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Der Ruf der Stille

Die Geschichte eines Mannes, der 27 Jahre in den Wäldern verschwand

AutorMichael Finkel
VerlagGoldmann
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783641169244
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Sehnsucht nach Stille - wie Christopher Knight 27 Jahre in der Wildnis lebte.
Im Sommer 1986 begibt sich Christopher Knight auf einen Roadtrip von Massachusetts nach Maine und verschwindet in den Wäldern. 27 Jahre lang bleibt er dort, abgeschieden von der Welt, ohne menschlichen Kontakt, bis er wegen Diebstahls gefasst wird: Er hatte Essen geklaut. In einem einfachen Zelt überlebte Knight die härtesten Winter, weil er klug wie ein Eichhörnchen Vorräte gebunkert und alles darauf ausgerichtet hatte, nicht zu erfrieren. In den nahegelegenen Ferienhäusern versorgte er sich mit Lebensmitteln, Kleidung und Büchern und verstörte als unheimliches Phantom die Bewohner von North Pond. Der Journalist Michael Finkel hat das außergewöhnliche Leben des Chris Knight dokumentiert. Entstanden ist eine fesselnde Story, die den fundamentalen Fragen über ein gutes Leben nachgeht und das tief bewegende Porträt eines Mannes hinterlässt, der sich seinen Traum erfüllte: ein Leben in absoluter Stille.

Michael Finkel ist Journalist und Autor von 'True Story - Spiel um Macht', einem Thriller und gleichnamigen Kinofilm (2015). Er schreibt für National Geographic, GQ, Rolling Stone, Esquire, Vanity Fair, The Atlantic und The New York Times Magazine. Finkel lebt mit seiner Familie in Montana. Zuletzt erschien von ihm im Goldmann Verlag Der Ruf der Stille.

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Leseprobe

4

»Geburtsdatum?«

»7. Dezember 1965.« Es sind gestammelte rasselnde Laute, die aus seinem Mund kommen, eine alte Maschine, die anzuspringen versucht, jede Silbe ein Kraftakt. Aber immerhin versteht man ihn. Vance notiert das Datum.

»Alter?«

Erneut verfällt der Mann in Schweigen. Sein Name und sein Geburtsdatum sind beständige Relikte, fest verankert in seinem Gedächtnis. Sosehr man es auch möchte, alles kann man offenbar nicht vergessen. Die Jahre aber sind austauschbar, das hat er bewiesen. Also beginnt er nachzurechnen, zählt mit den Fingern ab. Okay, aber welches Jahr haben wir gerade? Sie lösen das Problem gemeinsam, er und Vance. Es ist 2013. Donnerstag, der 4. April. Christopher Knight ist siebenundvierzig Jahre alt.

»Adresse?«, fragt Vance.

»Keine.«

»Wohin schickt man Ihre Post?«

»Keine Post.«

»Welche Adresse tragen Sie in Ihre Steuererklärung ein?«

»Keine Steuererklärung.«

»Wohin schickt man Ihre Erwerbsunfähigkeitsschecks?«

»Keine Schecks.«

»Wo steht Ihr Auto?«

»Kein Auto.«

»Mit wem leben Sie zusammen?«

»Mit niemandem.«

»Wo wohnen Sie?«

»Im Wald.«

Vance ist klar, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt ist, um die Richtigkeit seiner Angaben infrage zu stellen. Am besten lässt sie den Mann einfach reden. »Wie lange leben Sie denn schon im Wald?«, fragt sie ihn.

»Seit Jahrzehnten.«

Vance hätte es gern etwas genauer. »Seit welchem Jahr?«, hakt sie nach.

Schon wieder diese Jahreszahlen. Er hat sich entschlossen zu reden, und es ist ihm wichtig, sich streng an die Wahrheit zu halten. Alles andere wäre eine Verschwendung von Worten. Er konzentriert sich, schaut zu den Fenstern, hinter denen es noch immer stockfinster ist. Er erinnert sich an etwas.

»In welchem Jahr war das Reaktorunglück in Tschernobyl?«, fragt er.

Sobald er es ausspricht, wünscht er, es nicht gesagt zu haben. Jetzt wird die Polizistin ihn für einen durchgeknallten Umweltaktivisten halten. Dabei ist es doch nur ein Ereignis aus den Nachrichten, an das er sich zufällig erinnert. Aber das dafür nötige Vokabular abzurufen, um diesen Punkt klarzustellen, scheint ihm unmöglich. Deshalb lässt er es dabei bewenden. Vance schaut auf ihrem Smartphone nach: Tschernobyl war 1986.

»Da bin ich in den Wald gezogen«, sagt Knight. Vor siebenundzwanzig Jahren. Er hatte noch nicht lange die Highschool abgeschlossen, und heute ist er ein Mann mittleren Alters. Er erklärt, all die Jahre im Zelt gelebt zu haben.

»Wo?«, fragt Vance.

»Ein Stück entfernt von hier, irgendwo im Wald«, sagt Knight. Er hat nie den Namen seines Gartenteichs in Erfahrung gebracht, und deshalb weiß er natürlich erst recht nicht, in welcher Stadtgemeinde er sich befindet: in Rome, Maine, Einwohnerzahl eintausendundzehn. Allerdings kann er jede einzelne Baumart in seinem Wald benennen, und in vielen Fällen kann er sogar beschreiben, wie die Äste der verschiedenen Bäume angeordnet sind.

»Wo haben Sie die Winter verbracht?«, fragt Vance.

Er sei in seinem Nylonzelt geblieben, beharrt er, und in all den Wintern habe er kein einziges Mal ein Feuer entzündet. Der Rauch hätte seinen Standort verraten können. Jeden Herbst habe er einen Lebensmittelvorrat angelegt, und dann habe er sein Lager fünf oder sechs Monate lang nicht verlassen, bis der Schnee so weit geschmolzen war, dass er durch den Wald habe ziehen können, ohne Spuren zu hinterlassen.

Vance benötigt einen Moment, um das zu verarbeiten. Die Winter in Maine sind lang und extrem kalt – eine feuchte windige Kälte, die schlimmste Kälte überhaupt. Im Winter eine Woche zu zelten ist beeindruckend. Einen ganzen Winter im Zelt zu verbringen, so etwas hat es praktisch nie gegeben. Sie entschuldigt sich und geht durch die Schwingtür in die Küche.

Die Männer trinken Kaffee, behalten Knight durch das große rechteckige Türfenster im Auge. Vance berichtet ihnen, was er gesagt hat. Keiner ist sich sicher, wie viel man davon glauben könne. Bevor der Mann zu reden aufhöre, merkt Hughes an, sollten sie unbedingt erfahren, was er zu dem Einbruch zu sagen habe.

Vance kehrt zu Knight zurück, und Hughes öffnet die Tür einen Spaltbreit, um zu lauschen. Praktisch alle ihm bekannten Kriminellen streiten ihre Taten ab – sie schwören bei Gott, es nicht gewesen zu sein, selbst wenn man sie dabei beobachtet hat.

»Wie sind Sie in dieses Gebäude hineingelangt?«, fragt Vance den Mann.

»Ich habe mit einem Schraubenzieher das Türschloss geknackt«, sagt Knight. Um in den Kühlraum zu gelangen, fügt er an, habe er einen Schlüssel benutzt, den er vor einigen Jahren gestohlen habe. Er deutet auf den Kleeblatt-Schlüsselanhänger, der zwischen den anderen Sachen auf dem Tisch liegt.

»Woher stammt das Geld?« Vance meint die Scheine, insgesamt dreihundertfünfundneunzig Dollar, die sie gerade aus seiner Brieftasche genommen hat.

»Habe ich über die Jahre gesammelt«, sagt Knight. Hier und dort ein paar Scheine, überwiegend Eindollarnoten, von unterschiedlichen Einbruchsorten. Er habe gedacht, irgendwann müsse er vielleicht einmal in die Stadt gehen, um etwas Bestimmtes zu kaufen, aber dazu sei es nie gekommen. Er sagt, während der gesamten Zeit im Wald habe er kein einziges Mal Geld ausgegeben.

Vance bittet ihn zu schätzen, wie oft er in Blockhütten, Häuser oder in das Ferienlager eingebrochen sei. Es folgt ein langer Moment der Stille, während Knight nachzurechnen scheint. »Vierzigmal im Jahr«, sagt er schließlich. Siebenundzwanzig Jahre lang.

Nun ist Vance mit Kopfrechnen an der Reihe. Die Gesamtzahl der Einbrüche liegt bei über eintausend – tausendundachtzig, um genau zu sein. Jedes einzelne Mal eine Straftat. Beinah sicher ist es der größte Einbruchsfall in der Geschichte Maines. Was die Anzahl der einzelnen Einbrüche betrifft, ist es womöglich sogar der größte im ganzen Land. Vielleicht auf der ganzen Welt.

Knight erklärt, ausschließlich nachts in die Hütten eingestiegen zu sein, nachdem er gewissenhaft sichergestellt habe, dass niemand zu Hause sei. Er sei nie in ein Haus eingebrochen, in dem dauerhaft Leute wohnen, weil dort die Wahrscheinlichkeit höher sei, dass die Bewohner unerwartet auftauchen. Er habe die Einbrüche ausschließlich in Ferienhütten und im Pine Tree Camp verübt. Manchmal seien die Hütten nicht abgeschlossen gewesen; manchmal habe er ein Fenster oder eine Tür aufgestemmt. Allein ins Pine Tree Camp sei er bestimmt hundertmal eingebrochen. Er habe immer alles mitgenommen, was er fortschaffen konnte, aber es sei nicht viel gewesen, deshalb habe er regelmäßig zurückkehren müssen.

Vance erklärt Knight, er werde alle entwendeten Gegenstände zurückgeben müssen, und bittet ihn anzugeben, was ihm gehört. »Alles ist gestohlen«, sagt er. Sein Rucksack, seine Stiefel, das Einbruchswerkzeug, alle seine Lagerutensilien und jedes Kleidungsstück, das er trägt, bis hin zur Unterwäsche. »Das Einzige, was wirklich mir gehört«, sagt er, »ist meine Brille.«

Vance fragt, ob seine Familie in der Gegend wohne. »Das möchte ich lieber nicht beantworten«, sagt er. Er wisse nicht, ob seine Eltern noch leben – er habe zu niemandem Kontakt gehabt –, aber falls sie noch leben, hoffe er, dass sie nicht von seiner Ergreifung erfahren. Vance fragt ihn nach dem Grund, und Knight erklärt, er sei nicht zum Einbrecher erzogen worden. Er sagt, er schäme sich zutiefst.

Schließlich erklärt Knight, im zentralen Maine aufgewachsen zu sein. Er war nicht beim Militär. Er sagt, 1984 habe er an der Lawrence Highschool in Fairfield seinen Abschluss gemacht. Chesley, der Leiter des Pine Tree Camp, erklärt, seine Frau sei auf dieselbe Schule gegangen und habe dort zwei Jahre nach Knight graduiert. Irgendwo zu Hause müsste noch das Jahrbuch von 1984 liegen. Hughes bittet Chesley, nach Hause zu fahren und es zu holen.

Vance ruft die Einsatzzentrale an, damit Knight überprüft wird. Er hat kein Vorstrafenregister; es liegt kein Haftbefehl gegen ihn vor. Er ist nicht als vermisst gemeldet. Sein Führerschein ist 1987 an seinem Geburtstag abgelaufen.

Chesley kehrt mit dem Jahrbuch zurück, dem Lawrence Lyre, auf dessen marineblauem Buchdeckel in großen silbernen Ziffern eine »84« prangt. Das Jahrgangsfoto von Chris Knight, wie er dort heißt, zeigt einen Jungen mit zerzaustem Haar und großer, klobiger Brille. Er trägt ein blaues Poloshirt und lehnt mit verschränkten Armen an einem Baum. Er sieht gesund und kräftig aus. Seine Lippen umspielt weniger ein Lächeln als ein schiefes Grinsen. Bei den Sportteams und Schulclubs findet sich kein Foto von ihm.

Es ist schwer zu sagen, ob es dieselbe Person ist, die ihnen im Speisesaal des Pine Tree Camps gegenübersitzt. Knight erklärt, er habe seit Jahren nicht mehr sein Gesicht gesehen, außer vielleicht als verschwommene Reflexion im Wasser. In seinem Lager gebe es keinen Spiegel.

»Wie rasieren Sie sich denn?«, fragt Vance.

»Ohne Spiegel«, antwortet er. Er wisse nicht mehr, wie er aussieht. Blinzelnd starrt er auf das Foto. Man hat ihm die Brille auf den Kopf hochgeschoben, nun zieht er sie wieder auf die Nase hinunter.

In diesem Moment sind Hughes und Vance sich plötzlich sicher – ihr Bauchgefühl sagt es ihnen –, dass alles wahr ist, was sie heute Nacht gehört haben. Die Farbe des Brillengestells ist über die Jahrzehnte verblichen, aber der Jugendliche auf dem Foto und der Mann im Speisesaal tragen offenbar ein und dieselbe Brille.

Es ist jetzt nicht mehr...

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