1.Barbarei und Zivilisation
»Es gab niemals einen zivilisatorischen Wert, der nicht einen Anklang von Weiblichkeit, von Sanftheit, von Mitgefühl, von Gewaltlosigkeit, von respektierter Schwäche hatte … Die erste Beziehung zwischen dem Kind und der Zivilisation ist sein Verhältnis zu seiner Mutter.«
Romain Gary, La nuit sera calme
Will man über die Beziehungen zwischen Völkern oder Gesellschaften sprechen, ist zunächst eine schwierige Frage zu klären: Lassen sich Handlungen, die unterschiedlichen Kulturen entspringen, nach den gleichen Kriterien beurteilen? Hier drängt sich häufig der Eindruck auf, man könne dem einen Extrem nicht entrinnen, ohne sogleich in ein anderes zu verfallen. Wer an absolute, also transkulturelle Werte glaubt, läuft Gefahr, die ihm vertrauten Werte für allgemeingültig zu halten, sich einem naiven Ethnozentrismus und einem blinden Dogmatismus hinzugeben und in der Überzeugung zu leben, für immer im Besitz des Wahren und Richtigen zu sein. Er kann in dem Augenblick zu einer Gefahr werden, da er beschließt, die ganze Welt müsse an den Errungenschaften seiner eigenen Gesellschaft teilhaben, und sich das Recht herausnimmt, andere Länder zu überfallen, um deren Bewohner besser »aufklären« zu können. So dachten gestern die Ideologen des Kolonialismus, und so denken heute die Interventionsbefürworter, die humanitäre Argumente ins Feld führen oder anderen Völkern die Demokratie bringen wollen. Der Werte-Universalismus bedroht die Vorstellung von der Gleichwertigkeit der Menschen und damit auch die Universalität der menschlichen Gattung.
Wer indes glaubt, alle Urteile seien relativ – kultur-, orts- und zeitgebunden –, ist ebenfalls bedroht, wenngleich aus der entgegengesetzten Richtung. Wenn jedes Werturteil an den äußeren Umständen festgemacht wird, findet man sich dann nicht mit allem ab, sofern es bei den anderen geschieht? Das Menschenopfer ist demnach nicht unbedingt verdammenswert, weil es in manchen Gesellschaften eben üblich ist; oder die Folter, oder die Sklaverei. Das eine Volk ist reif für die Freiheit, das andere nicht, und schließlich bleibt jeder sich selbst überlassen – da meine Werte ja nicht zwangsläufig besser sind als andere. Wird dieser Relativismus zu einer durchgehenden Geisteshaltung, mündet er in Nihilismus. Und wenn jeder, der grundsätzlich dem anderen gleich ist, seine Werte willkürlich wählt, wird die Einheit des Menschengeschlechts ebenfalls negiert, wenn auch auf andere Weise, da die Menschen kein gemeinsames geistiges Universum mehr haben.
Szylla und Charybdis des transkulturellen Werturteils – Dogmatismus und Nihilismus – scheinen mitunter unvermeidbar. Dabei sind wir tagtäglich aufgerufen, Handlungen und Bräuche zu beurteilen, die unterschiedlichen Kulturen entspringen, und würden uns dieser Alternative gerne entziehen. Man möchte die unendliche Vielfalt der menschlichen Gesellschaften anerkennen und zugleich über eine zuverlässige Werteskala verfügen, die Orientierungshilfe bietet. Aber wie ist das zu bewerkstelligen?
Um in dieser Frage ein Stück voranzukommen, dient mir ein ehemals gebräuchliches Wort in seinem engen Sinn als Leitfaden: der Barbar.
Der Barbar
Ich habe keineswegs die Absicht, hier die Geschichte dieses Wortes und der mit ihm verbundenen Vorstellungen zu rekapitulieren, die bereits von zahlreichen Experten untersucht wurde.1 Ich verfolge einen anderen Zweck, wenn ich mich noch einmal mit einigen Kapiteln der Vergangenheit befasse: Ausgehend von bestimmten einstigen Verwendungsweisen des Wortes möchte ich ihm eine Bedeutung geben, die heute für uns hilfreich sein kann. Zwischen Vergangenheit und Gegenwart sehe ich weder einen radikalen Bruch noch völlige Identität, vielmehr frage ich nach der inneren Kohärenz.
Bekanntlich stammt das Wort aus dem alten Griechenland, wo es zum alltäglichen Sprachgebrauch gehörte, und zwar insbesondere nach dem Krieg gegen die Perser. Es trat in Gegensatz zu einem anderen Wort, und zusammen dienten sie dazu, die Völker der Welt in zwei ungleiche Teile einzuteilen: die Griechen, also »wir«, und die Barbaren, das heißt »die Anderen«, die Fremden. Um festzustellen, zu welcher Gruppe jemand gehörte, legte man als Maßstab die Beherrschung der griechischen Sprache an: Barbaren waren demnach diejenigen, die ihrer nicht mächtig waren oder sie schlecht sprachen.
Man könnte sagen, dass gegen einen solchen Gebrauch des Wortes nichts einzuwenden ist, auch wenn Platon (in Politeia) über diejenigen spottete, die so taten, als bildeten alle Nichtgriechen eine einheitliche Bevölkerung, während diese Völker sich in Wirklichkeit gar nicht ähnlich waren und, schlimmer noch, sich auch untereinander nicht verständigen konnten. Die Unterscheidung zwischen denen, die unsere Sprache verstehen, und denen, die sie nicht verstehen, beinhaltet letztlich kein Werturteil, sondern liefert lediglich eine nützliche Information. Doch aus Gründen, auf die später noch zurückzukommen ist, verlieh man dieser Unterscheidung von Anfang an eine zweite Bedeutung und verband sie mit einem Werturteil: Der Gegensatz von Barbaren und Griechen ging mit dem von »Wilden« und »Zivilisierten« einher – so könnte man in einer ersten Annäherung sagen.
Die Wildheit des Barbaren ist nicht genau definiert, in den Dokumenten sind die entsprechenden Hinweise nicht immer deckungsgleich. Dennoch lassen sich übereinstimmende und erhellende Merkmale herauskristallisieren:
a) Barbaren sind diejenigen, die gegen die elementarsten Gesetze des menschlichen Zusammenlebens verstoßen, da sie nicht das richtige Verhältnis zu ihren Verwandten finden: Muttermord, Vatermord, Kindesmord einerseits und Inzest andererseits sind sichere Zeichen für Barbarei. Bei Euripides sagt eine Person im Zusammenhang mit Orest, der seine Mutter ermordet hat: »Dazu wäre ein Barbar kaum fähig!«2 In den ersten Jahrzehnten des 1. Jahrhunderts schrieb Strabon, ein griechischer Geograf, ein Werk, in dem er behauptet, die Irländer praktizierten einen rituellen Kannibalismus: »Sie sind Menschenfresser und Grasfresser und halten es für achtbar, ihre Väter, wenn sie gestorben sind, zu verspeisen.« Sie tun das, damit ihre Stärke auf sie übergeht, setzen also spirituelle Nähe mit materieller Einverleibung gleich.
b) Barbaren sind diejenigen, die sich von den anderen Menschen absolut unterscheiden. Derselbe Strabon schildert die Gallier als Barbaren, weil sie, so sagt er, den Brauch haben, »dass sie bei der Rückkehr aus dem Kampfe die Köpfe der Feinde um die Hälse ihrer Pferde hängen und zu Hause an das Vordertor nageln. […] auch von […] Menschenopfern wird berichtet«. Das lässt sich dahingehend erweitern, dass diejenigen, die systematisch Gewalt anwenden und Krieg führen, um ihre Meinungsverschiedenheiten zu regeln, in die Nähe der Barbarei gerückt werden. Das Gegenteil von Barbarei besteht hier in der Gastfreundschaft auch Fremden gegenüber oder in der Pflege von Freundschaft: Man gibt den anderen, was man selbst gerne bekommen würde.
c) Ein weiteres Anzeichen für Barbarei: Es gibt Menschen, die selbst bei den intimsten Handlungen keine Rücksicht auf die anderen nehmen. In Irland, so Strabon, »[halten die Männer es für achtbar] sich in aller Öffentlichkeit mit den Frauen zu begatten«;3 als würden ihnen Tiere und nicht Menschen zuschauen. Sich öffentlich zu paaren, sagte schon Herodot, heißt, sich wie Tiere zu verhalten.4 Scham ist ein ureigener Wesenszug des Menschen; sie bedeutet, dass mir die Blicke der anderen bewusst sind.
d) Barbaren sind diejenigen, die in vereinzelten Familienverbänden leben, anstatt sich zu Siedlungen zusammenzuschließen oder, besser noch, Gesellschaften zu bilden, in denen die von allen anerkannten Gesetze das Zusammenleben regeln. Bei den Barbaren herrschen Chaos und Willkür, sie kennen keine soziale Ordnung. Eine Nähe zur Barbarei weisen auch die Länder auf, in denen alle Menschen der Tyrannei eines Despoten ausgeliefert sind; dagegen entfernen sich jene Länder von der Barbarei, in denen die Bürger gleich behandelt werden und, wie in der griechischen Demokratie, an der Führung der Staatsgeschäfte mitwirken. Für die Griechen sind die Perser Barbaren in einem doppelten Sinn: weil sie nicht Griechisch sprechen und weil sie in einer tyrannischen Ordnung leben. »O Tyrannei, von den Barbaren geliebt!«, heißt es in einem antiken Fragment.5 Helena sagt in der Tragödie von Euripides, die ihren Namen trägt, einen verblüffenden Satz: »Denn Sklaven sind alle hier – bis auf einen.«6
Diese Merkmale von Barbaren sowie einige andere, auf die wir noch zurückkommen werden, lassen sich zu einer großen Kategorie zusammenfassen: Barbaren sind diejenigen, die nicht anerkennen, dass die anderen Menschen sind wie sie selbst, sondern sie in die Nähe von Tieren rücken, indem sie sie...