Störungen unter der Kuppel
In Edgar G. Ulmers Horrorklassiker Die schwarze Katze (The Black Cat, 1934) verkörpern die beiden Hauptdarsteller Bela Lugosi (Dr. Werdegast) und Boris Karloff (Poelzig) die beiden Erscheinungsformen des »Untoten«, wobei sie jeweils ihren bekannten Leinwand-klischees entsprechen – Lugosi spielt den gespenstischen Überlebenden, der von seiner traumatischen Vergangenheit besessen ist, Karloff ein maschinenhaftes Ungetüm, das heißt, es stehen sich der vampirartige Untote und das Frankenstein’sche Monster gegenüber (was durch die Art ihres Schauspiels deutlich wird: Lugosi zeigt die Dracula-typischen Manierismen, Karloff agiert mit hölzernen Gesten). So läuft der ganze Film auf eine theatralisch inszenierte sadomasochistische Folterszene am Schluss zu, in der Lugosi damit beginnt, Karloff bei lebendigem Leib die Haut abzuziehen. Entspricht dieser Gegensatz nicht dem auf ein Minimum reduzierten Klassenkampf, dem Konflikt zwischen dem aristokratischen Vampir und dem proletarischen lebenden Toten? Welche Form hat das Abziehen der Haut demnach in unserer Zeit angenommen?
In der ersten Hälfte des Jahres 2015 wurde Europa von radikal emanzipatorischen Bewegungen wie Syriza und Podemos in Atem gehalten, während sich die Aufmerksamkeit in der zweiten Jahreshälfte auf das »humanitäre« Problem der Flüchtlinge verlagerte – der Klassenkampf wurde von den liberal-kulturellen Themen Toleranz und Solidarität buchstäblich verdrängt und ersetzt. Nach den Terroranschlägen am Freitag, dem 13. November 2015 in Paris wurde selbst die Flüchtlingskrise (die immer noch mit großen sozioökonomischen Problemen einhergeht) durch eine schlichte Gegenüberstellung in den Schatten gestellt, die sämtliche demokratischen Kräfte in einen gnadenlosen Krieg mit den Kräften des Terrors verwickelt sah – und man kann sich denken, was dann folgte: eine paranoide Suche nach IS-Agenten unter den Flüchtlingen und so weiter (die Medien vermeldeten hämisch, dass zwei der Terroristen als Flüchtlinge über Griechenland nach Europa gelangt waren).[12] Die größten Opfer der Pariser Terroranschläge werden die Flüchtlinge selbst sein, und die wahren Gewinner hinter Platituden à la Je suis Paris werden natürlich die Anhänger eines totalen Krieges auf beiden Seiten sein. Wir sollten die Morde von Paris wirklich verurteilen, und zwar nicht, indem wir pathetisch unsere antiterroristische Solidarität zur Schau stellen, sondern indem wir beharrlich fragen: Cui bono? Wem nützen die Massaker? Wir brauchen kein »tieferes Verständnis« der IS-Terroristen (in dem Sinn, dass ihre schrecklichen Taten immer auch Reaktionen auf die brutalen Interventionen der Europäer sind); die Terroristen sollten als das charakterisiert werden, was sie sind: das islamo-faschistische Gegenstück zu den europäischen einwanderungsfeindlichen Rassisten – es sind zwei Seiten derselben Medaille.
Es gibt jedoch noch einen anderen, eher äußerlichen Aspekt, der uns zu denken geben sollte, und das ist die Form der Anschläge selbst – eine zeitweilige brutale Störung des normalen Lebens. (Die angegriffenen Ziele stehen bezeichnenderweise nicht für den Militär- oder Politikapparat, sondern für die alltägliche Populärkultur: Restaurants, Veranstaltungsorte für Rockkonzerte und so weiter.) Diese Form des Terrorismus – eine zeitweilige Störung – ist charakteristisch für Anschläge in westlichen Industrieländern; in vielen Ländern der Dritten Welt sieht es dagegen ganz anders aus, denn hier ist die Gewalt eine Dauertatsache des Lebens. Versuchen Sie sich den Alltag im Kongo, in Afghanistan, in Syrien, im Irak oder im Libanon vorzustellen – wo bleiben die Aufschreie und internationalen Solidaritätsbekundungen, wenn dort Hunderte sterben? Wir sollten uns jetzt daran erinnern, dass wir unter einer Art Kuppel leben, wo die terroristische Gewalt eine Bedrohung ist, die nur von Zeit zu Zeit ausbricht, während das alltägliche Leben in vielen anderen Ländern (mit Beteiligung oder Mitschuld des Westens) ununterbrochen von Terror und Brutalität geprägt ist.
In seinem Buch Im Weltinnenraum des Kapitals zeigt Peter Sloterdijk, wie das Weltsystem mit der heutigen Globalisierung seine Entwicklung vollendet hat und als kapitalistisches System sämtliche Bedingungen des Lebens bestimmt. Das erste Symbol dieser Entwicklung war der Londoner Kristallpalast, der Ort der ersten Weltausstellung von 1851. Er steht für die unausweichliche Exklusivität der Globalisierung als Errichtung und Ausweitung eines Weltinnenraums, dessen Grenzen unsichtbar, aber von außen praktisch unüberwindbar sind und der inzwischen von anderthalb Milliarden »Globalisierungsgewinnern« bewohnt wird. Die dreifache Menge Menschen bleibt außen vor. Infolgedessen ist »der Weltinnenraum […] keine Agora und keine Verkaufsmesse unter offenem Himmel, sondern ein Treibhaus, das alles vormals Äußere nach innen gezogen hat«.[13] Dieses auf kapitalistischen Überschüssen errichtete Innere bestimmt alles: »Die Haupttatsache der Neuzeit ist nicht, daß die Erde um die Sonne, sondern daß das Geld um die Erde läuft.«[14] Nach dem Prozess, der die Welt in den Globus verwandelt hat, konnte »sich das soziale Leben […] nur in einem erweiterten Interieur, in einem hausartig geordneten und künstlich klimatisierten Binnenraum, abspielen«.[15] Mit der Herrschaft des kulturellen Kapitalismus werden alle weltformenden Aufstände unter Kontrolle gehalten: »Unter solchen Bedingungen könnten keine historischen Ereignisse mehr eintreten, allenfalls Haushaltsunfälle.«[16] Sloterdijk weist zu Recht darauf hin, dass die kapitalistische Globalisierung nicht nur für Offenheit und Eroberung steht, sondern auch für eine in sich geschlossene Kuppel, die ihr Inneres vom Äußeren trennt. Die beiden Aspekte sind untrennbar miteinander verbunden: Die globale Reichweite des Kapitalismus hat ihren Grund darin, dass er eine radikale Klassenteilung auf dem gesamten Globus herbeigeführt hat, welche diejenigen, die von dieser Sphäre geschützt werden, von denen außerhalb ihres Schutzes trennt.
Die jüngsten Terroranschläge in Paris wie auch der Flüchtlingsstrom erinnern uns für einen kurzen Moment an die gewalttätige Welt außerhalb unserer Kuppel, eine Welt, die uns Insidern meist nur in Fernsehberichten über ferne, von Gewalt beherrschte Länder begegnet – nicht als Teil unserer Wirklichkeit, sondern als in sie eindringend. Es ist unsere ethisch-politische Pflicht, die Realität außerhalb unserer Kuppel nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern auch unsere Mitverantwortung für die dort stattfindenden Gräuel vollkommen einzugestehen. James Mangolds Thriller Cop Land (1997) spielt in der fiktiven Stadt Garrison am gegenüberliegenden Flussufer von Manhattan in New Jersey, wo der korrupte Polizist Ray Donlan (gespielt von Harvey Keitel) einen Ort geschaffen hat, an dem die New Yorker Polizisten und ihre Familien ein sicheres Leben führen können. Als der ehrliche Polizist Freddy Heflin (Sylvester Stallone) moralische Bedenken gegen die Vorgehensweise seines Kollegen äußert, erwidert Donlan:
Freddy, ich habe Männer eingeladen – Polizisten, gute Männer –, in dieser Stadt zu leben. Und um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, überqueren diese Männer täglich die Brücke in die Stadt, wo alles auf dem Kopf steht, wo der Bulle der Täter ist und der Täter das Opfer. […] Sie haben bloß ihre Familien da rausgeholt, bevor es brenzlig wurde. Wir haben einen Ort geschaffen, wo es vernünftig zugeht, wo man ohne Angst über die Straße gehen kann. Und jetzt kommst du und willst die Dinge zurechtrücken. Die ganze Stadt soll Händchen halten und »We Are the World« singen. Sehr schön. Aber, Freddy, dein Plan ist der Plan eines Jungen, ein unüberlegter Schnellschuss. Du hast ihn gemacht, ohne dir die Karten anzusehen. Ich sehe mir das Blatt an, und ich sehe diese Stadt zerstört. Das ist nicht das, was du willst, oder?
Es ist unschwer zu erkennen, inwieweit Donlans quasi-ontologische Sicht der gesellschaftlichen Wirklichkeit falsch ist: Die Gruppe von Polizisten schafft sich einen sicheren Hafen, indem sie sich aus dem korrupten Manhattan zurückzieht, doch nur ihre Beteiligung am korrupten und verbrecherischen Universum Manhattans versetzt sie überhaupt in die Lage, die Kriminalität von ihrem Viertel fernzuhalten und ihr sicheres und angenehmes Leben weiterzuführen. Das bedeutet, gerade ihr Bemühen um einen sicheren Hafen trägt zur systematischen Vermehrung des Verbrechens in Manhattan bei – und dasselbe lässt sich auch für alle anderen Kriminellen Manhattans sagen, mit Ausnahme der Kleinkriminellen auf den Straßen. Tun nicht auch Mafiabosse, was sie tun, um ihren Familien einen sicheren Hafen zu bieten? Man beachte die Zirkularität dieser Konstellation: Das Bemühen, einen sicheren Hafen zu schaffen und vor der verrückten Außenwelt zu schützen, erzeugt genau die Welt, vor der es uns schützen will. Begegnet uns das gleiche Paradox nicht auch in Songdo City, der neuen Planstadt für eine Viertelmillion Einwohner, die in der Nähe der südkoreanischen Großstadt Incheon aus dem Boden gestampft wird und wie ein in Stein gemeißeltes ideologisches Manifest wirkt? Der ehemalige italienische Senator Francesco Martone...