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Der verstrahlte Westernheld und anderer Irrsinn aus dem Atomzeitalter

AutorRudolph Herzog
VerlagVerlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783462305821
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Eine Bilanz des Schreckens.Von verlorenen Wasserstoffbomben, verschwundenem Uran und unkontrollierbaren Technologien Nicht erst seit Fukushima weiß die Menschheit, dass Atomtechnologie nie völlig kontrollierbar sein wird. Welche ungeheuren Mengen atomaren Materials auf der Welt aber vorhanden sind, wie fahrlässig man damit umging und es teilweise immer noch tut, welche greifbaren Gefahren davon drohen - das wissen die Wenigsten.War es anfangs noch Unwissen, das Menschen und Regierungen dazu brachte, ganze Landstriche unbewohnbar zu machen (Bikini, sowjetische Testgelände, Nevada), bizarre Versuche vorzunehmen oder zu planen (die Erzeugung künstlichen Wetterleuchtens oder die Sprengung eines zweiten Panama-Kanals mittels 300 Atombomben) oder immer größere, gefährlichere und wahnsinnigere Waffen zu bauen (Atombombe, Wasserstoffbombe, Kobaltbombe), so liegt heute die Gefahr in der schieren Menge im Umlauf befindlichen Materials, von dem man oft gar nicht mehr weiß, wo es sich überhaupt befindet. Neben einer irgendwo im Eis vor Grönland verloren gegangenen Wasserstoffbombe fehlen laut Schätzungen weitere 30-40 Kernwaffen, und in Kasachstan liegen auf einem riesigen Testgelände verstreut viele Kilos waffenfähiger Stoff frei herum. Rudolph Herzog zieht jetzt erstmals Bilanz - er beschreibt die kurze, aber verheerende Geschichte des Umgangs der Menschen mit atomarem Material. Der Atomausstieg in Deutschland ist vor diesem Hintergrund nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Herzog führt drastisch vor Augen, dass ein öffentliches Bewusstsein für die globale Problematik dringend angesagt ist.

Rudolph Herzog ist Autor und Regisseur und machte sich mit seiner Serie The Heist (2004) international einen Namen. Seither drehte er über ein Dutzend Dokumentarfilme für ARD, ZDF, arte, National Geographic und BBC. Die von ihm entwickelte Dokumentation The White Diamond wurde von seinem Vater Werner Herzog realisiert und von Time zum Film des Jahres gekürt. Bei Galiani Berlin erschienen sein Sachbuch Der verstrahlte Westernheld und anderer Irrsinn aus dem Atomzeitalter (2012) und der Erzählband Truggestalten (2017). Außerdem legte Kiepenheuer & Witsch 2018 seinen internationalen Bestseller Heil Hitler, das Schwein ist tot! als Taschenbuch neu auf. 

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Leseprobe
Inhaltsverzeichnis

Die rote Bombe


Anfang der 1990er-Jahre konnte man von St. Petersburg aus mit einer alten Fähre bis weit in den europäischen Norden fahren. Die Fähre hatte ein Holzdeck und komfortable, äußerst geräumige Kajüten. Sie stammte aus einer anderen Zeit. Durch die großen, crèmefarben lackierten Bullaugen sah man erst die Stadt St. Petersburg vorbeiziehen, dann weite Felder, schließlich, schon im Abendlicht, das Ufer des großen Ladogasees. Mit dem Land schwand das Licht und mit dem Licht das Bewusstsein; man schlief tief und traumlos. Am nächsten Morgen wachte man in einer neblig-trüben, verwunschenen Welt auf. Selbst nachdem sich der Nebel gelichtet hatte, war nirgends Land zu sehen, nur eine einzige, vollkommen ruhige, milchige Fläche. Drei Stunden später erreichte man Walaam, eine bewaldete Insel, auf der ein halb verfallenes Kloster aus dem 14. Jahrhundert stand. Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft hatten sich hier acht Mönche angesiedelt und waren damit beschäftigt, die baufällige Anlage in mühseliger Kleinarbeit zu restaurieren. Zu hohen Festtagen kamen Pilger mit der Fähre aus St. Petersburg und wurden mit einfachen Mahlzeiten in der Klosterküche verköstigt. Wer wollte, konnte Fische fangen, die zahlreich im Wasser des Ladogasees schwammen.

Walaam war ein zauberhafter Ort, wie das Land hinterm Regenbogen. Zugleich war die Umgebung der Insel, vor allem nach Norden hin, in den späten Achtzigern und frühen Neunzigern eine der am stärksten radioaktiv belasteten Gegenden Russlands. Dies berichtete unter anderem die L.A. Times in ihrer Ausgabe vom 27. November 1990. Die Nachricht war vor allem deswegen alarmierend, weil der Ladogasee einen Teil des Trinkwassers der Millionenmetropole St. Petersburg speiste.

Ursache der Verseuchung waren Atomversuche, die in den frühen 1950er-Jahren auf den Inseln am Nordufer des Ladogasees durchgeführt worden waren. Die in das Geheimprogramm einbezogenen Atominseln waren zu diesem Zwecke umbenannt worden: Aus Heisägenmaa, das zu Finnland gehört hatte, wurde »Suri«, aus Makarinari »Maly«. Die Bezeichnungen sollten die West-Geheimdienste in die Irre führen und über die wahre Lage des Testgebiets täuschen. Die Gründe, warum ausgerechnet das Süßwasserreservoir des Ladogasees für Atomtests herhalten musste, waren unterschiedlich. Erstens war der hohe Norden weitgehend unbewohnt, eine Testreihe hier also in der oberflächlichen Betrachtungsweise der Militärs »sicher«. Und zweitens wird ein Quäntchen revanchistischer Genugtuung in die Entscheidung hineingespielt haben. Bei den Russen war die demütigende Niederlage der Roten Armee noch unvergessen, die ihr das winzige Finnland während des Winterkriegs beigebracht hatte. Die Sprengsätze wurden bevorzugt in finnischen Bunkeranlagen gezündet (was jedoch auch aus technischer Notwendigkeit erfolgt sein mag).

Die meisten der gefährlichen Versuche waren Experimente mit »schmutzigen Bomben«. Statt nukleare Kettenreaktionen hervorzurufen, wurden Uran und andere strahlende Substanzen in konventionelle Sprengsätze gepackt. Zweck der Testreihe war, die Streuung strahlenden Materials und dessen Auswirkung auf den Organismus zu untersuchen. Die Sowjetführung, vor allem aber Stalin selbst, fürchtete einen Angriffskrieg der USA. Noch hatte Amerika, was die Größe des nuklearen Arsenals anbetraf, einen Vorsprung. Angesichts der strammen antikommunistischen Rhetorik, die von jenseits des Atlantiks zu hören war, rechnete man in der UdSSR mit dem Schlimmsten. Diese Vermutung war durchaus nicht abwegig, denn die Stabschefs der US-Streitkräfte heckten 1949 einen Plan aus, der vorsah, hundert sowjetische Städte im Falle eines erwarteten konventionellen Angriffs auf Westeuropa in einem nuklearen Blitzkrieg dem Erdboden gleichzumachen (»Operation Dropshot«). Welche Konsequenzen würde ein Atomschlag gegen die Sowjetunion haben? Könnte sich die Rote Armee in einer radioaktiv verseuchten Umgebung überhaupt noch verteidigen? Um diese Fragen zu klären und gleichzeitig das Potenzial hoch radioaktiver Kampfstoffe auszuloten, wurde ab 1953 in Europas größtem Binnensee wiederholt gebombt und gesprengt. Dass dabei radioaktives Wasser über ein Flusssystem bis zum finnischen Meerbusen gespült werden konnte, bedachte niemand.

Als äußerst problematisch erwiesen sich die Tests, die auf der »T12«, einem ehemaligen deutschen Torpedoboot, durchgeführt wurden. Das Hitler’sche Marineschiff wurde 1945 an die Sowjetunion übergeben und tat noch einige Jahre unter dem Namen »Podwischnij« in der Ostsee Dienst. Nach einem Unfall, der das Schiff irreparabel beschädigte, brachten es die Sowjetmilitärs hinauf in den Norden und legten es bei Maly vor Anker. Aus Geheimhaltungsgründen tauften sie das Schiff in »Kit« (»Wal«) um.

Wie Alexander Kukuschkin, ein Teilnehmer der Tests, berichtete, brachten die auf Maly stationierten Truppen nun von der Insel allerlei Versuchstiere mit; am Ober- und Unterdeck wurden Kaninchen- und Rattenkäfige aufgestellt, außerdem wurden Hunde auf der »Kit« festgebunden. Sowohl auf den Decks der »Kit« als auch im Kielraum wurden Sprengsätze mit Kampfstoffen gezündet. »Das waren Zylinder von dreihundert Millimeter im Durchmesser, sie waren sechshundert Millimeter lang. Die Zylinder waren mit einem chemischen Sprengstoff gefüllt und enthielten eine Ampulle mit Uran-235. Bei der Explosion wurde das Uran breit zerstreut; es verseuchte auf diese Weise das ganze Gebiet.« Laut Kukuschkin wurden bei den Versuchen verschiedene Modelle von antinuklearer Schutzkleidung und von Schutzmitteln getestet. Er berichtet, dass der Kommandant Dworowoj 1954 an den Folgen der Strahlen starb. »Auf dem Versuchsgelände waren schon zwei Personen an den gleichen Ursachen gestorben […]. Damals wussten wir sehr wenig über die Wirkung der radioaktiven Strahlung auf den menschlichen Organismus.«[26]

Nach der Zündung einer Bombe beorderten die Offiziere ihre Soldaten zum Detonationszentrum, wo sie mit der bloßen Hand Wasserproben nahmen. Einige Matrosen sammelten die großen Lachse ein, deren Schwimmblasen durch die Explosionen zerfetzt worden waren, und brieten sie am Lagerfeuer. Wie viele der Teilnehmer der Tests an den Folgen der Radioaktivität starben, ist unbekannt.

Ein solcher im besten Fall fahrlässig zu nennender Umgang mit Soldaten als Testpersonen war keine Ausnahme. Bei einem der schaurigsten Atomtests ließ die Sowjetführung mehr als 40000 Rotarmisten unmittelbar nach dem Atomblitz zum Detonationsnullpunkt (»Ground Zero«) vorrücken. Der Versuch fand in Tozk im Südural statt. Die bewaldeten Hügel und Täler der Region glichen Deutschland, das NATO und Warschauer Pakt als Schlachtfeld des Dritten Weltkriegs auserkoren hatten. Der Fluss Samara wurde im Planspiel kurzerhand zum Rhein, die Landschaft zum urdeutschen Idyll umdeklariert. Der Befehlshaber Marschall Schukow konnte sich über besonders realitätsnahe Bedingungen freuen. Er selbst verfolgte das Manöver mit Kollegen aus den kommunistischen »Bruderländern« von einem Bunker aus. Während drinnen gefachsimpelt wurde, gingen die Soldaten draußen ungeschützt in die Strahlen. Einige Zeit danach gab sich Schukow selbst auf dem atomaren Feld die Ehre, allerdings besichtigte er das Gelände in einem Panzer, der dick mit Blei ausgekleidet war.[27]

Ähnlich wie die Wahrheit über den Ladogasee kam auch die Geschichte des Atomtests von Tozk erst nach dem Ende des Kommunismus ans Tageslicht. Es war nicht das einzige schmutzige Geheimnis, das jahrzehntelang von den Sowjetmilitärs gehütet worden war.

Wie es mit der »Kit« nach Ablauf der Testreihe weiterging, ist nicht mehr sicher zu klären. Eine Quelle besagt, dass das Schiff bis 1961 für andere Versuche der sowjetischen Marine eingesetzt wurde, wohingegen die Zeitung Iswestija behauptet, dass schon 1954 Schluss war. Doch wie lang auch immer die Sowjets noch experimentiert haben mögen, irgendwann verloren sie das Interesse an der »Kit« und setzten sie mitsamt ihrer nuklearen Fracht auf Grund.[28] Bilder, die angeblich 1978 entstanden, zeigen das riesige Schiff in erschreckendem Zustand: Verrostet und vor sich hin rottend lag es halb versunken in einer Bucht.

Wohl unter dem wachsenden Druck der Presse nahm sich Anfang der 1990er-Jahre die russische Nuklearbehörde des Falls an. Messungen an der »Kit« ergaben bedenkliche Ergebnisse: Die radioaktive Belastung des Wracks war enorm, sogar die abblätternde Farbe war »heiß«, d.h. schwer verstrahlt. Aus dem Inneren des Torpedoboots leckte nukleare Suppe in den Ladogasee. Bekümmert gab Anatolij P. Skljanin, der Nachlassverwalter der nuklearen Katastrophe im Ladogasee, einer US-Journalistin zu Protokoll, man könne gegenüber seinen Kindern und Enkelkindern nicht verantworten, dass diese »dunklen Flecken, die unsere Eltern schaffen mussten, weiter bestehen«.[29] Die »Kit« wurde daraufhin, so gut es ging, mit zwei Kunststoffkomponenten versiegelt. Im Sommer 1991 schleppte die St. Petersburger Atombehörde das radioaktive Geisterschiff klammheimlich aus dem Ladogasee heraus und brachte es Tausende Kilometer weiter nördlich zur Insel Nowaja Semlja. Dort verliert sich die Spur der »Kit«; vermutlich wurde sie 1993 im Polarmeer in der Nähe von Chernaya Guba versenkt.

 

Auch heute noch, fast sechzig Jahre nach Abschluss der Tests in Europas größtem Binnensee, bleibt vieles im Dunkeln. Eine der interessantesten Schilderungen behauptet, dass an der Grenze zu Finnland eine...

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