I VOM FUNKENFLUG GENIALER IDEEN
Wie Deutschland das Land der Chemie wurde – und bis heute geblieben ist
Eine zündende Idee war seinerzeit, Anfang des 19. Jahrhunderts, bitter nötig, denn Fehlzündungen konnten höchst unangenehm werden. Obwohl die ersten Streichhölzer durchaus funktionierten, entflammten sie doch gelegentlich »von selbst«, allein durch geringe Reibung – und das auch schon einmal in der Hosentasche. Das Problem war der Kopf der Hölzer, der damals neben anderen Bestandteilen auch den eigentlichen Zündstoff enthielt: zunächst weißen, später den geeigneteren roten Phosphor. Die Gefahr einer unabsichtlichen Entzündung wurde billigend in Kauf genommen, zumal es keine andere Lösung gab. Wenn die Menschen zur Arbeit oder aufs Feld gingen, steckten sie sich ein paar Hölzer in die Tasche – und entzündeten sie dann an einem Mauerstein, an einem Stück Holz oder gar an der eigenen Hose.
Der deutsche Chemiker Rudolf Christian Boettger aber gab sich damit nicht zufrieden. Boettger forschte und lehrte damals in Frankfurt und beschäftigte sich vor allem mit galvanischen Verfahren. 1848 schließlich kam ihm ein aus heutiger Sicht scheinbar einfacher Gedanke: Was, wenn der Phosphor nicht mehr Bestandteil der Zündmasse am Hölzchen wäre, sondern Teil einer eigens präparierten Zündfläche? Der Professor hatte das Sicherheitszündholz erfunden – Fehlzündungen waren damit ausgeschlossen.
In der Bevölkerung stieß das neue Zündholz zunächst auf Ablehnung. Denn neben den Streichhölzern auch eine Reibfläche mitzuführen – das erschien vielen Menschen umständlich und unpraktisch. Es war eben schon damals so, dass sich eine neue Erfindung, wie gut sie auch sein mochte, nur schwer mit Argumenten allein durchsetzen ließ. Dass sich die Erfindung letztlich doch verbreitete, Boettger sie aber nicht zu seinem eigenen Nutzen vermarkten konnte, ist eine andere Geschichte – der Begriff »Schwedenhölzer« zeigt, wer damals am meisten von seiner Idee profitierte.
Dem Chemiestandort Deutschland hat das allerdings nicht geschadet. Zu zahlreich und bedeutsam waren die Ideen und Erfindungen der deutschen Chemiker in Wissenschaft und Industrie, zu geschäftstüchtig und rege die Unternehmen, zu fortschrittlich und professionell das Ausbildungssystem. Denn ob Aspirin oder Ammoniaksynthese, ob Kohleverflüssigung, Polymerchemie oder Flüssigkristalle – die chemischen Erfindungen und Entdeckungen aus Deutschland haben in den vergangenen rund 200 Jahren die Welt verändert und bewegen sie noch heute.
Die Wissenschaft und die deutsche Chemieindustrie trugen mit ihren Erfindungen und ihrer Innovationskraft maßgeblich zum wirtschaftlichen Aufstieg Deutschlands bei. Ohne die leistungsstarken Chemieunternehmen wäre die umfassende Industrialisierung des Landes nicht möglich gewesen. Die Unternehmen lieferten Vorprodukte für die im 20. Jahrhundert aufblühende Autoindustrie, für die Stahlverarbeitung, für die Textil- und Modeindustrie ebenso wie für die Pharmaproduktion.
Bereits 28 Mal wurde der Chemie-Nobelpreis seit 1901 an Forscher aus Deutschland verliehen. Wissenschaftler wie Emil Fischer, Eduard Buchner oder Friedrich Bergius, aber auch der bisher letzte deutsche Chemie-Nobelpreisträger Gerhard Ertl lieferten bahnbrechende Erkenntnisse. Auf diese Weise trugen sie dazu bei, dass Deutschland zu einer der führenden Chemienationen werden konnte und es bis heute geblieben ist.
Ihren Anfang nahm die Erfolgsgeschichte der deutschen Chemie zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Im Zuge der Industrialisierung legten Forscher und Erfinder damals die Grundlagen für Verfahren und Produkte, die wir zum großen Teil auch heute noch nutzen. Justus von Liebig war einer dieser Wissenschaftler und sicher einer der bekanntesten und erfolgreichsten Chemiker seiner Zeit. Er begründete Mitte des 19. Jahrhunderts die organische Chemie und die Agrarchemie, entwickelte Mineraldünger, aber auch Fleischextrakt und Backpulver. Nicht zuletzt veränderte er maßgeblich die chemische Analytik und legte damit den Grundstein für die Chemie als exakte Wissenschaft.
Seine Vorlesungen besuchte ab 1836 auch ein junger Jurastudent, August Wilhelm Hofmann. Begeistert von dem, was er hörte, wechselte er kurzerhand zur Chemie – und wurde später selbst Professor in London und Berlin. Und auch Hofmann machte eine bedeutende Entdeckung: 1858 fand er – nahezu zeitgleich mit einem französischen Wissenschaftler – den Farbstoff Fuchsin, Bestandteil des damals in Kokereien in großen Mengen anfallenden Teers. Der Teer war eigentlich ein Abfallprodukt, von da an aber die Basis für die Entwicklung eines dynamischen Wachstumsbereichs – der Teerfarbenindustrie. Bis zum Ersten Weltkrieg produzierte Deutschland bereits bis zu 90 Prozent aller synthetischen Farbstoffe weltweit.
Diese marktbeherrschende Stellung kam nicht von ungefähr. Denn mit den Farben war auch die Welt der Unternehmen bunter und vielfältiger geworden. Im Zuge der Entdeckung von Anilin, Fuchsin und anderen synthetischen Farbstoffen entstanden ab 1863 die ersten großen Chemieunternehmen in Deutschland. In Barmen – heute ein Stadtteil von Wuppertal – gründeten Friedrich Bayer und Johann Friedrich Weskott ein gemeinsames Unternehmen: die späteren Bayer-Werke, die zunächst Fuchsin und Anilin herstellten. Im gleichen Jahr entstand in der Nähe von Frankfurt am Main die »Theerfarbenfabrik Meister, Lucius & Co.« – später als Hoechst AG lange Zeit eines der größten Chemie- und Pharmaunternehmen Deutschlands. Der legendäre Ruf unseres Landes als »Apotheke der Welt« festigte sich insbesondere durch den engen Schulterschluss zwischen Wissenschaft und Industrie. Es waren Wissenschaftler wie Paul Ehrlich, Robert Koch, Emil Fischer oder Emil von Behring, die mit ihren Entdeckungen die Welt veränderten und die deutsche Chemieindustrie beflügelten.
1865 rief Friedrich Engelhorn in Mannheim-Jungbusch bei Ludwigshafen die Badische Anilin- und Soda-Fabrik ins Leben – heute als BASF das größte Chemieunternehmen der Welt. Zu dieser global führenden Stellung trug vor allem ein Verfahren bei, das BASF 1910 zum Patent einreichte und das zwei Chemiker entwickelt hatten: Fritz Haber und Carl Bosch, später beide mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Der Chemiker Fritz Haber beschäftigte sich mit der Herstellung von Ammoniak, einem Grundstoff zur Herstellung von Mineraldüngern. Schließlich gelang ihm der Durchbruch: die Ammoniaksynthese aus Stickstoff und Wasserstoff. Auf dieser Grundlage entwickelte Carl Bosch gemeinsam mit Haber das Haber-Bosch-Verfahren. Damit ließ sich Ammoniak erstmals in großtechnischem Maßstab herstellen – ein Meilenstein nicht nur für die deutsche Chemieindustrie, sondern vor allem auch für die Landwirtschaft weltweit. Ohne diese bahnbrechende Erfindung könnte die Weltbevölkerung heute gar nicht ernährt werden.
Dass die Ammoniaksynthese außerdem eine der Grundlagen zur Herstellung von Sprengstoff war, veränderte die Chemieindustrie mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs allerdings grundlegend: Nicht mehr die Produktion von Düngemitteln und Farben, sondern die von Sprengstoff und anderen Kampfstoffen stand plötzlich im Mittelpunkt. So leitete Carl Bosch in Leuna den Aufbau einer Anlage zur Ammoniaksynthese, mit der Salpetersäure hergestellt wurde – essenziell für die Herstellung von Sprengstoffen. Und auch Fritz Haber beteiligte sich: Nur wenige Wochen nach Kriegsbeginn experimentierte er mit Phosgen und Chlorgas. Da Deutschland diese Gase in großen Mengen im Krieg einsetzte, waren die Forschungen des Chemikers bald umstritten.
Der Wissenschaftler Hermann Staudinger beispielsweise lehnte die Entwicklung und den Einsatz chemischer Waffen im Krieg strikt ab. Der Professor der Chemie, der ab 1926 in Freiburg lehrte, konzentrierte sich auf andere Forschungsgebiete. Er begründete die makromolekulare Chemie und legte damit die Grundlage für die Polymerchemie – und damit für die moderne Kunststoffindustrie, wie wir sie heute kennen. Bereits 1922 definierte er den Begriff »Makromolekül«. Und nicht nur das: Mit seinen Forschungen zeigte er der Welt die Struktur solcher Makromoleküle.
Nur wenige Jahre später entwickelten Franz Fischer und Hans Tropsch in Mülheim an der Ruhr ein Verfahren, mit dem sich – auf der Basis der Kohlevergasung – Kohle verflüssigen ließ. Das Ergebnis der sogenannten Fischer-Tropsch-Synthese waren synthetische Kohlenwasserstoffe, die unter anderem als Motorkraftstoff genutzt werden konnten. Besonders während des Zweiten Weltkriegs spielte das Verfahren eine immer wichtigere Rolle, da Deutschland über große Kohlevorkommen verfügte und so die Abhängigkeit vom Erdöl aus dem Ausland verringern konnte. Die Nationalsozialisten nutzten im Zweiten Weltkrieg daher die Möglichkeit, den enormen Treibstoffbedarf der deutschen Armee aus eigenen Energievorkommen zu decken.
Diese Zeit war für die chemische Industrie ein dunkles Kapitel. Ihre Errungenschaften wurden – wie die fast aller anderen Industriezweige auch – für Gräueltaten missbraucht. Unter der Überschrift »Deutsche Chemie« versuchten die Nationalsozialisten, die an sich unpolitische Wissenschaft der Moleküle in den Dienst ihrer menschenverachtenden Ideologie zu stellen. Bedauerlicherweise ließen sich nicht wenige Forscher und Unternehmen vor den Karren der Machthaber spannen. Die Lektion dieser Zeit muss uns für immer Mahnung sein: Wissenschaft und Technik können zum Wohl oder zum Fluch der Menschheit werden – dieser Verantwortung müssen sich die Entscheider in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft sowie wir alle uns immer wieder...