II. Der lange Weg in den Krieg
Die Staatenwelt erlaubte es Hitler, bis 1938 auf einer Erfolgswelle zu schwimmen, obwohl er ein Unrechtsregime errichtete, das ab 1933 Tausende von politischen Gefangenen in Konzentrationslager sperrte, die Juden ausgrenzte, entrechtete und enteignete sowie Hunderte von ihnen bis Ende 1938 ermordete. Ihm kam zugute, dass Regierungen die staatliche Souveränität prinzipiell anerkennen; wovon im Übrigen auch Benito Mussolini, der faschistische Regierungschef Italiens, und die radikalen japanischen Imperialisten profitierten.
Dennoch ist zu fragen, warum die Westmächte der militanten Expansion der Aggressoren erst so spät Widerstand entgegensetzten. Ausschlaggebend waren wohl Bedenken, die dem Volk verantwortliche Politiker hegen, wenn über den in der Regel moralisch bestreitbaren, politisch und militärisch risikoreichen, stets kostspieligen Einsatz letzter Mittel zu befinden ist. Außerdem erinnerten sich Briten und Franzosen an ihre 2.400.000 Gefallenen sowie 5.200.000 Verwundeten im Ersten Weltkrieg. Anders als Diktaturen, die beliebig handeln, sind demokratische Regierungen einem realpolitischen Imperativ verpflichtet: Zu tun ist, was im nationalen Interesse liegt.
1. Warnende Vorzeichen
Die sich in den meisten Ländern von 1929 bis 1933 auswirkende konjunkturelle und die danach noch fortdauernde strukturelle Krise der Weltwirtschaft brachten soziale sowie ökonomische Verwerfungen, förderten das Autarkiestreben und verführten zur arbeitsintensiven Aufrüstung.
Aus solchem Blickwinkel ist die 1931 beginnende japanische Besetzung der Mandschurei zu sehen. Ein Jahr später zählte die reiche chinesische Provinz, als Satellitenstaat Mandschukuo, zu Japans Machtbereich. Das rohstoffarme, dicht bevölkerte und exportabhängige Kaiserreich verfügte damit über Bodenschätze, Siedlungsraum und einen großen Absatzmarkt.
Washington, London und Paris wähnten ihre handelspolitischen und kolonialen Belange nicht bedroht, sie reagierten daher zurückhaltend. Hingegen schloss Generalsekretär Josef W. Stalin, der die Gefahr eines Zweifrontenkriegs mit den Revisionisten erkannte, am 25. Juli mit Warschau sowie am 29. November 1932 mit Paris Nichtangriffsverträge ab.
Der Völkerbund unternahm einen Schlichtungsversuch. Japan sollte, sofern es Chinas Oberhoheit in der Mandschurei akzeptierte, dort weitgehenden Einfluss behalten. Trotzdem lehnte Tokyo ab und trat, am 24. Februar des Angriffskriegs beschuldigt, am 27. März 1933 aus dem Völkerbund aus. Im Endeffekt blieb der Angreifer unbestraft.
Das Ergebnis dieser Herausforderung des Völkerbunds ermutigte Mussolini und Hitler. Letzterem ging es nach dem Regierungsantritt zunächst um die absolute Macht im Innern, die er ab August 1934 besaß, den ökonomischen Aufschwung, der sich zum Wirtschaftswunder zu entwickeln schien, und den Aufbau einer modernen, den anderen Mächten überlegenen kriegsfähigen Wehrmacht. Um das dritte Ziel nicht zu gefährden, steckte er außenpolitisch einen Kurs ab, der es gestattete, die schon in der Weimarer Republik begonnene geheime Aufrüstung solange fortzusetzen, bis die eigene militärische Stärke das Risiko von Sanktionen, das der Ausbau der Streitkräfte mit sich brachte, stark verringerte.
Dem entsprach die auswärtige Politik bis 1935, obwohl die Deutschen am 14. Oktober 1933 viel wagten: Sie verließen die Genfer Abrüstungskonferenz, deren Verlauf ihre Geheimrüstung in Gefahr brachte, und zogen aus dem Völkerbund aus. Da die Großmächte vor politischen Verwicklungen zurückschreckten, blieben Berlin nachteilige Folgen erspart.
Hitler, der grundsätzlich bilaterale Abmachungen vorzog, war somit nicht mehr in das System kollektiver Konfliktlösung eingebunden. Nach dem aufsehenerregenden Abschluss des Konkordats mit der Kurie (20.7.33) bedeutete der deutsch-polnische Nichtangriffsvertrag (26.1.34) erneut einen großen Erfolg. Der Pakt, der die Lage an der Ostgrenze entspannte, gehörte für den Diktator zur Vorbereitung des Kriegs gegen die Sowjetunion. Aber trotz des Übereinkommens mit Warschau geriet das Regime 1934 in außenpolitische Schwierigkeiten. Als Nazis am 25. Juli 1934 den österreichischen Bundeskanzler Engelbert Dollfuß ermordeten, drohte kurzzeitig sogar ein bewaffneter Konflikt mit dem ideologisch verwandten Italien.
Beruhigung hätte der 1. März 1935 bringen können, an dem das Saargebiet ins Reich zurückkehrte. Hitler nutzte das Ereignis jedoch nicht, um einzulenken, vielmehr beantwortete er das korrekte Verhalten des Völkerbunds bei der Volksabstimmung an der Saar (13.1.35) mit weiteren Vertragsverletzungen. Am 9. März wurde der Aufbau der Luftwaffe enttarnt, am 16. die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht bekanntgemacht. Es kam zu Reaktionen. Frankreichs Ministerpräsident Pierre-Etienne Flandin, Englands Premierminister James Ramsay MacDonald und Mussolini berieten (11. bis 14.4.35) in Stresa über Gegenmaßnahmen. Ihre Abschlusserklärung fiel eindeutig aus. Auch der Völkerbund verurteilte das deutsche Vorgehen. Im Mai unterschrieben Prag, Paris und Moskau Beistandsverträge. Zeichnete sich ein internationaler Abwehrblock ab, die von Hitler be- und gefürchtete „Einkreisung“?
Der Schein trog, denn London, das seine sich ankündigende Gefährdung durch Deutschlands See- und Luftrüstung begrenzen wollte, schloss am 18. Juni mit Berlin ein Flottenabkommen. Zwar sicherte dieses der Royal Navy auf absehbare Zeit eine beruhigende Überlegenheit, aber die Deutschen, die Großbritannien langfristig als Gegner anvisierten, störte das nicht weiter, schließlich konnten sie in den folgenden Jahren vertragstreu ein Rüstungsniveau erreichen, das es ihnen gestatten würde, bei Folgeverhandlungen ihre Seestreitkräfte als Druckmittel einzusetzen.
Mussolini wechselte ebenfalls den Kurs. Er wollte der seit ihrem Entstehen im 19. Jahrhundert instabilen italienischen Großmacht echte Stärke zuwachsen lassen: durch Expansion im mittelmeerischen Raum. Die Zielpunkte lagen im adriatisch-balkanischen Gebiet sowie in Nord- und Ostafrika, wo das Regime einen Krieg gegen das Völkerbundsmitglied Äthiopien vorbereitete. Trotzdem gaben die Franzosen im Januar 1935 grünes Licht für die Aggression. Die Engländer sperrten sich jedoch.
Erst jetzt näherte sich der „Duce“ dem „Führer“, der ihn ermutigte. Italiens Bindung in Afrika ermöglichte es nämlich, den deutschen Einfluss im anzuschließenden Österreich und im außenwirtschaftlich wichtigen Südosten, wo Berlin die Vormacht anstrebte, zu festigen. Ein langer afrikanischer Krieg diente also den eigenen Interessen, was Hitler bewog, beide Parteien insgeheim durch Waffenlieferungen zu unterstützen.
Ohne Kriegserklärung marschierten annähernd 500.000 Soldaten am 3. Oktober 1935 von Somalia und Eritrea aus in Äthiopien ein, das etwa 250.000 Mann zu mobilisieren vermochte. Es begann ein ungleicher Krieg, bei dem die Italiener rund 340 Tonnen Giftgas einsetzten. Sie beklagten 9000, die Äthiopier – mit Zivilisten – 275.000 Opfer. Am 5. Mai 1936 kapitulierte Addis Abeba, woraufhin Rom das „Impero“ proklamierte. Der Konsens zwischen dem faschistischen Regime und der italienischen Bevölkerung erreichte seinen historischen Höhepunkt.
Im äthiopischen Fall verhängte der Völkerbund im November 1935 Sanktionen. Dass sie Italien nicht in die Knie zwangen, verdankte Rom dem unterschiedslosen materiellen Profitstreben der Mächte. Und im Juli 1936 wurde jedem Land freigestellt, den in Ostafrika gewaltsam herbeigeführten Zustand anzuerkennen – eine politische sowie moralische Bankrotterklärung.
Die durch Mussolinis Krieg bewirkte internationale Lage ausnutzend, marschierte die Wehrmacht am 7. März 1936 ins entmilitarisierte Rheinland ein. Deutsche Kommissstiefel zertrampelten den am 1. Dezember 1925 unterzeichneten Vertrag von Locarno, der den Frieden sicherer gemacht und die Verständigung zwischen Paris und Berlin auf den Weg gebracht hatte. Hitlers Coup war gewagt, aber für den von ihm geplanten Krieg benötigte er das Rekruten- sowie Rüstungspotential des Ruhrgebiets und eine Verteidigungslinie direkt vor der Grenze zu Frankreich. Erneut ging seine Rechnung auf. London machte gute Miene zum bösen Spiel, und Paris, das gern etwas unternommen hätte, traute sich allein nicht. Die Verurteilung durch den Völkerbund? Ritual!
Deutschlands Propaganda feierte die Remilitarisierung des Rheinlands – bedeutsame Weichenstellung auf dem Weg in den Krieg – als Erringen der „Rüstungsfreiheit“. Mit einem Vierjahresplan (September 1936) beabsichtigte das NS-Regime, die Rüstung zu intensivieren und effizienter zu machen. Das tatsächlich Gewollte brachte eine Denkschrift Hitlers auf den Punkt: Binnen vier Jahren sollte die Wirtschaft kriegs- und die Wehrmacht einsatzfähig sein.
Der Spanische Bürgerkrieg, der am 17. Juli 1936 mit dem Umsturz nationalistischer Offiziere begann und am 28. März 1939 mit ihrem Sieg endete, stellte die Handlungsfähigkeit der Staatenwelt erneut auf die Probe. Aus ideologischen,...