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Der Mythos des Athamas in der griechischen und lateinischen Literatur

AutorManuel Caballero González
VerlagNarr Francke Attempto
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl628 Seiten
ISBN9783823300045
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis70,40 EUR
Die mythische Figur Athamas ist in die Literaturgeschichte als Prototyp des durch die Götter mit Wahnsinn gestraen Menschen eingegangen: Er tötet seinen Sohn Learchos, verfolgt seine Frau Ino und seinen anderen Sohn Melikertes und zwingt sie dazu, sich ins Meer zu stürzen. Durch eine eingehende Untersuchung dieses Mythos zeichnet das Buch ein anderes, dierenzierteres Bild dieser Gestalt. In der Überlieferung sind drei verschiedene Versionen zu unterscheiden, in denen Athamas entweder als Teil der Vorgeschichte der Argonauten, als Prototyp von Wahnsinn oder als sekundäre Figur gilt. Die Untersuchung ergibt, dass Athamas berechtigterweise sowohl als homo sacricans, wie auch als homo furens und als homo ignauus bezeichnet werden kann. Der Mythos zeigt nicht drei verschiedene Figuren, sondern eine Person aus drei unterschiedlichen Perspektiven.

Dr. Manuel Caballero González ist Lehrbeauftragter am Institut für Griechische und Lateinische Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München.

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Leseprobe

Einleitung


Ziele, Methodologie und Gliederung


Die vorliegende Arbeit, begonnen im Jahre 2005, will zur Untersuchung der Figur des Athamas innerhalb der Klassischen Philologie beitragen; dafür war eine ausführliche Untersuchung der Charaktere und der Texte, die sich in der Welt des Athamas bewegen, notwendig.

Bisher ist nur eine Monographie zum Thema erschienen, La figure de Athamas dans la litérature grécolatine. Sie ist das Ergebnis einer von Anne-Claire Soussan an der Universität in Paris X Nanterre geschriebenen Dissertation und gilt als eine grundlegende Arbeit für die Erforschung des Mythos von Athamas. Das Buch hat eine deutlich anthropologische Orientierung. Deshalb betont die Verfasserin einige Aspekte wie die Opferriten in der von uns so bezeichneten I-P-H Version oder die Entstehung der dionysischen Zeremonien der Auferstehung in der I-L-M Version. Solche Elemente werden auch in der vorliegenden Arbeit ausführlich besprochen; diese unterscheidet sich jedoch von Soussans Buch im Folgenden: Hier wird versucht, den Mythos des Athamas anhand der Texte zu rekonstruieren, die ihn überliefern. Mein Ziel ist daher eher ein philologisches und will alle Belege des Mythos dia- und synchronisch analysieren.

Zunächst muss festgehalten werden, dass die Figur des Athamas im wissenschaftlichen Kosmos der klassischen Philologie innerhalb der komplexen Welt der mythischen Erzählung nie groß beachtet wurde, obwohl seine Sage die Aufmerksamkeit des Ecksteins der griechischen Literatur, nämlich Homers, und der großen Poeten der Klassischen Epoche, wie des berühmten Pindar, auf sich gezogen hatte; man darf auch die drei großen griechischen Tragödiendichter, Aischylos, Sophokles und Euripides nicht außen vorlassen, die Stücke schrieben, die im Titel den Namen unseres Helden, seiner Frau (Ino) oder eines seiner Kinder (Phrixos) enthalten und Ansichten und verschiedene Bearbeitungen des Mythos dokumentieren. Athamas war auch der Protagonist von Komödien, und sein Charakter sowie seine Sage erscheinen in den vielseitigen Gattungen und Epochen der griechischen und lateinischen Literaturen, von Homer bis zum fünfzehnten Jahrhundert n. Chr. in griechischen Schriften, und vom dritten Jahrhundert v. Chr. bis zur Renaissance in lateinischen Schriften (spätere Autoren werden in dieser Untersuchung nicht berücksichtigt). Leider existieren von vielen Werken – griechischen wie lateinischen –, in denen der mythologische Charakter von Athamas und seiner Sage eine außerordentliche Rolle spielte, ausschließlich einige wenige Fragmente und kurze Nachrichten (oft nur die bloße Erwähnung eines Titels). Jedenfalls zeigt uns die Vielfalt der Gattungen (Epik, Lyrik und Elegie, Tragödie, Komödie, Rhetorik, wissenschaftliche und gelehrte Prosa, grammatikalische Werke usw.), in denen die Figur des Athamas behandelt worden ist, welch tiefe Kenntnis die Alten von Athamas hatten, wenn nur eine kurze und einfache Andeutung reichte, um alle Abenteuer unseres Helden ins Gedächtnis zu rufen. Ohne Zweifel hat die Tragödie – mehr als jede andere Gattung – dazu beigetragen, Athamas berühmt zu machen. Vielleicht waren einige tragische Szenen so beliebt, dass sie die Schriftsteller, die später über verschiedene Themen, wie das Opfer, das Goldene Vlies, den Wahnsinn, Inos Sprung oder den tödlichen Fehler Themistos schrieben, stark beeinflussten.

Ziel meiner Arbeit ist es, eine vollständige Studie nicht nur zu Athamas, sondern auch zu seiner Sage zu erstellen. Denn Athamas’ Mythos dreht sich nicht einzig und allein um Athamas selbst, sondern oft übernehmen andere Figuren in seinen Abenteuern eine besondere Rolle – manchmal sogar noch wichtigere – z.B. seine Frauen Nephele, Ino und Themisto, seine Kinder Phrixos und Helle, Learchos und Melikertes, Leukon, Erythrios, Schoineus, Ptoos und Porphirion oder selbst der Widder. Aus diesem Grund wird diesen Figuren ein großes Kapitel gewidmet.

Zunächst werden die literarischen Quellen analysiert, die von unserer Hauptfigur1 sprechen. Sie wurden aufmerksam gelesen und mit Hilfe der Kommentare und der Fachliteratur interpretiert. In diesem Sinne stimmen meine Ansichten ganz und gar mit denen von Antonio Ruiz de Elvira überein, der sagt: „Lo único que a nuestro juicio tiene rango científico en las investigaciones mitológicas es el estudio directo de los materiales o datos concretos sobre los mitos, estudio que debe hacerse exhaustivamente, pero poniendo sumo cuidado en marcar la diferencia entre lo que dicen esos datos y lo que se suple con la fantasía“2. Gemäß dieser These wird sich meine Arbeit meist auf die Quellen beschränken, in denen Athamas und seine Familie vorkommen. Ruiz de Elvira weist auch darauf hin, wie wichtig eine komparative Untersuchung des Mythos ist. Eine solche wird auch hier angewendet3, wenngleich auf eine meiner Arbeit gemäße und reduzierte Art und Weise.

Die vorliegende Arbeit ist folgendermaßen gegliedert: Im ersten Kapitel wird eine Untersuchung der literarischen Darstellung von Athamas angestrebt, zunächst in der griechischen, dann in der lateinischen Literatur. Vier Verfasser4 können als Hauptautoren für die Entwicklung des Mythos von Athamas betrachtet werden, nämlich die drei griechischen Tragiker Aischylos, Sophokles und Euripides und der große lateinische Dichter Ovid, der als Meilenstein in der Fassung, dem Verständnis und der Überlieferung des Mythos von Athamas gilt. Aufgrund des begrenzten Umfangs dieser Arbeit wird eine ausführliche Analyse der erhaltenen Fragmente der Tragödien Athamas, Phrixos und Ino der griechischen Tragiker unterlassen: Nur die theoretische Untersuchung des Mythos bei diesen Autoren wird vorgenommen. Alle Erwähnungen der Sage des Aioliden bei Ovid werden aber vollständig untersucht. Mit dieser unverkürzten Erforschung wird jede einzelne Textstelle im Detail analysiert: welche Rolle der Mythos spielt, wie er zum allgemeinen Ton des jeweiligen Werkes passt und welches Bild von Athamas dargeboten wird. Wo es möglich ist, wird zugleich versucht, eine Begründung für die dargestellten Varianten des Mythos zu finden. Ich werde mich in dieser Untersuchung der finnischen Schule und vor allem der Werke von Propp bedienen, soweit sie die Analysis der Motive von Volksmärchen5 betreffen, die aus dem Mythos von Athamas gelesen werden können.

Das folgende Kapitel behandelt die wichtigen Themen jeder Version. Dabei werden die großen konzeptuellen Bildrahmen, nämlich die Version Ino-Phrixos-Helle (I-P-H), die Version Ino-Learchos-Melikertes (I-L-M) und die Version Ino-Themisto (I-T)6 analysiert.

Innerhalb der Version I-P-H werden die drei Hauptfiguren dieser Handlung beleuchtet. An erster Stelle steht Phrixos, dessen Geschichte in drei Teile geteilt wird: 1) das Thema der Stiefmutter (hier wird auf die Art der Intrigen genauer eingegangen); 2) das Thema des Menschenopfers (das spielt in dieser Version des Mythos eine bedeutsame Rolle im Hinblick auf alle Arten von Todesstrafe, nämlich als Versöhnung, als echte Strafe, als Katharsis, als Paradigma, als Einweihung, als Beispiel von Unfrömmigkeit); 3) das Thema von Phrixos in Kolchis, das Opfer des Widders und das Aushängen seines Vlieses an einem heiligen Ort (dabei spielen auch die Gastfreundschaft des Königs Aietes sowie die Gründung einer Familie in jenen fernen Ländern eine Rolle). An zweiter Stelle wird die Figur des Widders analysiert, dessen Handlungsfeld mit der geographischen Lokalisierung zu tun hat: Hellas, wo der Widder als Retter vorgestellt wird; seine Fahrt, entweder in der Luft oder auf dem Meer; Kolchis, wo er, nach den meisten Quellen, geopfert wurde – sein Fell war der Grund für den...

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