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Der verlorene Zwilling

Wie ein vorgeburtlicher Verlust unser Leben prägen kann

AutorEvelyne Steinemann
VerlagKösel
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl176 Seiten
ISBN9783641149581
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Frühe Verlusterfahrungen und deren Aufarbeitung
Viele Menschen gehen oft jahrelang in Therapie, um sich von ihren Verlustängsten, unerklärlichen Schuldgefühlen, ihrer Panik in engen Räumen oder anderen unangenehmen Gefühlen zu befreien. Der eigentliche Hintergrund ihrer Probleme wird manchmal erst im Laufe einer solchen Therapie aufgedeckt: Noch im Mutterleib wurden die Betroffenen von einem damals abgegangenen Zwillingskind getrennt. Seither leiden sie - meist unbewusst - unter den Auswirkungen dieser vorgeburtlichen Trennung.

Evelyne Steinemann stellt mit Beispielen aus der therapeutischen Praxis dieses bislang wenig bekannte und unterschätzte Phänomen vor: Weit mehr Zwillinge sterben unbemerkt vor der Geburt als tatsächlich geboren werden. Die Fallbeispiele zeigen, wie dieses Verlusttrauma das Leben prägen und wie es überwunden werden kann.

Evelyne Steinemann (1949-2021) arbeitete 20 Jahre lang als Personal- und Unternehmensberaterin und leitete seit 1999 eine eigene Praxis für Systemische Lösungen und Trauma-Therapie in Zürich. Sie bot Seminare, Fortbildungen und Supervisionen für die Kombination »Trauma und System« an.

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Leseprobe

Chancen und Risiken der Modernen Reproduktionsmedizin


Die verschiedenen Methoden


Die Methoden unterstützender Reproduktionstechnologien haben weltweit schätzungsweise bereits 35 bis 70 Millionen Paare in Anspruch genommen. Und die Tendenz ist steigend. Frauen entschließen sich immer später für eine Mutterschaft. Erstgebärende sind meist schon 30 oder älter, und mit zunehmendem Alter wird es immer schwieriger, schwanger zu werden. Nach einer gewissen Zeit der Erfolglosigkeit denken viele Paare heute über eine künstliche Befruchtung oder andere Alternativen nach.

Hier die gängigsten Methoden:

In-vitro-Fertilisation (IVF): Wörtlich übersetzt: »Befruchtung im Glas«. Nach einer Hormonbehandlung werden der Frau Eizellen entnommen und in einem Reagenzglas mit den speziell aufbereiteten Spermien des Mannes vereinigt. Nach erfolgreicher Befruchtung werden zwei bis drei befruchtete Eizellen in die Gebärmutterhöhle gespritzt. Die restlichen Eizellen können dann bei minus 196 Grad in Tanks mit flüssigem Stickstoff eingefroren werden, wenn das Spermium in die Eizelle zwar eingedrungen ist, aber noch keine Verschmelzung der Erbanlagen stattgefunden hat. Dieses Einfrieren im »Vorkernstadium« ist in verschiedenen Ländern unterschiedlich geregelt, zum Beispiel durch das Embryonenschutzgesetz in Deutschland seit 1991 und durch das Fortpflanzungsmedizingesetz in der Schweiz seit 2001. Die Eizellen werden dann in späteren Zyklen aufgetaut und nach der Verschmelzung, also im Embryonalstadium, in die Gebärmutter übertragen.

Intrazytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI): Falls die Spermienqualität des Mannes schlecht und das Mindestmaß an funktionsfähigen Spermien unterschritten ist, kann ICSI eine Erfolg versprechende Alternative sein. Im Gegensatz zur In-vitro-Fertilisation wird je ein einzelnes Spermium unter dem Mikroskop direkt in je eine Eizelle injiziert.

Präimplantationsdiagnostik (PID): Dem sich im Anschluss an eine In-vitro-Befruchtung entwickelnden Embryo werden Zellen entnommen, deren Erbgut (DNA) auf das Vorliegen krankheitsrelevanter Merkmale untersucht wird. Je nach Befund wird der Embryo nicht übertragen. In elf europäischen Ländern ist die PID zum Teil unter strengen Bedingungen bereits erlaubt. Unter anderem in Deutschland, Österreich und der Schweiz ist sie jedoch verboten. Einige außereuropäische Länder wie USA, Kanada und Australien kennen dagegen kaum Auflagen. Dort werden genetische Untersuchungen von Embryonen auf breiter Basis vorgenommen. Bei In-vitro-Fertilisationen mit Frauen ab 35 Jahren gehört PID in diesen Ländern zur Routine. Streng genommen handelt es sich dabei um eine Form vorgeburtlicher Auslese.

Die Ambivalenz des medizinischen Fortschritts


In der Reproduktionsmedizin wird die Ambivalenz des Fortschritts klar ersichtlich. Um die Chance einer Schwangerschaft zu erhöhen, lassen die Fortpflanzungsmediziner vor der künstlichen Befruchtung durch Hormonzugabe mehrere Eizellen heranreifen oder setzen bei einer künstlichen Befruchtung bis zu drei Embryonen in die Gebärmutter ein. Wenn sich alle einnisten und vielleicht noch teilen, werden die Eltern vor eine Entscheidung gestellt, die eigentlich niemand treffen kann: die Entscheidung, einen Teil ihrer Kinder zu töten, damit die anderen eine Überlebenschance haben. Der Arzt durchsticht dazu die Bauchdecke der Schwangeren mit einer langen Nadel und sucht mittels Ultraschallbild das schlagende Herz eines Fötus. Dann spritzt er eine Kaliumchloridlösung ein. Kurz danach hört das Herz auf zu schlagen.

Wie mögen sich diese Eltern fühlen, wo sie sich gleichzeitig über die Erfüllung ihres lang ersehnten Kinderwunsches freuen sollten? Und wie geht es dem oder den Überlebenden, wenn sie in einem Klima von Tod heranwachsen? Welche Auswirkung mag es auf deren Psyche haben, wenn sie ihr Leben dem »Glück« verdanken, nicht am Platz des Geschwisters, in der Nähe der eindringenden Nadel, gewesen zu sein? Wie mögen sich Mediziner fühlen, die eben noch alles Machbare unternommen hatten, um den Eltern zu einem Kind zu verhelfen?

Die Problematik, bei künstlichen Befruchtungen mehrere Eizellen heranreifen zu lassen und stattdessen nur einen einzelnen Embryo einzupflanzen, verdeutlicht der nachfolgende Beitrag aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 8. Juli 2005:

Künstliche Befruchtung – Ein Kind ist genug


 

Die Gebärmutter ist darauf angelegt, nur ein Kind pro Schwangerschaft heranwachsen zu lassen. Deshalb kommen nach natürlicher Zeugung Zwillinge und Mehrlinge höchst selten vor. Außerdem wird in nahezu einem Drittel aller ursprünglichen Zwillingsschwangerschaften schließlich doch nur ein einziges Kind geboren. Einer der Embryonen stirbt in solchen Fällen im Laufe der Schwangerschaft aus bislang unerfindlichen Gründen. Er wird dann gewöhnlich in der Gebärmutter aufgelöst, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Allerdings erhöht dies für den Zwilling, der weiterlebt, das Risiko, gesundheitliche Schäden davonzutragen. Das bis heute rätselhafte Phänomen der »verschwindenden Embryonen« sei ein wichtiger Grund, bei einer künstlichen Befruchtung auf die Einpflanzung nur eines einzelnen Embryos in die Gebärmutter hinzuwirken. Diesen Appell formulierte die dänische Ärztin Anja Pinborg auf der 21. Jahrestagung der European Society of Human Reproduction and Embryology, die kürzlich in Kopenhagen stattgefunden hat.

Die Arbeitsgruppe um Pinborg am Rigshospitalet der Universität Kopenhagen analysierte die Daten aus elf dänischen Kliniken. Dabei stellte sich heraus, dass von allen Einzelkindern, die nach künstlicher Befruchtung geboren worden waren, gut zehn Prozent aus Schwangerschaften herrührten, bei denen ein Zwillingsembryo spontan verloren gegangen war. Bei diesen Kindern wurden häufiger neurologische Defekte, insbesondere Lähmungen infolge Schädigung der Hirnsubstanz, gefunden. Dies trat umso deutlicher zutage, je später im Verlauf der Schwangerschaft der Geschwisterteil umgekommen war. Auch von den zunächst überlebenden Zwillingsembryonen starben mehr, als das der Fall ist, wenn von vornherein nur ein einzelner Embryo nach der In-vitro-Fertilisation übertragen wird.

Einer weiteren in Kopenhagen vorgestellten Untersuchung zufolge sinkt auch das Risiko einer Frühgeburt drastisch, wenn nur ein Embryo verpflanzt wird. Die Arbeitsgruppe um Diane De Neubourg am Zentrum für Reproduktionsmedizin in Antwerpen verglich 251 Kinder, die aus solchen Schwangerschaften hervorgegangen waren, mit den natürlich gezeugten Kindern eines Geburtsregisters. Zwischen beiden Gruppen gab es keinerlei Unterschiede hinsichtlich Geburtsgewicht und Geburtsalter. Allerdings beobachtete man bei den im Reagenzglas gezeugten Kindern einen deutlich erhöhten Blutdruck. Welche schädlichen Einflüsse hierfür verantwortlich sein könnten, ist noch vollkommen unklar.

(...) Eine Arbeitsgruppe an der Universitätsfrauenklinik in Nijemen fand heraus, dass die Paare viel zu wenig über die Gesundheitsrisiken von Mehrlingsschwangerschaften wissen. Vor allem dann, wenn der erste Versuch mit der Übertragung nur eines einzigen Embryos fehlgeschlagen ist, wird der Wunsch nach dem Verpflanzen mehrerer befruchteter Eizellen oft übermächtig. Dabei haben vor allem jüngere Frauen meist keine geringeren Chancen, schwanger zu werden, wenn sie sich nur einen statt mehrerer Embryonen übertragen lassen. Daher empfehlen viele Fachleute inzwischen, den Transfer eines einzelnen Embryos verbindlich festzuschreiben. Allerdings bedarf das dann auch einheitlicher Regelungen zwischen den verschiedenen Staaten.

 

Martina Lenzen-Schulte in der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 8. Juli 2005

Zwei Fallbeispiele


Es war nicht einfach, betroffene Paare zu finden, die über das Thema »künstliche Befruchtung« Auskunft geben wollten. Vielleicht hat dies mit einer gewissen Scham zu tun, »versagt« zu haben. Die künstliche Befruchtung ist nach wie vor ein Tabuthema, selbst wenn dieser Weg in der Realität immer öfter gewählt wird. Zwei Ehepaare mit unterschiedlichen Erfahrungen gaben mir schließlich die Erlaubnis, ihre Geschichte wiederzugeben.

 

Das erste Ehepaar: Sie war 32, er 30. Der Mann hatte zu wenig bewegliche Spermien, wollte aber unbedingt Kinder. Die Mitteilung, auf natürlichem Weg keine Kinder zu bekommen, war ein Riesenschock für beide. Er wollte dann zuerst die Beziehung beenden, weil er das Gefühl hatte, er könne nicht von ihr verlangen, mittels künstlicher Befruchtung schwanger zu werden. Ihr Gynäkologe sagte ihnen: »Egal, was für eine Art Spermien kommen oder von wem diese sind, wir können noch etwas machen. So sind schon viele schwanger geworden.« Sie entschlossen sich dann für eine In-vitro-Fertilisation. In dem Raum, wo ihr die Eizellen entnommen wurden, lagen noch viele andere Frauen. Einige erzählten, dass sie schon zum x-ten Male da seien und es bisher nie geklappt habe. Sie war entsetzt und ihr Mann durfte zudem nicht dabei sein.

Nach der Befruchtung im Glas wurden der Frau drei Embryonen eingesetzt. Die Leute waren sehr nett und freundlich, sie bekam den Eindruck, dass etwas gemacht wird und später vielleicht ein Kind entsteht. Es kam ihr vor wie eine normale ärztliche Untersuchung. Dann mussten sie zwei Wochen warten, um zu sehen, ob diese befruchteten Eizellen blieben. Obwohl sie in der Zeit schwanger war, fühlte sie sich nicht so. Wegen der riesigen Erwartungen stellten sich große Ängste ein. Und als die Menstruation wieder kam, brach eine Welt...

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