Ursachenforschung
Warum lassen wir uns durch stressige Situationen derart unter Druck setzen, dass wir meinen, unbedingt perfekt funktionieren zu müssen. Leider lässt sich die Frage nicht eindeutig und „perfekt“ beantworten: Die eine Ursache für den menschlichen Wunsch nach Perfektion gibt es nämlich nicht, sondern vielmehr einen ganzen Ursachenmix: Wie viele Wesenszüge ist auch eine gewisse Tendenz zum Perfektionismus bei manchen Menschen offenbar angeboren. Untersuchungen der Charaktere von getrennt und gemeinsam aufgewachsenen eineiigen Zwillingen verdeutlichen aber auch: Die genetische Veranlagung ist nur ein Teilfaktor, der durch das, was ein Mensch im Laufe seines Lebens lernt und erfährt, noch erheblich gefördert wird – oder eben nicht. Vereinfacht gesagt, ist Perfektionismus vor allem auch ein Verhalten, das man sich angewöhnt hat. Und man kann es auch wieder ändern.
Verhaltensweisen ändern
Durch alles, was wir erleben und erfahren, verschalten sich die Nervenzellen in unserem Gehirn immer wieder neu. Der Fachbegriff dafür ist Neuro-Plastizität. Daraus folgt, dass sich einmal erlernte Verhaltensweisen auch wieder ändern lassen. Wenn Sie aktiv etwas an Ihrem Verhalten ändern wollen, müssen Sie die entsprechenden Verhaltensweisen einüben und so für neue Verschaltungen sorgen. Allerdings brauchen Sie dafür etwas Geduld: Experten gehen davon aus, dass Sie eine Handlung einundzwanzig Mal ausgeführt haben müssen, bis Sie die neue Verhaltensweisen verinnerlicht haben.
Perfektionismus – nur ein erlerntes Verhalten?
Alle Menschen lernen, indem Sie sich bestimmte Verhaltensweisen bei anderen abschauen. Oder indem sie zufällig eine bestimmte Handlung ausführen. Sind die Reaktionen der Umwelt positiv, wird die Handlung wieder ausgeführt. Bei negativen Reaktionen jedoch wird das Verhalten zukünftig vermieden. Das fängt schon in der Kindheit an: Eltern oder Lehrer loben Kinder für richtiges Verhalten und gute Leistungen oder zumindest tadeln sie sie nicht. Wenn die Kinder jedoch etwas falsch machen, erfolgt in der Regel eine Bestrafung. Dadurch lernt ein Kind: „Wenn ich mich richtig verhalte oder mich anstrenge, ist das gut, wenn ich etwas schlecht mache, bekomme ich Probleme.“ Aber das Kind hat auch erfahren: „Wenn ich eine bestimmte Reaktion erreichen will, muss ich mich auf eine bestimmte Art und Weise verhalten.“ Verhaltenspsychologen nennen das Konditionierung.
Doch wir Menschen lernen auf diese Weise nicht nur, unser Verhalten den Reaktionen unserer Umwelt anzupassen; wir lernen mit zunehmendem Alter auch, uns selbst und unsere Handlungen zu bewerten und unser Verhalten dadurch zu steuern. Für bestimmte Verhaltensweisen belohnen oder bestrafen wir uns fortan selbst mit entsprechenden positiven oder negativen Gedanken. Daraus folgt: Wer als Kind viel Lob erfährt, wird später auch eher selbstbewusst und optimistisch von sich denken. Wer jedoch häufig kritisiert wird, tendiert dazu, sich selbst und seine eigenen Fähigkeiten negativer zu beurteilen, als es manchmal notwendig wäre. Denn auch wenn die negativen Selbstbewertungen anfangs noch die eigenen Erfahrungen wiedergeben: Verfestigen sich solche Denkmuster, so wird man sich auch dann negativ beurteilen, wenn die Wirklichkeit inzwischen weitaus positiver ist.
Auch Kritik hat eine wichtige Funktion!
Natürlich, auch zu viel Lob kann schädlich sein. Denn die negativen Erfahrungen, so frustrierend sie manchmal sein mögen, haben eine wichtige Funktion: Sie zeigen uns Grenzen für unser Handeln auf und führen so dazu, dass wir unsere Fähigkeiten realistisch einschätzen lernen. Dadurch lernen wir, mit den vielen Konflikten und Problemen, die uns tagtäglich begegnen, umzugehen.
Problematisch ist jedoch übertriebene Kritik, etwa dann, wenn die Eltern selbst perfektionistisch veranlagt sind und zu hohe Ansprüche an das Kind haben. Ein Beispiel hierfür ist die Bewertung von Schulleistungen:
Der kleine Max, der bislang fast nur Fünfen in Mathematik geschrieben hat, schreibt plötzlich eine Drei. Eine deutliche Verbesserung. Max könnte nun von sich denken: „Hey, super, das Lernen hat etwas gebracht“ und sich damit für seine Anstrengungen gedanklich belohnen. Doch sein Vater ist nicht zufrieden: „Da habe ich dir die teure Nachhilfe bezahlt und dann schreibst du wieder nur eine schlechte Note“, schimpft er. Max denkt nun automatisch auch: „Mensch, bin ich blöd, dass ich nur eine Drei geschrieben habe.“ Durch seine negative Selbstwahrnehmung schafft er sich negative Gefühle und bestraft sich dadurch selbst. Je älter er wird, desto unabhängiger wird Max vermutlich von der Meinung seines Vaters werden, weil er lernen wird, sich selbst zu bestrafen und zu belohnen. Aber die Auffassung, dass eine Drei immer noch nicht gut genug ist, wird ihm vermutlich erhalten bleiben.
Dauerhaft zu hohe Ansprüche können zu übertriebenem Perfektionismus führen
Auch wenn es nicht so weit kommt und wenn genügend aufbauende Erfolgserlebnisse eine Persönlichkeit festigen und stabilisieren: Im Extremfall können übertrieben hohe Erwartungen an ein Kind auf diese Weise dazu führen, dass ein Mensch in dem Bewusstsein lebt, nur gelobt und geliebt zu werden, wenn er perfekt ist und immer nur absolute Höchstleistungen bringt.
Doch negative Erlebnisse jeder Art sind frustrierend und verletzend – und niemand wird gern frustriert oder verletzt. Die Psyche bedient sich daher zunächst eines Tricks, um das Frusterlebnis besser zu verarbeiten: Sie erschafft einfach eine heile und perfekte Welt, in der nur die positiven Dinge Platz haben. Negative Dinge werden schlicht ausgeblendet, so, als gehörten sie nicht dazu. Das perfekte Ideal wirkt dabei wie ein Schutzmantel, der die harte Realität zunächst ein wenig abfedert. Das ist eine notwendige Funktion, die dabei hilft, schlechte Erfahrungen allmählich zu verarbeiten.
Psychoanalytiker sehen dieses Verhalten in der frühen Kindheit begründet: Kinder idealisieren zum Beispiel ihre Mutter, die ihnen Liebe schenkt, klammern aber gleichzeitig aus, dass dieselbe Person auch mit ihnen schimpft. Erst allmählich, durch die immer wieder gewonnene Erkenntnis, dass Frust und Freude von demselben Menschen kommen, lernen sie, dass die Realität nicht dem Ideal entspricht. Und sie lernen, diese Realität mit der Zeit auch zu verstehen und damit umzugehen.
Vorsicht vor übertriebener Idealisierung
Schwierig wird es, wenn ein Mensch es nicht schafft, die perfekte Welt wieder zu verlassen, sondern sich krampfhaft darin festklammert und versucht, das Ideal um jeden Preis aufrechtzuerhalten. Denn dann kann er nicht mehr angemessen auf die Außenwelt reagieren.
So wirkt sich Perfektionismus aus
Bei Verunsicherung und in schwierigen Situationen, zum Beispiel bei Stress im Job, bei Konflikten mit Kollegen, wenn es neue Entwicklungen im Unternehmen gibt oder wenn sie Angst um den Arbeitsplatz haben, reagieren Menschen häufig mit diesen Verhaltensmechanismen: Sie wollen die heile und perfekte Welt, in der sie sich gut fühlen, bewahren. Das erhält die Illusion, auch schwierige Situationen stets unter Kontrolle halten zu können. Das geht natürlich am besten, wenn nichts das Ideal stört: Vorgesetzte, die einen loben, Kollegen, die einen mögen oder Kunden, die immer wieder kommen, vermitteln das Gefühl, dass alles perfekt ist. Um das zu erreichen, will man alles so gut machen wie möglich, denn man hat ja gelernt: „Wenn ich mich anstrenge, ist das gut.“
Perfektion im Beruf – klar!
Es ist völlig normal und verständlich, dass Menschen im Beruf perfekt sein wollen, weil gerade die moderne Arbeitswelt dieses Verhalten begünstigt: Sie belohnt Höchstleistungen und den perfekten, schönen Schein.
Doch nicht immer geht alles glatt: Wir bekommen eben nicht andauernd die positiven Reaktionen, die wir uns wünschen. Das geht uns allen so. Manchmal erwarten Chefs, Kollegen und Kunden einfach zu viel von uns, manchmal finden es die anderen einfach völlig normal, dass wir uns anstrengen. Und manchmal machen wir trotz aller Anstrengung Fehler. Das ist zwar frustrierend. Aber es lässt sich nicht vermeiden, denn der Frust gehört einfach dazu....