2 Auf der Spur der Ahnen
Unser heutiger Umgang mit unseren Vorfahren unterscheidet sich grundlegend von der Einstellung, die vergangene Kulturen, aber auch sogenannte „primitive“ Naturvölker dem Thema gegenüber hatten und haben. Von deren großer Ahnen-Bewusstheit ist in unserer „aufgeklärten“ Welt kaum noch etwas zu finden, vielmehr wird diese zu großen Teilen von der Esoterik okkupiert. Dabei befasst sich die Psychologie seit Langem mit transgenerationalen Themen und in neuerer Zeit untermauern wissenschaftliche Untersuchungen aus den Bereichen der Biologie und Medizin die Bedeutung des Ahnen-Faktors. Im Folgenden werde ich schlaglichtartig einige dieser Einstellungen und Erklärungsmodelle beleuchten.
2.1 Der Ahnenkult bei den Etruskern
Als Beispiel für den Umgang mit den Ahnen in vergangenen Kulturen mögen die Etrusker dienen. Sie sind insbesondere für ihren ausgedehnten Totenkult und die Errichtung großer Nekropolen bekannt. Für unser Thema der Ahnen-Bewusstheit stellen sie also eine lohnende Quelle dar.
Etrurien war von etwa 1000 bis 100 v. Chr. ein Reich, dessen Kerngebiet sich zwischen Pisa und Florenz im Norden, Perugia im Osten und Rom im Süden erstreckte. Die Bedeutung des aufwendigen Umgangs mit den Verstorbenen steht in engem Zusammenhang mit den Vorstellungen der Etrusker über das Leben nach dem Tod und ist insofern religiös motiviert. Nach dem Tod, so die etruskische Vorstellung, begibt sich der Verstorbene auf eine Jenseitsreise. Auf dieser begegnen ihm sowohl gefährliche als auch hilfreiche Gestalten. Mit dem Erreichen des Tores zur Unterwelt ist diese Reise abgeschlossen. In der Unterwelt angekommen, werden die Neuankömmlinge von bereits früher verstorbenen Verwandten empfangen und zu einem Festmahl eingeladen. So sitzen dann ganze Generationen zusammen, gelegentlich gesellen sich auch die Götter der Unterwelt dazu. Dies ist ein Hinweis darauf, dass der Tod mit einer Aufwertung verbunden ist, die dem Verstorbenen Zugang zu göttlichen Kreisen verschafft.
Etruskische Städte wurden vorzugsweise auf einer Anhöhe errichtet. Auf der gegenüberliegenden Seite, hinter den Stadtmauern und ebenfalls oft erhöht, wurde die Nekropole (Abb. 2-1), eine weitläufige Gräberstadt, erbaut.
Abb. 2-1 Ein ganzes Haus für die Ahnen: Antike Nekropole in Etrurien
Die Gräber hatten mitunter selbst die Form eines Hauses; sie sollten der Seele des Verstorbenen als Wohnung dienen. Bei der Ausstattung des Grabes gab man sich große Mühe. Ebenso wurde der Verstorbene häufig reich geschmückt, wovon Funde in den Gräbern zeugen. Neben Waffen wurde oft Essgeschirr und Besteck für mehrere Menschen beigelegt. Dies war vielleicht ein Hinweis auf das Festmahl in der Unterwelt, zu dem der Verstorbene für sich und andere ein Gedeck mitbringen sollte. Da in den Gräbern Altäre mit eingebauten Opferschalen entdeckt wurden, geht man davon aus, dass im Rahmen der Bestattungszeremonie entsprechende Opferriten durchgeführt wurden, bei denen Honig, Milch und Wasser eine Rolle spielten. Einige Darstellungen weisen auch darauf hin, dass Tieropfer stattgefunden haben. Es gibt außerdem Hinweise darauf, dass sogar Menschen geopfert wurden, i. d. R. wohl gefangene feindliche Soldaten. Friedhelm Prayon (vgl. Prayon 2006) macht auf sogenannte „Leichenspiele“ aufmerksam, die zum einen als sportliche Wettkämpfe und zum anderen als eine Art Vorläufer der römischen Gladiatorenkämpfe durchgeführt wurden. Offensichtlich war also eine ganze Reihe von rituellen Handlungen erforderlich, um die Verstorbenen im Jenseits auf den rechten Weg zu bringen und um sie auf ihrer Reise in die Unterwelt zu unterstützen.
Im Grab selbst wurden oft bildliche Darstellungen der Ahnen aufgestellt, dies waren meist aus Ton geformte Plastiken. Wurde der Verstorbene verbrannt, trug nicht selten die Urne, in der die Asche aufbewahrt wurde, menschliche Züge (Abb. 2-2).
Abb. 2-2 Zu Ehren des Vorfahren: Etruskische Urne mit menschlichem Antlitz
Auf manchen Urnendeckeln finden sich ausmodellierte Szenen, etwa ein Totenmahl. Aber auch Sarkophage mit zum Teil ausgesprochen lebensnahen Darstellungen sind aus etruskischen Gräbern bekannt. Wandmalereien künden von der oft beschwerlichen Jenseitsreise. Im „Grab der blauen Dämonen“ in Tarquinia sind die bedrohlichen und unheilvollen Dämonen abgebildet, die auf dem Weg in die Unterwelt dem Verstorbenen auflauern bzw. ihn begleiten. Die Etrusker glaubten an eine Reihe von Göttern, die ihren Sitz in der Unterwelt hatten, vor allem an Aita, den Herrscher über die Seelen.
So sehr die Vorstellungen von der Jenseitsreise religiös motiviert waren, so sehr ging es bei all dem Prunk wohl auch um die Außendarstellung der Familie. Wer es sich leisten konnte, zeigte durch eine aufwendige Begräbniszeremonie und entsprechende Ausstattung des Grabhauses, wie bedeutend die Familie insgesamt in der Gesellschaft war. Der etruskische Ahnenkult dürfte sowohl im italienischen Raum die römische Kultur beeinflusst haben als auch nördlich der Alpen in Mitteleuropa die keltische.
Es lässt sich also bei den Etruskern eine intensive Hinwendung zum Ahnen-Thema erkennen, die sich vor allem durch die Sorge auszeichnet, vom Diesseits aus den postmortalen Weg in die Unterwelt positiv zu beeinflussen. Die künstlerisch aufwendige Abbildung der Vorfahren auf Urnen und Sarkophagen zeugt ebenso wie die malerische Gestaltung des Jenseitsweges in den Grabhäusern von einem ehrfürchtigen Umgang mit den Ahnen. Insbesondere die Vorstellung, von diesen nach dem eigenen Tod in der Unterwelt zum Festmahl empfangen zu werden, zeigt die tiefe Verbundenheit der Etrusker mit ihren Vorfahren. Die Errichtung von ausgedehnten Totenstätten mit all dem Aufwand, den Zeremonien, Riten und Opfern unterscheidet sich wesentlich von unserer heute praktizierten Begräbniskultur. Obwohl auch in der heutigen Zeit Tod und Beerdigung wahrgenommen und vorwiegend religiös begleitet werden, ist die Beschäftigung damit doch deutlich reduziert, d. h., sie beschränkt sich meist auf den Zug von der Aufbahrungshalle bis zum Grab, auf die Reden eines Geistlichen und der Verwandten des Verstorbenen und auf den anschließenden „Leichenschmaus“, bei dem dann meist schon wieder „diesseitige“ Themen, insbesondere Konflikte zwischen den Zurückgebliebenen, die Gespräche dominieren. Die üppige Ausstattung und den Reichtum des etruskischen Grabes findet man bei uns nicht auf dem Friedhof, sondern in der Kirche daneben. Während die Etrusker am Schicksal der Verstorbenen großen Anteil hatten, bringen wir unsere Verwandten im Vergleich dazu recht zügig unter die Erde und wenden uns danach gleich wieder anderen Dingen zu. Die Trauer der Hinterbliebenen wird von manchen Menschen, vor allem wenn sie länger als „üblich“ andauert, eher als suspekt bis störend empfunden und sie gibt hin und wieder Anlass zum Beginn einer psychotherapeutischen Behandlung, – so als wäre eine lang anhaltende Trauer eine psychische Störung. Obwohl das „Jenseits“ sowohl in Etrurien als auch in der heutigen „zivilisierten“ Welt ein religiöses Thema ist, erstaunt die derart unterschiedliche Auseinandersetzung damit doch sehr. Das Verhältnis zu unseren Vorfahren scheint bei uns eine weitaus geringere Bedeutung zu haben als in der etruskischen Kultur, zumindest wurde es aus der öffentlichen Wahrnehmung und Gestaltung ganz in den privaten Bereich des Einzelnen verschoben. Auch dieser Umstand trägt dazu bei, dass unsere Ahnen-Bewusstheit ziemlich verblasst erscheint, zumindest im Vergleich zu der bei den Etruskern praktizierten.
2.2 Die Melanesier und ihre Ahnen
Der Zahnarzt Roland Garve hat zusammen mit seiner Frau, der Wissenschaftlerin und Journalistin Miriam Garve, mehrere Reisen nach Papua-Neuguinea unternommen. Die beiden berichten eindrucksvoll von den Menschen in dieser Region (vgl. Garve u. Garve 2010). Sie verkörpern alles, was wir uns unter einem „primitiven“ Volk vorstellen. Kopfjagd und Kannibalismus sind nur zwei der Stichwörter, die uns zu dieser so weit von uns entfernten und doch gegenwärtigen Kultur einfallen. Bei so viel spontan entstehender Distanz ist es für unser Thema lohnend, den Umgang dieser „wilden“ Menschen mit ihren Ahnen zu betrachten. Auch in dieser Region der Erde schreitet die Zivilisierung fort, obwohl einige der dortigen Ureinwohner versuchen, dagegen anzukämpfen. Garve berichtet, noch Ende der 1980er-Jahre auf Kopftrophäen gestoßen zu sein, die in Netzen an den Wänden der Hütten hingen. Das Volk der Asmat, das im Süden von Papua-Neuguinea lebt, glaubt daran, dass sich im Traum die Seele vom Körper löst und dass dieser deshalb schutzlos ist. Zur Unterstützung in dieser nächtlichen Gefahr verwendeten sie deshalb gerne die Schädel von Verwandten, und zwar als Kopfstützen (Abb. 2-3).
Abb. 2-3 Enge Verbindung mit den Vorfahren: Der Ahnenschädel als Schutz in der Nacht
Einige hängten sich die knöchernen Überreste ihrer Lieblingsverwandten auch um den Hals, um bei der Jagd deren geistige Hilfe zu bekommen. Beide Bräuche sind inzwischen verboten worden. Auch in der Vorstellungswelt der Asmat reisen die Verstorbenen in eine jenseitige Welt, wofür sogenannte „Seelenboote“ gebaut werden. In den Männerhäusern tragen die Schlafstätten die Namen von Vorfahren und auch jeder Kampfschild ist nach einem bestimmten Ahnen benannt.
Der Volksstamm der Dani glaubt, dass die verstorbenen Verwandten als unsichtbare Geister ständig...