VORWORT
Bertolt Brecht und die Literaturwissenschaft
I
Angesichts der inzwischen ins Uferlose angeschwollenen Brecht-Literatur etwas Sinnvolles zum Thema „Brecht und die Literaturwissenschaft“ zu sagen, ist ein geradezu herkulisches Unterfangen. Um mich dabei nicht auf das rein Aufzählende zu beschränken, was die Kenner notwendig langweilen und die mit diesen Schriften weniger Vertrauten eher abschrecken würde, verfahre ich deshalb im Folgenden – im Hinblick auf die verschiedenen Phasen dieser Forschungsrichtung – lieber argumentativ, indem ich sie vorwiegend auf ihren ideologischen Stellenwert befrage. Ja, nicht nur das. Um dem Ganzen einen gesellschaftspolitischen Fokus zu geben, fasse ich dabei – wohl oder übel – lediglich die innerdeutsche Entwicklung der sich mit Brecht beschäftigenden Sekundärliteratur ins Auge und gehe auf die außerdeutsche Auseinandersetzung mit Brecht nur dort ein, wo sie auf die Forschung in der DDR, der alten BRD und der heutigen sogenannten Berliner Republik eingewirkt hat. Und selbst dabei übergehe ich die geradezu unübersehbare Fülle an journalistischen Beiträgen und Theaterkritiken und erwähne nur das, worin die wichtigsten Literatur- und Theaterwissenschaftler dieser drei Staaten die Bedeutsamkeit von Brecht gesehen haben. Doch im Rahmen eines abrissartigen Vorworts wird selbst das etwas kursorisch ausfallen.
II
Eine spezifisch literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Bertolt Brechts Œuvre und seinen darin vertretenen gesellschaftspolitischen Anschauungen begann – nach 15 Jahren einer relativen Nichtbeachtung während des skandinavischen und US-amerikanischen Exils – erst, als Brecht in der Anfangsphase des Kalten Kriegs 1948 im sowjetzonalen Ostberlin Fuß zu fassen versuchte. Wie sehr man dort diese Entscheidung begrüßte, beweist schon ein im Jahr 1949 von Peter Huchel herausgegebenes Sonderheft von Sinn und Form, das ausschließlich seinem Werk gewidmet war. Allerdings verhinderte die zum gleichen Zeitpunkt in der Sowjetischen Besatzungszone beginnende Formalismus-Debatte, in der, wie wir wissen, einige einflussreiche SED-Kulturfunktionäre Brecht Verstöße gegen die alleingültige Doktrin des sozialistischen Realismus vorwarfen, erst einmal ein genaueres Eingehen auf die Grundprinzipien seiner literarischen Schreibweise.
Erst nach dem zwischen 1952 und 1954 einsetzenden Ruhm seines Berliner Ensembles trat daher in der inzwischen gegründeten DDR eine parteipolitische und literaturwissenschaftliche Würdigung seiner Werke ein. Dafür sprechen nicht nur die Gedenkreden, die Walter Ulbricht, Johannes R. Becher, Paul Wandel und Georg Lukács nach Brechts Tod im August 1956 unter dem Motto „Du verließest uns viel zu früh“ an seinem Grabe oder im Berliner Ensemble hielten, sondern auch die ersten über ihn verfassten literaturwissenschaftlichen Studien, allen voran Ernst Schumacher mit seinem Buch Die dramatischen Versuche Bertolt Brechts 1918–1933 (1955), mit dem er kurz zuvor bei Hans Mayer und Ernst Bloch in Leipzig promoviert hatte. Darauf erschienen in der DDR in schneller Folge weitere Brecht-Studien von Hans-Joachim Bunge, Käthe Rülicke-Weiler und Gerhard Zwerenz sowie das zweite Brecht-Sonderheft von Sinn und Form. In ihnen ging es vor allem darum, die Entwicklung Brechts von seiner anarchistischen Jugendphase zu seinen späteren marxistisch orientierten Positionen herauszustellen. Damit waren die wichtigsten Voraussetzungen für die Entfaltung einer breitgefächerten Brecht-Forschung in der DDR geschaffen, zu deren Hauptvertretern zwischen 1960 und 1965 vor allem Werner Hecht, Hans Kaufmann, Klaus Schuhmann und besonders Werner Mittenzwei gehörten, die sich inzwischen weitgehend aus den Fesseln der Formalismus-Debatte gelöst hatten und neben Brechts marxistischer Grundhaltung auch die Bedeutung seiner Verfremdungstechnik sowie seiner Materialwerttheorie akzentuierten, statt ihm weiterhin auf erpenbeckmessersche Weise den Vorwurf zu machen, sich nicht an die maßstabsetzenden Lehren Konstantin Stanislawskis gehalten zu haben.
III
Wie zu erwarten, vollzog sich in der BRD die politische und literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Brecht während der fünfziger und frühen sechziger Jahre unter völlig anderen ideologischen Vorbedingungen. Hier schwieg man sich, ob nun auf konservativer oder neoliberaler Ebene – aufgrund der herrschenden antikommunistischen Propaganda wellen – über ihn, wie auch über andere linksorientierte Exilautoren, entweder aus oder trat jenen Theaterregisseuren, die es dennoch wagten, einige seiner Stücke zu inszenieren, vor allem in den spannungsreichen Jahren 1953 (17. Juni), 1956 (Ungarnaufstand) und 1961 (Mauerbau), mit massiven Boykottdrohungen entgegen. Und auch die mit der Adenauerschen Restaurationspolitik konformgehende bundesrepublikanische Germanistik, die sich fast ausschließlich mit goethezeitlichen oder romantischen Dichtungen beziehungsweise der biedermeierlichen Literatur der Metternichschen Restaurationsperiode beschäftigte, ging – wegen der faschistischen Vergangenheit vieler ihrer maßgeblichen Vertreter – aus begreiflicher Berührungsangst allen als „politisch“ geltenden Literaturwerken von vornherein aus dem Wege. Dafür nur ein Beispiel: Als ich 1957, nach einem längeren Aufenthalt in Ostberlin, vor Marburger Studenten einen Vortrag über „Bertolt Brecht und das Berliner Ensemble“ hielt, sagte einer der führenden westdeutschen Neugermanisten dieser Jahre anschließend ironisch lächelnd zu mir: „Ja, aber wer ist denn dieser Herr Brecht?“
Was damals in der westdeutschen Germanistik – unter völliger Nichtbeachtung irgendwelcher gesellschaftskritischen Aspekte – als positiv galt, waren weitgehend die sogenannten literarischen Bauformen, aber nicht der ideologische Aussagewert von Dichtungen. Wer sich deshalb in diesem Staat überhaupt literaturwissenschaftlich mit Brecht beschäftigte, stellte daher, wie Franz Herbert Crumbach, Otto Mann oder Jürgen Rühle, Brechts Weltanschauung von vornherein als „verfehlt“ hin oder bezichtigte ihn im Jargon des Kalten Kriegs, lediglich ein literarischer Handlanger jenes „Schinderregimes“ jenseits des Eisernen Vorhangs gewesen zu sein, in dem man jede freiheitlich-individuelle Regung rücksichtslos unterdrückt habe.
Die ersten, die dieser Haltung in der frühen BRD auf germanistischer Seite widersprachen, waren zwischen 1957 und 1959 Reinhold Grimm, Walter Hinck, Marianne Kesting, Volker Klotz und Klaus Völker, die sich in Anlehnung an Peter Szondis Theorien über offene und geschlossene Bauformen des Dramas, wenn auch unter Weglassung aller von Brecht ge forderten Grundprinzipien des dialektischen Materialismus marxistischer Prägung, vornehmlich mit der Herausstellung bestimmter dramaturgischer Techniken, durch Komik erzielter Verfremdungseffekte sowie ähnlich gearteter Themenstellungen beschäftigten, sich also bei ihren Rechtfertigungsstrategien vor allem auf formale Kriterien stützten. Falls dabei überhaupt ideologische Aspekte ins Spiel kamen, wichen Autoren und Autorinnen wie Marianne Kesting zumeist ins Journalistisch-Unverbindliche aus, indem sie Brecht als eine „geheimnisvolle Widerstandsfigur“ charakterisierten,1 der es vornehmlich um die Durchsetzung ihrer Form des Theaters, aber nicht um irgendwelche gesellschaftskritische oder gar weltverändernde Absichten gegangen sei.
IV
Eine Politisierung des Brechtschen Œuvres trat in der BRD erst ein, als in den frühen sechziger Jahren unter westdeutschen Intellektuellen wie Jürgen Habermas, Alexander Mitscherlich, Georg Picht, Hans Werner Richter und Martin Walser – aus Sympathie mit dem gegen die Adenauersche Kalte-Kriegs-Politik auftretenden SPD-Kanzlerkandidaten Willy Brandt – eine Wendung ins Linksliberale einsetzte, was schließlich einen Verleger wie Siegfried Unseld bewegte, 1967 im Suhrkamp Verlag jene zwanzigbändige Taschenbuchausgabe der Gesammelten Werke Brechts herauszubringen, die sich über Nacht als ein durchschlagender Erfolg erwies.2
Danach war plötzlich auch in der neugermanistischen Literaturwissenschaft der BRD – trotz der antagonistischen Haltung mancher älteren Ordinarien – überall von Brecht die Rede, wovon beispielsweise die in diesem Zeitraum veröffentlichten Brecht-Studien von Klaus-Detlef Müller, Henning Rischbieter und Dieter Schmidt zeugen, die neben formalen Aspekten auch auf die ideologischen Grundvoraussetzungen des Brechtschen Schaffens eingingen und dabei selbst die Werke ostdeutscher Brecht-Forscher wie Werner Hecht, Hans Mayer, Werner Mittenzwei und Käthe Rülicke-Weiler, die zwischen 1961 und 1966 erschienen waren, keineswegs unberücksichtigt ließen.
Einen weiteren Anstoß erlebte die westdeutsche Brecht-Forschung selbstverständlich durch jene aufmüpfige 68er-Bewegung, deren studentische Vertreter zum Teil mit der 1968 gegründeten Deutschen Kommunistischen Partei sympathisierten, eine verschärfte Vergangenheitsbewältigung anstrebten, sich mit der antifaschistischen Exilliteratur auseinandersetzten und dabei Brecht zu einem ihrer politischen Kronzeugen, wenn nicht gar zum wichtigsten Vorbild einer dem sogenannten „Spätkapitalismus“ entgegentretenden ideologischen Haltung erhoben. Das bekannteste Beispiel dafür ist die 1969 an der Kieler Universität angenommene Dissertation von Reiner Steinweg, Das Lehrstück. Brechts Theorie einer politisch-ästhetischen...