Ein heißer Schuppen
In diesem Gebäude ist nichts mehr zu retten, so viel steht fest. Alles, was jetzt noch drinnen ist, gehört schnellstens entsorgt. Wie stark verkohltes Holz noch riechen kann, kommt mir in den Sinn, auch wenn es schon vor vier Wochen abgebrannt ist. Dazwischen Reste von Kabelzügen, von einer größeren Soundanlage und einzelne Lichtspots, die nun farblos von der Decke hängen. Eigentlich ist das mehr ein Ort für Geister.
«Düs isser», sagt Herr Ernst, «ünsa Preußischer Hof.»
«Oder düss, was von ehm übrig iss», ergänzt Herr Liebner und schiebt mit dem Schuh eine schwarze Bodenkachel zur Seite.
Ich hätte einen Dolmetscher mitnehmen sollen für die Geschäftsreise, die mich im Spätsommer 1993 in die sächsische Provinz entführt hat, nicht mehr weit weg von den ersten Hügeln des Erzgebirges. So freundlich die beiden Männer der Zwickauer Kriminalpolizei auch sind: Man kann sie nur mit größter Mühe verstehen. Im Flieger nach Leipzig habe ich heute Morgen an alle möglichen Probleme geadacht, nur nicht an eines mit der Muttersprache.
Aber jetzt stehen wir hier in Friedrichsgrün, vor den Resten einer Gaststätte mit Diskothek: Dirk Eckstein, der Schadensregulierer der Versicherung, ein großer, breiter Baum von einem Kerl, und ich, der freie Ermittler, der sich das mal genauer ansehen soll. Jeder Arbeitstag zum festen Tagessatz; Spesen extra, keine Provision. Dirk und ich haben zusammen schon einige Fälle mit Erfolg recherchiert, und nun müssen wir mal wieder das Beste draus machen.
«Schön habt ihr’s hier», sage ich und bleibe vor einem leeren Fenster stehen: ein schwarzer Rahmen, in dem sich ein Ausschnitt der Straße am Ortsrand präsentiert. Ich bin mir nicht sicher, ob meine Begleiter diesen Humor verstehen. Wie oft kreuzen in diesen Tagen seltsame Vögel aus dem Westen auf, um hier über die realen Verhältnisse herzuziehen. Wir da oben, ihr da unten. Wir ganz vorne, ihr am Schluss.
Aber Herr Ernst, ein hagerer Mann um die vierzig, der beim Gehen so große, steife Schritte wie ein Kranich macht, grinst sichtlich amüsiert in seine kurze Jacke.
«Hauptsoch’, do gimmt nix mehr von oben nunner, Herr Unterfeld.»
Ein Sachverständiger habe den Bau neulich freigegeben, erklärt er; wir müssten also nichts befürchten. «Bewürschden», wie sich das aus seinem Mund anhört.
Was für ein Film aber auch, in dem wir uns hier befinden. Er hat gegen Mittag begonnen, als ich mit dem Leihwagen nach Zwickau fuhr, um Dirk abzuholen. Gemeinsam fragten wir uns zur Polizei durch. Do nunner, do nauf – alles liebe Leute, die kaum zu verstehen waren. Dann das erste Gespräch mit den zwei Kripo-Leuten, die jetzt neben uns stehen. Sie haben gar nicht recht glauben wollen, dass es so was gibt: Zwei Wessis, die ihnen helfen wollen, in diesem merkwürdigen Brandfall zu ermitteln.
Und dann die Tour hier raus, in den kleinen Ort: ein Galopp über uraltes Kopfsteinpflaster in Richtung Nordosten, vorbei an verlassenen Höfen und winzigen Dörfern. Vorne der Trabbi der Zwickauer Polizei, dahinter Eckstein und ich im gemieteten C-Klasse-Mercedes. Die «Detektive» der Versicherung, wie es hier sehr schnell heißen wird, oder einfach: diese Typen aus dem Westen.
Ein großer Schuppen ist hier Opfer der Flammen geworden, halb Kneipe und halb Diskothek. Gerade ein halbes Jahr nachdem er von einem jungen Investor bei Regensburg aufgekauft und anschließend hoch versichert wurde. So pünktlich kommt Unglück selten zustande, hat der Sachbearbeiter der Versicherung am Telefon gesagt. Um mich dann zu fragen, ob ich zu den bekannten Konditionen ermitteln könnte: hoher Tagessatz plus Spesen, keine gesonderte Erfolgsprämie. Da ich das schon kenne, hat es darüber kein langes Palaver gegeben.
Wir brauchen jetzt nur fünfzehn Minuten, um uns das zerstörte Gebäude anzusehen, die Kripo-Leute und wir – neugierig beäugt von etlichen Passanten, die ihre Schritte verlangsamen. Der Feuertod des alten Gebäudes ist noch immer Thema Nummer eins im Ort, viel passiert hier sonst ja nicht. Manche Straßen könnte man auch für einen Film absperren: Ohne die Autos ist das eine Szenerie aus den Dreißigern.
Und noch einmal zwanzig Minuten, dann sitzen wir mit den Herren Ernst und Liebner wieder auf der schummerigen Dienststelle im Herzen Zwickaus. Auf dem Schreibtisch ein alter Fußball-Wimpel von Sachsenring Zwickau, dem Fußballclub; an der Wand dahinter ein Kalender der Raiffeisen-Bank. Genau an dem Nagel, «wo früher der Genösse Honegger hing», wie Ernst später erklärt.
Durch die offene Tür zur kleinen Küche können wir frisch aufgebrühten Kaffee in eine Maschine träufeln hören. Sein Aroma überdeckt fürs Erste den Geruch des bräunlichen PVC-Bodens, der sich durch die ganze Etage zieht. Dann sind unsere Gastgeber mit vier großen Tassen, einem Teller Zuckerwürfel und mehreren Päckchen Kaffeesahne wieder bei uns.
«Wie groß ist denn Ihre Kripo hier», frage ich vorsichtig, «und wie viele Leute könnten Sie für die Ermittlungen abstellen?»
Jetzt zeigt Herr Ernst auf Herrn Liebner, und Herr Liebner zeigt auf Herrn Ernst.
Es stellt sich schnell heraus, dass wir hier sehr willkommen sind. Die beiden Kriminalpolizisten können jeden gebrauchen, der sie bei ihrer Arbeit unterstützt. Darum wollen sie bei der Zwickauer Staatsanwaltschaft rasch beantragen, dass ich Akteneinsicht erhalte. Ab dann, sagt Herr Ernst, könnten wir «zusammen marschieren». Ein deutsch-deutsches Team auf heißer Spur.
«Wir möschden den Fall glären, und ihr möchtet’s ’n doch auch glären. Völlisch logisch, oder?»
«Wenn es denn ein Fall ist», werfe ich ein. «Aber davon ist eigentlich schon auszugehen. Das sagt mir mein Bauchgefühl.»
«So, Ihr Bauchgefühl. Und meen Bauch sacht mir, dass er jetzt was züm Aabeeden braucht. Haben Sie überhaupt schon was gegössn?»
***
Fünf Tage lang wache ich von nun an jeden Morgen unter den wuchtigen Armen eines altmodischen Kronleuchters auf. Er hängt etwa vier Meter über mir, an einer starken Messingstange, und beobachtet mich von dort aus durch seine Glühbirnen. Ich habe nicht das schönste, aber das größte Zimmer im besten Hotel, das es derzeit in Zwickau gibt. Von da gehen Dirk Eckstein und ich meist zu Fuß zur Polizeistation. Es sei denn, die Kripo-Kollegen wollen lieber im Mercedes nach Friedrichsgrün fahren. Ein Gefallen, den wir ihnen ab und an gerne tun.
Haus um Haus fragen wir in der Nachbarschaft vom Preußischen Hof, wer hier in der Brandnacht etwas Verdächtiges beobachtet hat. Das ergibt einen großen, bunten Strauß voller Nichtigkeiten. Dann sprechen wir an der Brandstelle mit Herrn Lück, dem Vorbesitzer: ein schrulliger Mann Mitte sechzig, der sich allmählich aus seinen Geschäften zurückziehen will. Da sei dieser junge Kerl mit den längeren Haaren aus der Nähe von Regensburg vor einem halben Jahr gerade recht gekommen, wie Lück nur zögernd zu verstehen gibt – immer auf der Hut, dass er zu freundlich wirken könnte. Der Kerl, der ihm am Ende gleich mehrere Schecks über insgesamt rund 600000 Mark hingelegt habe.
«Sechshunderddausend», wiederholt Liebner und schaut Kommissar Ernst, seinen Vorgesetzten, an. «Für unsereens ’n Haufen Göld. Aber nich’ für so ’n Riesenschubben.»
Von dem Moment an wird Herr Lück immer einsilbiger, bis er sich kurz angebunden in seinen neuen BMW verabschiedet. Termine, Geschäfte. Dringend. Umso aufmerksamer hören wir später in Zwickau den Kripo-Leuten zu, als sie von einem kleineren Brandfall in der Diskothek erzählen – gerade mal zweieinhalb Monate her. Ein neuer Besitzer und ein erster Brand, der schnell gelöscht werden konnte – und dann, nach kurzer Pause, gleich der nächste. Dirk und ich werfen uns nur Blicke zu: Wenn wir jetzt noch nicht hellhörig geworden wären, hätten wir für unseren Job einfach kein Talent.
Jeden Vormittag treffen wir uns mit Ernst und Liebner, um wieder «naus» zu fahren, wie sie das nennen. Dabei nehmen wir uns jetzt die Leute vor, die an dem letzten Abend im Schuppen gearbeitet haben. Und fast jeden Abend landen wir im Restaurant des Hotels, wo Dirk vor meinen Augen pralle Schweinshaxen und Würste verdrückt, die er mit Halbliterhumpen Bier herunterspült. Keine Ahnung, wie er dabei noch unablässig über den Fall und unsere nächsten Schritte reden kann.
Wir sprechen im Team oder auch mal allein mit mehreren Bierzapfern, etlichen Serviererinnen und einem maulfaulen Diskjockey aus dem nahen Schneeberg, die alle im Preußischen Hof gearbeitet haben. Und mit einem drahtigen jungen Kerl, der für alle bloß Udo heißt, wie er mir gleich zu Beginn unseres Gesprächs erklärt. Udo der Kickboxer.
Ich treffe ihn allein in seiner kleinen Wohnung, gleich um die Ecke vom Gewandhaus am Hauptmarkt in Zwickau. Und hier, bei einer Tasse starken Kaffees, stoße ich endlich auf die erste Spur. Das geschieht, als ich ihn nach den letzten Gästen frage, die am Abend vor dem Brand in die Disco gegangen sind. Wie auf Knopfdruck kann sich der kleine Mann mit der schlanken Figur, der damals im Preußischen Hof aushalf, an einen merkwürdigen Fremden erinnern. Er war der letzte Gast, ist er sich sicher, der den Hof kurz vor der Schließung noch betreten hat.
«So ’ne Type mit ’nem Hoarzopf», sagt Udo mit leichtem bayrischen Akzent, «der hat sich in jedem Raum umgesehen. Könnt an Spanier oder Italiener g’wesen sein.»
«Hat er denn irgendwas zu Ihnen gesagt, oder zu sonst wem?»
«G’sagt hodda fast nix. Nur überall g’schaut hodda.»
Der Mann mit dem Zopf wird der Erste, nach...