291. Ontologie der Tugend
1.1 Fünf vorbereitende Klärungen
Was ist eine ethische Tugend? Bevor eine Beantwortung dieser grundlegenden Frage versucht werden kann, bedarf es fünf vorbereitender Klärungen, die es erlauben sollen, Bedeutung und Implikationen der Frage selbst besser einzuschätzen:
Erstens wird in der Ausgangsfrage »Tugend« in einer Bedeutung verwendet, die einen Plural zulässt. So reden wir davon, dass Mut eine Tugend ist – neben anderen wie Gerechtigkeit, Besonnenheit etc. In einer anderen Bedeutung lässt »Tugend« hingegen keinen Plural zu – so stellen wir Tugend und Laster einander gegenüber. Wer über Tugend in diesem zweiten Sinne verfügt, dem schreiben wir die holistische Eigenschaft zu, über einen insgesamt moralisch guten Charakter zu verfügen – wir betrachten ihn eben als tugendhaft.[36] Ein solcher Charakter wird sicher eine Reihe von Tugenden beinhalten, möglicherweise sogar alle, wenn die so genannte These der Einheit der Tugenden zutrifft, der zufolge jemand nur dann über eine einzige der Tugenden verfügen kann, wenn er über alle anderen verfügt. Selbst dann aber muss zwischen den beiden Bedeutungen unterschieden werden, um etwa die Frage klären zu können, inwiefern eben alle einzelnen Tugenden zusammen die Tugend im Sinne eines moralisch guten Charakters ausmachen. Im Folgenden wird es ausschließlich um die Ontologie der Tugenden, 30nicht aber um die der Tugend gehen. Erst wenn in den folgenden Kapiteln Überlegungen zum Zusammenhang der Tugenden einerseits untereinander, andererseits zum moralisch richtigen Handeln sowie zum Problem einer unabschließbaren Proliferation von Tugenden angestellt werden, wird Tugend in der zweiten, nicht pluralisierbaren Bedeutung erneut in den Blick kommen können.[37]
Zweitens geht es um die Ontologie ethischer Tugenden. Der Begriff der Tugend hat sowohl in verschiedenen Sprachen wie in verschiedenen Epochen große Bedeutungsschwankungen durchgemacht: Während das griechische ????? jede Form der Tüchtigkeit bzw. Vortrefflichkeit (und sei es die eines Rasenmähers bei der Erfüllung seiner Funktion, eben des Mähens eines Rasens) umfasst, war in Viktorianischer Zeit der Begriff virtue nicht nur auf den Bereich der Moral beschränkt, sondern wurde nahezu gleichbedeutend gebraucht mit einer einzigen ethischen Tugend, nämlich der Enthaltsamkeit (chastity). In dieser Untersuchung soll der Begriff der Tugend weder in einem so weiten noch in einem so engen Sinn gebraucht werden: Er dient im Folgenden zur Bezeichnung nicht einer einzelnen, als paradigmatisch betrachteten Tugend, sondern zur Bezeichnung einer distinkten Art von Tugenden, nämlich der ethischen, die sich von anderen Arten von Tugenden durch spezifische Merkmale unterscheidet. Die Frage, wie viele und welche Arten von Tugenden es gibt, muss außerhalb der Grenzen dieser Untersuchung bleiben. Am Ende dieses Kapitels wird sich allerdings die Gelegenheit ergeben, anhand der erarbeiteten Merkmale der ethischen Tugenden einige Abgrenzungen gegenüber wichtigen anderen Arten von Tugenden vorzunehmen. Dabei wird sich zeigen, dass die Unterscheidungsmerkmale jeweils auf ganz unterschiedlichen Ebenen liegen: So unterscheiden sich etwa ethische und theologische Tugenden primär durch die Art ihres Erwerbs (Erstere entstehen durch Einübung, Letztere werden durch göttliche Gnade vermittelt[38]), ethische Tugenden und dianoetische Tugenden, also 31solche des Verstandes, hingegen dadurch, dass sie auf ein jeweils distinktes formales Ziel, nämlich einerseits das Gute, andererseits das Wahre, ausgerichtet sind.
Drittens wird zunächst vorausgesetzt, dass die ethischen Tugenden nicht nur eine gegenüber anderen Arten von Tugenden wie den intellektuellen, theologischen etc. distinkte, sondern auch eine in sich selbst einheitliche ontologische Kategorie bilden. Dies ist eine keineswegs selbstverständliche Annahme. Mut und Ehrlichkeit sind paradigmatische ethische Tugenden; beide unterscheiden sich aber darin, dass Letztere konstitutiv auf einen substantiellen Wert (die Wahrheit) ausgerichtet ist, während beim Mut als einer so genannten exekutiven Tugend ein solcher Bezug fehlt – man kann sich prima facie auch dann als mutig erweisen, wenn man gegen starke Widerstände eine Lüge verbreitet. Ausgehend von der Beobachtung solcher Unterschiede wie hier der zwischen exekutiven und substantiellen Tugenden lässt sich nun die Frage stellen, ob nicht vielleicht beide Arten von Tugenden bereits auf der ontologischen Ebene fundamental verschieden sind, zum Beispiel in dem Sinn, dass die exekutiven Tugenden am besten als eine Spezies von Fertigkeiten (skills) aufgefasst werden, während sich die substantiellen Tugenden fundamental von Fertigkeiten unterscheiden.[39] Im zweiten Kapitel dieser Untersuchung werden unterschiedliche Einteilungskriterien von Tugenden diskutiert werden; zugleich wird sich zeigen, dass bei aller Vielfalt der Tugenden keiner der dabei aufgedeckten Unterschiede so tief greift, dass er die Einheit32lichkeit der Kategorie der ethischen Tugenden, wie sie in diesem Kapitel anhand einer Reihe von Kriterien inhaltlich bestimmt werden soll, in Frage stellt.
Viertens wird der Versuch, eine Ontologie der ethischen Tugenden als distinkte und in sich einheitliche Kategorie zu erarbeiten, nicht bei einer Analyse der Begriffe ansetzen können, mit denen wir auf diese Tugenden Bezug nehmen. Schon eine erste Durchsicht solcher Begriffe fördert eine verwirrende ontologische Vielfalt zu Tage, orientiert man sich allein an der sprachlichen Gestalt: Der Begriff »Mitleid« legt nahe, dass es sich bei der entsprechenden Tugend ontologisch um eine Emotion handelt, »Fairness« lässt an eine Fertigkeit denken, »Hilfsbereitschaft« an ein Handlungsmotiv, »Wohltätigkeit« an ein Handlungsmuster etc. Nun erscheint es kaum überzeugend, in dieser verwirrenden Vielfalt lediglich das Resultat eines Verfallsprozesses unserer Kultur, der auch unsere moralischen Ausdrücke infiziert hat und uns so den Blick auf die Ontologie der Tugend verstellt, zu sehen.[40] Ernster zu nehmen ist die Möglichkeit, dass sich in den verwirrenden ontologischen Befunden, die der Sprachgebrauch in Bezug auf die Frage nach der Ontologie der Tugenden liefert,[41] der Umstand widerspiegelt, dass es ethische Tugenden als ontologisch distinkte und in sich einheitliche Kategorie schlicht nicht gibt. Bevor eine solch weitreichende Schlussfolgerung gezogen wird (die im Übrigen ihrerseits die Be33weislast trägt, in einer Art von Irrtumstheorie plausibel zu erklären, warum wir so hartnäckig an der irrigen Vorstellung der ethischen Tugenden als distinkter und einheitlicher Kategorie festhalten), bleibt zu prüfen, ob nicht im Zuge einer fortschreitenden Abgrenzung zu verwandten Kategorien ein einheitliches ontologisches Profil der ethischen Tugenden aufgedeckt werden kann. Ebendies soll im Folgenden versucht werden.
Fünftens gilt es, die Frage »Was ist eine Tugend?« getrennt zu halten von der Frage »Ist x eine Tugend?«. Im Sinne der zweiten Frage wäre zu prüfen, ob es sich zum Beispiel bei der Demut um eine Tugend oder nicht vielmehr sogar um ein Laster handelt; Hume etwa rechnet sie zu den so genannten mönchischen Tugenden (monkish virtues), die recht verstanden eben keine Tugenden, sondern Laster sind.[42] Dieselbe Frage ließe sich auch für das Mitleid stellen, das in der Gegenwart als eine zentrale Tugend gilt, von den Stoikern jedoch als Laster betrachtet wurde.[43] Und Augustinus wiederum kritisiert die heidnischen Tugenden als nichts anderes denn »glänzende Laster« (splendida peccata).[44] Für die Beantwortung der Frage, ob x eine Tugend ist (und nicht vielmehr ein Laster oder aber ein neutrales Charaktermerkmal), bildet die Klärung der Frage »Was ist eine Tugend?« eine notwendige, jedoch keine hin34reichende Voraussetzung. »Körperliche Strapazierfähigkeit« scheidet etwa deshalb als Kandidat aus, weil es sich bei einer Tugend um eine psychische, nicht um eine physische Eigenschaft einer Person handelt. Die definierenden Merkmale, die sich aus unserer Diskussion der Frage »Was ist eine Tugend?« ergeben werden, eignen sich also durchaus als Ausschlusskriterien für Entitäten, die einfach die falsche Art von Ding sind, um sich als Tugenden qualifizieren zu können. Für die Entscheidung der Frage, ob Demut oder Mitleid Tugenden sind, helfen solche Kriterien aber nicht weiter. Sowohl Demut wie Mitleid sind kategorial geeignete Kandidaten für den Status einer Tugend. Ob es sich bei ihnen aber um Tugenden oder vielmehr um Laster handelt, wird sich nur unter Rückgriff auf zusätzliche, substantielle Kriterien entscheiden lassen, die ihrerseits nicht mehr in den Bereich der Ontologie der Tugenden fallen.
1.2 Vollkommenheiten des Charakters – die Axiologie der Tugenden als Schlüssel zu ihrer Ontologie
Ohne Zweifel handelt es sich bei ethischen Tugenden um Merkmale des Charakters einer Person, die Bewunderung verdienen; sie werden häufig – wenn auch nicht umgangssprachlich, so doch im Einklang mit dem umgangssprachlichen Gebrauch – auch als Vollkommenheiten einer Person bezeichnet. Ausgehend von dieser Beobachtung liegt es nahe, den Zugang zur Ontologie über eine Erörterung ihrer Axiologie zu gewinnen: Was Tugenden sind, lässt sich am besten durch die Erörterung der Frage erkennen, inwiefern sie wertvoll sind. Was also macht den Wert der Tugenden aus? Weshalb...