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Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen

Eine Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert

AutorMiriam Gebhardt
VerlagDeutsche Verlags-Anstalt
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783641037239
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis22,99 EUR
Erziehung und Angst - eine Geschichte der elterlichen Verunsicherung
Wie viel Nähe braucht ein Kind? Darf ich mein Baby beruhigen, wenn es weint, oder muss es lernen, sich selbst zu beruhigen? Und was muss ich tun, damit mein Kind endlich durchschläft? Nach der Geburt des ersten Kindes stellen sich Eltern stets die gleichen Fragen und suchen Rat bei Ärzten, Hebammen und Erzieherinnen. Jede Generation stützt sich dabei auf andere Elternratgeber, doch das einflussreichste Buch der deutschen Erziehungsgeschichte war über Jahrzehnte »Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind«, ein Buch, das Distanz und Disziplin predigte, um den Nachwuchs abzuhärten und Eltern davor zu bewahren, sich von ihren »kindlichen Tyrannen« manipulieren zu lassen. Bis in die sechziger Jahre galt die strenge Parole: »Kinder nicht küssen!«

Auf beeindruckend breiter Quellenbasis, darunter zahlreichen Elterntagebüchern, zeigt die Historikerin Miriam Gebhardt, wie stark die Angst um das Kind und die Angst vor dem Kind Erziehungsfragen geprägt haben. Und sie macht deutlich, wie sehr dieses Erbe der Verunsicherung bis heute viele deutsche Debatten um den richtigen Umgang mit Kindern dominiert.

Miriam Gebhardt ist Journalistin und Historikerin und lehrt als außerplanmäßige Professorin Geschichte an der Universität Konstanz. Neben ihrer journalistischen Arbeit, unter anderem für die Süddeutsche Zeitung und Die Zeit, habilitierte sie sich mit einer Arbeit über die Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert, auf der »Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen« (2009) beruht. Sie ist Autorin zahlreicher weiterer Bücher, darunter ihr vielbeachteter Bestseller »Als die Soldaten kamen« (2015) über die Vergewaltigungen nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland durch die Soldaten der Siegerarmeen und »Die Weiße Rose« (2017). Zuletzt erschienen bei DVA »Wir Kinder der Gewalt« (2019) und »Unsere Nachkriegseltern« (2022).

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Leseprobe
Die Arbeit an diesem Buch hat bei mir ein Gefühl der Verwunderung hinterlassen; Verwunderung darüber, wie sehr in diesem Land alle Erziehungsdebatten von Angst geprägt sind. Sicher haben Eltern immer Sorgen um ihre Kinder, sie befürchten nicht nur in Deutschland, dass nicht alles optimal läuft bei der Erziehung und Betreuung, dass der eigene Nachwuchs den Anschluss verpassen und den gesellschaftlichen Normen nicht entsprechen könnte. Bemerkenswert an der deutschen Diskussion der letzten Jahre ist jedoch: Eltern scheinen sich nicht nur um ihr Kind zu ängstigen, sondern auch vor ihrem Kind. Die Angst vor dem eigenen Kind ist so groß, dass Experten Eltern versprechen müssen, sie vor ihrem Kind zu beschützen. Monatelang stand eine Schrift des Kinder- und Jugendpsychiaters Michael Winterhoff ganz oben auf den Bestellerlisten, die als Patentrezept für den Umgang mit dem Kind Strenge, Konsequenz und klare Grenzen verordnete. Autorität und Disziplin scheinen neuerdings wieder die wichtigsten Erziehungsinstrumente zu sein. Abgesehen von der Frage der Berechtigung solcher Ratschläge - das will ich als Historikerin nicht beurteilen - ist das Bild vom Kind, mit dem die mehr oder weniger ausgewiesenen Fachleute die geforderte Strenge begründen, doch erstaunlich. Winterhoffs erstes Erfolgsbuch heißt Warum unsere Kinder Tyrannen werden. Damit ruft der Autor ein vertrautes Argument unserer Großeltern und Urgroßeltern auf - die Warnung vor dem kindlichen Tyrannen oder dem Kleinen Haustyrannen. Die Zeitschrift Stern verkaufte im Jahr 2005 eine ihrer Titelgeschichten mit der Headline »Die kleinen Tyrannen. Wie Kinder ihre Eltern dressieren und wie Mütter und Väter kontern können«. Auf dem Cover ließ ein kleines Ungeheuer die Peitsche über seinen vor Angst schlotternden Eltern kreisen. Auch die Bildsprache des Spiegel-Titels »Wie viel Mutter braucht das Kind?« im Februar 2008 ging in diese Richtung. Gezeigt wurde ein überdimensionales Kleinkind, das eine winzige und völlig verhuschte Mutter mit fester Faust gepackt hielt. Kinder werden, so konstatiert die Zeitschrift Eltern, hierzulande als »Bonsai-Terroristen«, »Saddam Husseins im Taschenformat« oder »Kotzbrocken« bezeichnet.
Solche Titelgeschichten, Formulierungen und Abbildungen sind nicht allein damit zu erklären, dass sie die Auflage steigern. Sie verweisen vielmehr auf latente Einstellungen in der Gesellschaft. Die Haltung zum Kind ist offensichtlich nicht nur von realen Befürchtungen um die Zukunft der nächsten Generation bestimmt. Der Diskurs um die kindliche Tyrannei bringt mehr zum Vorschein als die Angst der Mittelschicht vor der familialen Deklassierung - in ihrer Eigenwahrnehmung fühlen sich Eltern ohnmächtig gegenüber ihren omnipotenten Zwergen.
Die Angst der Eltern vor dem Versagen im Umgang mit unberechenbaren und unkontrollierbaren Kindern erklärt auch die Sehnsucht nach klaren, möglichst strikten Expertenanweisungen. Ratgeber oder Ratgebersendungen wie Die Super Nanny, durch die das Publikum das Gruseln lernt, erfreuen sich großer Beliebtheit und sorgen für gute Quoten. Lautstark wird die staatliche und institutionelle Einmischung in die zentrale Aufgabe der Familie, die Versorgung und Erziehung ihrer kleinen Kinder, gefordert. Im Dezember 2007 hat die Bundesregierung beschlossen, Eltern und Kinder künftig stärker zu beaufsichtigen. Zur Vorbeugung von Verwahrlosung und Misshandlung sollen Säuglinge und Kleinkinder von Geburt an bis ins Alter von vier Jahren regelmäßig einem Arzt vorgestellt werden. Bei Verdachtsmomenten ist eine Meldepflicht geplant, außerdem sollen Hebammen, Mediziner, Behörden und Polizei enger kooperieren. Die Anregung der SPD-regierten Länder, außer neuen Pflichten auch neue Rechte, nämlich Kinderrechte, im Grundgesetz zu verankern, wurde nicht aufgegriffen.
Es vergeht kein Monat, ohne dass sich ein Sozialisationsexperte dafür ausspricht, es müsse endlich ein Elternführerschein eingeführt werden. Vor zwanzig Jahren hoffte man zumindest in alternativen Erziehungsmilieus noch auf eine Rückkehr zu »natürlichen« Methoden, zu Spontanität und Intuition im Umgang mit Kindern jeden Alters. Eltern sollten sich nicht von Experten zur Hilflosigkeit erziehen lassen. Heute ist keine Rede mehr von Autonomie und Eigenverantwortung der Eltern oder gar der Kinder im Sozialisationsprozess. Nach Meinung des bekanntesten deutschen Sozialisationsexperten, Klaus Hurrelmann, sind zwei Drittel der Eltern gar nicht oder nur sehr eingeschränkt in der Lage, ihre Sprösslinge selbstständig zu erziehen. Diese Meinung teilen viele. Die Regierung hat mit dem Modellprojekt »Pro Kind« zur intensiven Betreuung sozial schwacher Erstgebärender reagiert.
Die Expertenhörigkeit gibt zu denken, wenn man weiß, dass Eltern nicht erst seit gestern, sondern seit der Aufklärung informiert und seit dem späten 19. Jahrhundert immer intensiver und mit immer professionelleren Medien instruiert wurden. Die Klage der Fachleute über die Unfähigkeit der Eltern, mit den gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Anforderungen an die Sozialisation der Kinder Schritt zu halten, müsste eigentlich als Erstes auf sie selbst zurückfallen. Daran zeigt sich, wie blind der Ratgeberdiskurs für seine eigene Geschichte ist. Es wird der Anschein vermittelt, als sei die wissenschaftliche Kindererziehung ein Produkt der Gegenwart, das nur endlich eins zu eins von den Familien beachtet werden müsse. Das Fortschrittsdenken der Expertise verstellt die Möglichkeit einer kritischen Bilanz des bislang Erreichten. Der geschichtslose Erziehungsdiskurs fragt kaum danach, wodurch Experten ihren qualitativen Wissensvorsprung vor der Restgesellschaft gerechtfertigt sehen. Allgemein gesagt: Die immer lauter werdende Forderung nach mehr Normativität und Führung in der Frage der familialen Sozialisation, der sich sogar Historiker anschließen, hat offensichtlich nicht nur fachliche Hintergründe. Es geht zugleich um ein gesellschaftspolitisches Thema, um die öffentliche Führungsrolle des Neuen Bürgertums, das sich nicht zuletzt bei der Kindererziehung durch die Bevorzugung von Privatschulen hervortut.
Ein weiteres Phänomen der aktuellen Diskussionen neben der Ängstlichkeit und der Expertengläubigkeit ist die Verlegung des kritischen Zeitpunkts im Sozialisationsprozess auf immer frühere Zeitpunkte. In den letzten zwei Jahrzehnten diskutierten Sozialisationsexperten, wie wichtig peer groups und Selbstsozialisation für das Aufwachsen seien. In den 60er und 70er Jahren hatte sich die Gesellschaft vor allem mit Chancengleichheit in Schule und Ausbildung beschäftigt. Heute ist die früheste Kindheit von alles entscheidender Bedeutung. Die Aufwertung der ersten Lebensjahre liegt im wissenschaftlichen Großtrend des Naturalismus, der die biologischen Grundlagen des menschlichen Daseins betont, der Denken, Fühlen, Handeln, Geschlechterverhältnisse, Temperamentsfragen usw. mit Biologie erklären möchte. Dazu gehört auch die Ansicht, schon die ersten Beziehungserfahrungen im Säuglingsalter wirkten sich auf die hirnanatomischen Strukturen aus, mit weitreichenden Konsequenzen für das ganze Leben. Ein wichtiges Thema ist die Rückdatierung der kognitiven Kompetenzen des Kindes in die ersten Lebensstunden, ja sogar in die vorgeburtliche Zeit, in der Hoffnung, noch früher in den Lauf der Entwicklung eingreifen zu können.
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