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Der Mann auf der Straße

Über das merkwürdige Verhalten von Männern in ganz alltäglichen Situationen

AutorCheryl Benard, Edit Schlaffer
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl276 Seiten
ISBN9783688102860
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Der Mann ist ein wissenschaftlich unerschlossenes Gebiet; man weiß beinahe nichts über ihn. Die Vielfalt des männlichen Charakterbildes macht es der Forschung schwer. Männer beherrschen diszipliniert die Vorstandssitzungen, machen lebensrettende Erfindungen und lassen sich zum Mond katapultieren. Männer unter sich verstummen und zeigen nur die Spur eines anzüglichen Grinsens, wenn «Damen» den Raum betreten. Sie öffnen Frauen die Tür, helfen ihnen in den Mantel, bezahlen ihnen kleine Mokkas und flüstern ihnen im Vorübergehen Obszönes zu. Ob das alles noch normal ist?

Cheryl Benard wurde 1953 in New Orleans/USA geboren. Zusammen mit Edit Schlaffer leitete sie als Sozialwissenschaftlerin die «Ludwig-Boltzmann-Forschungsstelle für Politik und zwischenmenschliche Beziehungen» in Wien und gründete 1981 mit ihr die Menschenrechtsorganisation «Amnesty for Women».

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Leseprobe

Not am Mann – erste Begegnungen mit dem starken Geschlecht


Leider gibt es nicht nur gute Menschen, sondern auch böse.

Deshalb:

  1. Laß dir von Leuten, die du nicht kennst, keine Süßigkeiten schenken!

  2. Laß dich von ihnen in keine Konditorei einladen!

  3. Geh mit niemanden in eine fremde Wohnung, in einen Neubau, ein Gebüsch oder in einen Wald!

  4. Steig in kein fremdes Auto! Geh mit keinem fremden Menschen, der dir etwas verspricht oder zeigen will, mit!

  5. Hilf keinem Unbekannten etwas suchen!

  6. Fange mit unbekannten Menschen keine Gespräche an!

  7. Laß keinen Fremden in die Wohnung, wenn du allein zu Hause bist!

  8. Laß dich von niemanden angreifen!

  9. Bei Einbruch der Dunkelheit mußt du immer daheim sein!

  10. Wenn etwas Besonderes war, erzähle es auf jeden Fall deinen Eltern!

Merkblatt «Wie warne ich mein Kind»

Kirchenzeitung der Diözese Eisenstadt, Juni 1978

(Lehrstoff der ersten Schulklasse)

Vor Männern wird gewarnt.

Für viele von uns ist das eine der ersten Informationen, die wir über das andere Geschlecht erhalten.

Dieses Geschlecht ist durchsetzt von bösen und gefährlichen Gestalten. Es ist ihnen nicht zu trauen. Sie bieten einem Bonbons, Autofahrten und Zirkusbesuche an, alles nur mit dem Ziel, einem Böses zuzufügen. Niemals darf man einem fremden Mann trauen. Das prägen einem Eltern und Verwandte, Lehrer und wohlmeinende Ratgeber ein.

Zwischen dem lieben Onkel, der Schokolade bringt, und dem bösen Onkel, der einen mit ähnlicher Schokolade ins Unglück locken will, bestehen keine erkennbaren Unterschiede. Der einzige Schutz liegt darin, mißtrauisch zu sein. Wovor, wird nicht sehr präzise erklärt. Das grauenhafte Schicksal der Kinder, die von fremden Männern verschleppt werden, bleibt mysteriös in vernebelter Schrecklichkeit. Genauere Informationen erhält man hingegen über die geradezu unglaubliche taktische Geschicklichkeit, mit der diese bösen Männer ihre kleinen Opfer einfangen. So erzählen sie z.B. den Kindern, daß ihre Eltern sie geschickt haben, oder sogar, daß ihre Mutter im Krankenhaus ist und sie beauftragt worden sind, sie zu ihr zu bringen; sie warten nach der Schule auf ihre ahnungslosen Opfer, und man darf ihnen nichts glauben. Man hört auch gelegentlich Ausrufe der Empörung und des Entsetzens über einen Zeitungsbericht; diese Schweine gehören aufgehängt, ruft dann oft ein Erwachsener.

Auch später erhält man häufig den Rat, Männern kein einziges Wort zu glauben. Sie lügen, erzählen Eltern und andere Ratgeber, sie sagen, daß sie einen lieben, und kein Wort davon ist wahr; sie wollen alle nur ihr Ziel erreichen, und wenn man das nicht verhindert, bekommt man später keinen guten Mann. Auch hier ist die Trennungslinie zwischen guten Männern und bösen, lügenden Männern schwer erkennbar, es werden einem keine Kriterien oder Merkmale mit auf den Weg gegeben. Die ersten Jugendfreunde jedenfalls sind nicht den guten Männern zuzuordnen; in der Regel werden sie von den Eltern für Idioten gehalten, für mopedfahrende Kretins, zukunftslose Versager und skrupellose Verführer. (Wehe, man macht sich jedoch später diese Einschätzungen des männlichen Geschlechts zu eigen, wie man sie von Kindheit auf serviert bekommt, dann ist man eine männerhassende Feministin, die keinen gekriegt hat.)

Die Unterscheidung ist schwierig. Das System scheint nicht ganz einsichtig. Wie ist das nun wirklich, mit den guten Männern und den bösen Männern?

Wenn ein berühmter Rennfahrer auf den Titelseiten der Boulevardblätter umherstolziert, demonstrativ nichts im Kopf hat als schnelle Maschinen und blonde Mädchen im Disco-Look, dann ist er ein klasse Typ, und die Herzen der Nation hängen an ihm. Kommt man mit einem ähnlichen, allerdings nicht so berühmten Exemplar nach Hause, spricht der entsetzte Vater von Rockern, schlechtem Umgang und Hausarrest.

«Daß du uns ja kein Kind nach Hause bringst», rufen viele Eltern ihren zu einem Rendezvous gehenden Töchtern nach, häufig ohne jemals erläutert zu haben, wie man in den Besitz dieses unerwünschten Guts kommt, das einem offenbar nachlaufen kann wie ein herrenloser Hund oder in einem Moment der Unüberlegtheit angenommen werden kann wie ein geschenkter Goldhamster.

Das herzhafte Lachen der häuslichen Männerrunde verstummt vor weiblichem Publikum; Damen ist solcher Humor nicht zuzumuten, und nur mehr der Funken eines konspiratorischen Amusements bleibt zurück; verbindende Anflüge eines Lachens. Schon gar nicht dürfen Mädchen und Frauen ein derart fragwürdiges Vokabular benutzen. Die Schonung jedoch ist sehr lückenhaft; Tageszeitungen und Zeitschriften füllen ihre Seiten mit Witzen, Illustrationen und Andeutungen, Wortspielen, Ratschlägen und Berichten, die auch ohne feministische Empfindsamkeit als frauenfeindlich und häufig als aggressiv gegen den weiblichen Körper oder die weibliche Sexualität erkannt werden müssen. Dumme Sekretärinnen, grauenhafte Schwiegermütter, unerträgliche Ehefrauen und abstoßende Frauenspersonen jeder Alters- und Berufsgruppe bevölkern die Witzblätter, wo ihnen stets das gerechte Schicksal des Spotts, Versagens oder Niedergangs zugeteilt wird. Dumm wie Untermenschen, schrecklich wie Furien; diese Leitbilder geben Aufschluß darüber, daß die männliche Phantasie in hohem Maße extrem und irrational, weil angstbesetzt auf Frauen reagiert.

Im Alter von 12, 14, 16, je nach Kulturkreis und Wachstumstempo, macht man plötzlich eine meist unliebsame, immer aber unerwartete Entdeckung. Die Regeln der Interaktion, des alltäglichen Umgangs mit anderen Menschen, die man bisher gelernt hat, verlieren plötzlich ihre allgemeine Gültigkeit. Sie bestehen zwar fort, und man muß sich weiterhin an sie halten, aber unter ihnen eröffnet sich plötzlich eine Schicht anderer Umgangsformen, von zunächst überraschenden, dann aber sich immer wiederholenden, zu einem System werdenden Verstößen gegen diese Regeln. Die Höflichkeiten, die Anredeformen, Haltungen, Begrüßungen, die man gelernt hat, die sorgfältigen Unterscheidungen zwischen Du und Sie und zwischen Bekannten, Fremden, guten Freunden, die Personenkategorien, jeweils mit dazugehörigen Erwartungen an Gesprächsabläufen und Themen, die jeweils angemessene Distanz zwischen Personen in der Gesellschaft, die jeweils korrekte Einschätzung von Zugehörigkeiten, bildeten bisher ein mehr oder minder vertrautes Terrain. Man weiß, daß man in bestimmten Situationen reden soll und in anderen nicht, aufstehen oder sitzenbleiben soll, daß man anderen in der erwarteten Weise begegnen muß, weil es sonst Probleme gibt; Vorwürfe, Kritik, Strafen.

In diesem System von manchmal lästigen und nicht ganz einsichtigen, immerhin aber wohlvertrauten Umgangsweisen treten plötzlich Störungen auf, verwirrend und unverständlich. Man muß, das hat man gelernt, in Anwesenheit des anderen Geschlechts in einer bestimmten Weise sitzen, auf bestimmte Bedeckungen achten, man nähert sich ihnen in geselligen Zusammentreffen lächelnd, man wird in der Schule regelmäßig von ihnen getrennt, vor allem, wenn die Gefahr besteht, daß visuell oder berührungsmäßig Barrieren und Regeln übertreten werden könnten, z.B. im Turnunterricht. Ähnliche Vorsichtsmaßnahmen gelten meist auch in der Familie, wo sie schwieriger aufrechtzuerhalten sind, was ihre Notwendigkeit eindrucksvoll unterstreicht; in der Regel bemühen sich verschiedengeschlechtliche Verwandte, einander nur in bekleidetem Zustand zu begegnen. In dieses geordnete Universum brechen sehr unerwartet Zwischenfälle ein.

Drei Jugendliche drücken einen gegen eine Hauswand und fassen einen an, sie lachen dabei wie im Fernsehen die stereotypen Nazis bei einer Durchsuchung oder wie die stereotypen dicken amerikanischen Südländer bei Lynchaktionen gegen die Neger; plötzlich sieht man sich selbst sekundenlang mit schreckgeweiteten Augen in paralysierten Haltungen gegen die Wand gedrückt, sie lachen, sie laufen davon; hat das wirklich stattgefunden, am selben Samstagnachmittag, an dem man Onkel Ludwig die Hand gibt und hört, wie groß man schon geworden ist?

Das erste Mal ist man vielleicht noch unbefangen wütend, man beschwert sich und erlebt die Irrealität der Reaktion; die Beschwerdestelle ist nicht empört, sondern peinlich berührt; sie überlegt, ob man sich falsch verhalten hat, auf der falschen Straße ging, falsch angezogen war, auf dem Heimweg getrödelt hat, ob man die «jungen Männer» herausfordernd angelächelt hat oder herausfordernd ignoriert hat oder sie gar nicht sah, was wiederum als Herausforderung interpretiert wird. Das nächste Mal beschwert man sich nicht mehr, um diesen peinlichen Überlegungen zu entgehen.

Bei diesen Ereignissen, die aus dem Rahmen des öffentlich anerkannten Verhaltens fallen, spürt man Emotionen und nimmt Mitteilungen wahr, die insgesamt beunruhigend sind. Man erlebt Aggression, wie sie sonst nicht erlaubt ist, aber von anderen mit Betretenheit übergangen wird. Man erlebt Spott, der unentrinnbar wird, da er sowohl die Einhaltung als auch die Nichteinhaltung der Regeln weiblichen Verhaltens zu seinem Gegenstand hat; sowohl die gelernten Sittsamkeiten als auch ihre Mißachtung fordern ihn heraus. Diese Paradoxie ist universaler Bestandteil der weiblichen Erfahrung und in erstaunlichem Maße übertragbar über kulturelle Grenzen hinweg. So erzählt z.B. Badr al-Moluk Bamdad von ihrer Jugendzeit in Persien, als Mädchen und Frauen auf der Straße angepöbelt und zurechtgewiesen wurden, wenn ihre Schleier nach Ansicht irgendwelcher zufällig vorbeigehender Männer nicht ordnungsgemäß zurechtgezogen waren; daß aber andrerseits verschleierte Mädchen von Buben...

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