Einleitung
Für eine gute Geschichte hat die folgende einfach zu viele Namen. Das buntscheckige Personal der letzten sechzig, siebzig Jahre tritt auf, Nationalsozialisten, Politiker, Kirchenleute, Bandenchefs, Terroristen, dazwischen auch Verleger und Anwälte. Der Schauplatz wechselt von Bonn am Rhein an den Genfer See, von München nach Buenos Aires, Jerusalem, Beirut, Moskau, Paris. Wer soll da den Überblick behalten?
Mitten in diesem Durcheinander befindet sich ein Mann, der so dicht von Legenden umwuchert ist, dass ihn niemand kennt. Alles Mögliche wird ihm zugeschrieben: dass er «Odessa» aufgebaut hat, die Fluchthilfeorganisation für ehemalige SS-Angehörige; dass er nach dem Zweiten Weltkrieg das fabulöse Nazi-Gold in die sichere Schweiz geschafft hat; und dass er von dort aus wie eine Spinne im Netz einer weltweit operierenden Verschwörung auf ein «Viertes Reich» hinarbeite. 1986 – fünfzehn Jahre vor dem Angriff auf das World Trade Center – soll er sogar versucht haben, die Freiheitsstatue in New York in die Luft zu sprengen.
Der Mann, um den es hier gehen soll, war aber kein Terrorist, sondern ein solider Geschäftsmann, ein Schweizer, wie er im Kontorbuch steht. Diskrete Geldgeschäfte waren seine Spezialität. Er verfügte über internationale Verbindungen, pflegte einen bescheidenen Lebensstil und war selbstverständlich ein liebevoller Familienvater.
François Genoud führte nicht nur ein unauffälliges, sondern ein mustergültig normales Leben und kam niemals mit den Gesetzen seines Landes in Konflikt. Trotz seines ungewöhnlichen Treibens, das ihn für mehrere Jahre ins Gefängnis hätte bringen müssen, ist er nie belangt worden. Er spazierte bei den Schweizer Bundesbehörden ebenso munter ein und aus wie im Hauptquartier von Wadi Haddad in Beirut, bei einem Mann, der tatsächlich das Gehirn einer schlagkräftigen, rücksichtslosen und international operierenden Terrorgruppe war.
Nein, Genoud war kein Großverbrecher, er hat kein Blut an den Händen, er war bloß ein freischaffender Nazi. Geschehen ist ihm nie etwas. In Algerien landete er zwar einmal kurz im Gefängnis, wurde jedoch mit Hilfe der Schweizer Regierung bald befreit. Er hatte regelmäßigen Umgang mit Waffenhändlern und Freischärlern, mit Luftpiraten und Erpressern, sogar ein Bombenanschlag wurde auf ihn verübt, doch er blieb unverletzt. Seine Freunde starben wie die Fliegen, wurden ermordet, fielen Anschlägen oder dubiosen Unfällen zum Opfer, verschwanden spurlos oder wanderten auf Lebenszeit ins Gefängnis, doch Genoud blieb immer ein freier Mann, der durch die Welt reiste, angeregte Gespräche führte und seine großen und kleinen Geschäfte machte. Wie ein Parzival ist er durch die Welt gegangen, ein weißer Ritter, der scheinbar ganz allein für seine Ideale kämpfte.
In früheren Zeiten hätte man einen Schutzengel am Werk gesehen, der einen vor jeder Art von Gefahr oder Nachstellung bewahrt. Für Genoud wirkten moderne Schutzengel. Bereits während des Zweiten Weltkriegs war er Geheimagent nicht nur einer Seite und flitzte munter zwischen der Schweiz und Deutschland, zwischen Belgien, Frankreich und wieder der Schweiz hin und her. Seine Schutzengel waren immer in der Nähe und traten in unterschiedlichster Gestalt auf: Revolutionäre, Gestapo-Leute, Geheimdienstoffiziere, gern auch Wissenschaftler und Verleger.
Genoud charmierte sie alle mit seiner Freundlichkeit, mit seinem ausgesucht höflichen Benehmen, seiner Hilfsbereitschaft und mit dem, was er seinen Idealismus nannte. So gelang es ihm, obwohl Doppel- und Tripel-Agent, ein klandestines Leben im vollen Licht der Öffentlichkeit zu führen.
Ende der sechziger Jahre beginnt die Schweizer Bundespolizei den Bürger Genoud zu überwachen. Allein in den Jahren 1969 und 1970 fährt er hundertneunundachtzig Mal durch die Schweiz, besucht sechzehn Mal Deutschland, fünfundzwanzig Mal Frankreich, drei Mal Großbritannien, neun Mal Italien, vier Mal Spanien, drei Mal Libyen, sechs Mal den Libanon und fünf Mal Ägypten.2 Warum? Und nicht weniger interessant: Wer bezahlt das?
Geheimdienste verraten gewöhnlich nichts über ihre Mitarbeiter. Eine regelrechte Biographie dieses immer flüchtigen Agenten ist deshalb kaum möglich, zu unbestimmt ist sein flackerndes Erscheinen, zu wenig greifbar sind seine Taten. So lässt sich allenfalls ein Bewegungsbild nachzeichnen, auf dem wenigstens in Andeutungen zu erkennen ist, mit welcher Energie dieser Schattenmann seine dubiosen Anliegen betrieb. Akten müssen helfen, wo verlässliche Aussagen fehlen, Abhörprotokolle widersprüchliche Erinnerungen ergänzen, und ohne Spekulationen über diesen rätselhaften Menschen wird es nicht gehen.
Zunächst aber die Fakten: Zur Jahreswende 2004 auf 2005 erreichte die Rechtsanwältin Cordula Schacht auf Briefpapier der Georg-August-Universität Göttingen die Anfrage, ob sie mit dem Abdruck zweier Gedichte einverstanden sei. Professor Frank Möbus schrieb diesen Brief, und die Gedichte wollte er in einem wissenschaftlichen Aufsatz zitieren, als Beleg für jugendbewegte Lyrik, die Leser, zugegeben, auch ein wenig irreführen, weshalb der Aufsatz nicht gleich offenbart, wer der Autor war, der mit Anfang zwanzig so ekstatisch reimte: «Ich fluche Dir, dreieinger Gott,/Daß Du mich ließest werden,/Und hasse nichts, wie Dich, Phantom,/Auf dieser ganzen Erden./Gib mir ein Beil, und ich zerschlag/Dir Deine Paradeisen,/Und will der Menschheit einen Weg/Zu neuem Glücke weisen.»3
Das Reimpaar «Paradeisen/weisen» widerlegt sogleich die Vermutung, hier handle es sich womöglich um einen sträflich vernachlässigten Poeten oder wenigstens das unbekannte Jugendwerk eines berühmten. Das «Nachtgebet», aus dem die zitierten Zeilen stammen, liegt mit Hunderten weiterer Blätter im Bundesarchiv Koblenz und ist der Forschung zugänglich wie Millionen anderer Blätter auch, Verordnungen, Erlässe, Bescheinigungen, Aktennotizen, Vorgänge der banalsten Sorte. Lyrische Werke wie das zitierte sind in diesem Schatzhaus deutscher Regierungs- und Verwaltungsgeschichte seltener anzutreffen, falls sie nicht von einem anderweitig prominenten Autor stammen. Und so ist es auch hier, der Mann, der Gott sein blasphemisches Gebet entgegenschmetterte, heißt Joseph Goebbels, und war 1919, als er es heißen Herzens niederschrieb, ein ehrgeiziger, wenn auch seiner katholischen Herkunft noch kaum entronnener Dichter.
Einen Erstabdruck könne sie nicht kostenlos genehmigen,4 schreibt die Anwältin nach Göttingen zurück. Sie habe die Interessen der Erben Goebbels’, seiner Geschwisterkinder, zu wahren.5 Frau Schacht wacht über das Urheberrecht des Dichters wie des Ministers Joseph Goebbels.6 Als Juristin betrachtet sie dieses Recht selbstverständlich ohne Ansehen der Person und kümmert sich auch nicht darum, dass aus dem eifrigen Jüngling, der da so flehentlich schreibt (oder auch nur um Worte ringt), der berüchtigte nationalsozialistische Hetzer wurde, der niemals um ein pathetisches Wort verlegene Propagandaminister Hitlers, jener fanatische und fanatisierende Redner, der am 18. Februar 1943 im Berliner Sportpalast nach der Kapitulation der 6. Armee in Stalingrad erst recht zum «totalen Krieg» aufrief: «Nun, Volk, steh auf, und Sturm, brich los!»
Das Urheberrecht ist ein ehrwürdiges Rechtsgut, und nirgends wird es höher gehalten als in Deutschland. Der Schöpfer eines sprachlichen Werks – und als solches können bei großzügiger Auslegung auch Briefe, Tagebuchnotizen, Äußerungen in jeder, aber unbedingt fixierter Form gelten – erwirbt im Augenblick der Niederlegung ein ausschließliches Recht an seinen Worten, das er auch dann, wenn er diese Worte aus der Hand gibt und von einem Verlag drucken lässt, nur als Nutzungsrecht überträgt. Das ist die Voraussetzung für eine Honorierung, ein Entgelt für jeden Abdruck (so er überhaupt genehmigt wird), und zwar noch siebzig Jahre über den Tod des Urhebers hinaus. Das heißt in diesem wie im Fall jedes anderen Autors, dass jedes Mal, wenn urheberrechtlich geschützte Werke von Joseph Goebbels veröffentlicht werden, Tantiemen an seine Erben fällig werden. So werden seine Worte beispielsweise vom Bayerischen Rundfunk als «Kleines Senderecht» mit 3,34 Euro pro zehn Sekunden vergütet.7 Bei Peter Longerichs Goebbels-Biographie (München 2010) werden die Erben sogar am Absatz beteiligt. Mit der historischen Person Goebbels, mit seinen bekannten Taten und Untaten, hat das Urheberrecht nichts zu schaffen.
Dieses rechtskonforme Verhältnis zu einem der größten Kriegsverbrecher nimmt manchmal groteske Formen an: Zwei Jahre lang ist die Schauspielerin Iris Berben durch Deutschland, Österreich und die Schweiz gereist, um parallel aus dem Tagebuch von Anne Frank und jenem von Joseph Goebbels zu lesen, in bester erzieherischer Absicht natürlich. Die Zuhörer sollten mit der Nase darauf gestoßen werden, was den verfolgten Juden im «Dritten Reich» geschah, denen der Propagandaminister unermüdlich drohte. Das Rechtsverhältnis ist eindeutig: Da sie nach wie vor beansprucht werden, sind für jeden der fünfzig Auftritte Tantiemen für Goebbels angefallen. «Um die Aufführungsrechte erhalten zu können», hat der Veranstalter Carpe Diem mit Cordula Schacht eine Pauschalvereinbarung getroffen, schon weil eine «Pauschale keinerlei Abrechnungsdifferenzen aufwirft».8 An die Erben von Anne Frank musste übrigens keine wie immer geartete Pauschale gezahlt werden, anders als an die Erben des Mannes, der – um seine Rolle zu vereinfachen – für ihren Tod im Konzentrationslager Bergen-Belsen wenigstens mitverantwortlich ist. Goebbels...