, und dokumentiere seine drei wichtigsten Phasen.
Die erste Phase begann als ein Austausch von Erkenntnissen über unbewusste geistige Prozesse zwischen den Künstlern der Moderne und Vertretern der Wiener Medizinischen Schule. Die zweite Phase wurde in den 1930er-Jahren von der Wiener Schule der Kunstgeschichte angestoßen und führte den Dialog als Interaktion zwischen Kunst und einer Kognitionspsychologie der Kunst fort. In der dritten Phase, die vor 20 Jahren begann, legte der Austausch zwischen dieser Kognitionspsychologie und der Biologie den Grundstein für eine emotionale Neuroästhetik, die versucht, unsere perzeptuellen, emotionalen und empathischen Reaktionen auf Kunstwerke zu ergründen.
Dieser Dialog und die fortlaufenden Untersuchungen aus dem Bereich der Gehirnforschung und der Kunst sind nach wie vor lebendig. Sie haben uns erste Erkenntnisse darüber beschert, welche Vorgänge im Gehirn von Menschen ablaufen, die ein Kunstwerk betrachten.
DIE ZENTRALE HERAUSFORDERUNG für die Wissenschaft des 21. Jahrhunderts besteht darin, die Biologie des menschlichen Geistes zu ergründen. Das Werkzeug für diese Herausforderung bot das ausgehende 20. Jahrhundert, als die Kognitionspsychologie – die Wissenschaft des Geistes – mit der Neurowissenschaft – der Wissenschaft des Gehirns – fusionierte. Das Ergebnis war eine neue Wissenschaft des Geistes, die uns in die Lage versetzt hat, eine Reihe von Fragen über uns selbst zu formulieren: Wie nehmen wir etwas wahr, lernen und erinnern uns? Was ist das Wesen von Gefühl, Empathie, Denken und Bewusstsein? Wo liegen die Grenzen des freien Willens?
Diese neue Wissenschaft des Geistes ist nicht nur deshalb von Bedeutung, weil sie uns tiefere Einsichten über die Ursprünge unseres ureigenen Wesens vermittelt, sondern auch, weil nun eine wichtige Abfolge von Zwiegesprächen zwischen der Gehirnforschung und anderen Wissensgebieten in Gang gesetzt werden kann. Solche Zwiegespräche könnten uns die Mechanismen im Gehirn ergründen helfen, die Wahrnehmung und Kreativität ermöglichen – sei es in der Kunst, in der Natur- und Geisteswissenschaft oder im täglichen Leben. In einem weiteren Sinne könnte dieser Dialog dazu beitragen, Wissenschaft zu einem Teil unserer gemeinsamen kulturellen Erfahrung zu machen.
In Das Zeitalter der Erkenntnis stelle ich mich dieser zentralen wissenschaftlichen Herausforderung, indem ich mein Augenmerk auf die frühesten Verflechtungen der neuen Wissenschaft des Geistes mit der Kunst richte. Um die Anfänge dieses immer neu entfachten Dialogs pointiert darstellen zu können, konzentriere ich mich hier bewusst auf eine bestimmte Kunstform – Porträtmalerei – und eine bestimmte Kulturepoche – die Moderne im Wien des frühen 20. Jahrhunderts. Ich tue dies nicht nur, um einige zentrale Themen in den Blickpunkt der Diskussion zu rücken, sondern auch, weil diese Kunstform und diese Epoche von einer Reihe bahnbrechender Versuche gekennzeichnet waren, Kunst und Wissenschaft miteinander zu verknüpfen.
PORTRÄTMALEREI EIGNET SICH SEHR GUT für eine wissenschaftliche Untersuchung. Wir besitzen mittlerweile – in kognitionspsychologischer wie auch biologischer Hinsicht – erste zufriedenstellende Erkenntnisse darüber, wie wir perzeptuell, emotional und empathisch auf Gesichtsausdrücke und Körperhaltungen anderer Personen reagieren. Die Porträtmalerei der Moderne in »Wien 1900« bietet sich dabei besonders an, weil die Auseinandersetzung der Künstler mit unter der Oberfläche verborgenen Wahrheiten von der parallel dazu auftretenden Beschäftigung mit unbewussten geistigen Prozessen in medizinischer Forschung, Psychoanalyse und Literatur begleitet und beeinflusst wurde. Somit illustrieren die Porträts aus der Wiener Moderne mit ihrem bewussten und dramatischen Bemühen, die inneren Befindlichkeiten ihrer Modelle darzustellen, auf ideale Weise, inwiefern psychologische und biologische Erkenntnisse unsere Beziehung zur Kunst bereichern können.
In diesem Zusammenhang untersuche ich den Einfluss des zeitgenössischen wissenschaftlichen Denkens und des weiteren intellektuellen Umfelds von Wien um 1900 auf drei Künstler: Gustav Klimt, Oskar Kokoschka und Egon Schiele. Ein charakteristisches Merkmal des Wiener Lebens jener Zeit war die fortgesetzte, freie Kommunikation von Künstlern, Autoren und Denkern mit Wissenschaftlern. Die Interaktion mit Medizinern und Biologen sowie mit Psychoanalytikern beeinflusste die Porträtmalerei dieser drei Künstler maßgeblich.
Auch aus anderen Gründen bieten sich die Vertreter der Wiener Moderne für diese Untersuchung an. Zunächst einmal erlauben sie eine tiefgreifende Analyse, weil es nur so wenige – drei Hauptvertreter – gibt, die jedoch für die Kunstgeschichte als Kollektiv wie auch als Individuen von großer Bedeutung sind. Als Gruppe versuchten sie, das unbewusste, triebhafte Streben der Menschen in ihren Zeichnungen und Gemälden festzuhalten, wobei aber jeder Einzelne seine ganz eigene Art und Weise entwickelte, seine Einsichten mithilfe von Gesichtsausdrücken sowie Hand- und Körpergesten darzustellen. Dabei leistete jeder der Künstler einen unabhängigen konzeptuellen und technischen Beitrag zur modernen Kunst.
In den 1930er-Jahren trugen die Dozenten der Wiener Schule der Kunstgeschichte maßgeblich zur Weiterentwicklung des an der Moderne ausgerichteten Programms von Klimt, Kokoschka und Schiele bei. Sie betonten, dass Künstler der Moderne nicht Schönheit, sondern neue Wahrheiten präsentieren müssten. Darüber hinaus bereitete die Wiener Schule der Kunstgeschichte, teils unter dem Einfluss von Sigmund Freuds psychologischen Arbeiten, den Boden für eine wissenschaftlich fundierte Kunstpsychologie, die sich ursprünglich auf die Rezipienten der Kunst konzentrierte.
Heute ist die neue Wissenschaft des Geistes so weit ausgereift, dass sie einen erneuten Dialog zwischen Kunst und Wissenschaft eröffnen und beleben kann, in dessen Mittelpunkt wieder die Rezipienten stehen. Um die Verbindung zwischen der heutigen Hirnforschung und den Malern von »Wien 1900« aufzuzeigen, skizziere ich in groben Zügen – für das allgemeine Lesepublikum und Studenten der Kunst und Geistesgeschichte gleichermaßen – unser derzeitiges Wissen über die kognitionspsychologische und neurobiologische Grundlage von Wahrnehmung, Gedächtnis, Gefühl, Empathie und Kreativität. Danach untersuche ich, welche Erkenntnisse uns die Verknüpfung von Kognitionspsychologie und Hirnbiologie darüber gebracht hat, wie Menschen Kunst wahrnehmen und auf sie reagieren. Meine Beispiele stammen zwar aus der Malerei der Moderne, insbesondere dem österreichischen Expressionismus, doch die Prinzipien der Reaktion auf Kunst sind auf alle Epochen der Malerei anwendbar.
WARUM SOLLTEN WIR EINEN DIALOG ZWISCHEN Kunst und Wissenschaft sowie zwischen Wissenschaft und Kultur im Allgemeinen befördern? Hirnforschung und Kunst repräsentieren zwei verschiedene Blickwinkel auf den menschlichen Geist. Die Wissenschaft lehrt uns, dass unser gesamtes geistiges Leben auf unserer Hirnaktivität beruht. Wenn wir also diese Aktivität ergründen, beginnen wir die Prozesse zu verstehen, die unseren Reaktionen auf Kunstwerke zugrunde liegen. Wie wird aus den von den Augen gesammelten Informationen »Sehen«? Wie verwandeln sich Gedanken in Erinnerungen? Was ist die biologische Grundlage unseres Verhaltens? Demgegenüber ermöglicht die Kunst Einblicke in die flüchtigeren, real erlebten Merkmale des menschlichen Geistes, in die Art und Weise, wie wir eine spezifische Erfahrung empfinden. Ein Hirnscan kann vielleicht die neuronalen Anzeichen einer Depression...