Wenn ich ehrlich bin, bedrängt sie mich eigentlich schon hier und jetzt, in dieser Gesellschaft, in unserer Zeit: die Diktatur. Ich erlebe massive Fremdsteuerung, erlebe Marionetten und erlebe auch mich allzu oft als Marionette – an Fäden, die niemand so recht zu lenken scheint, die aber immer wieder dahin lenken, wo ich brav tue oder lasse, was andere mir auftischen, vorsetzen, anbieten. Deutlicher gesagt: Mir fehlt es an Verantwortung, an Verantwortung des Einzelnen, aber auch der Institutionen und der Menschen, die sie führen und die dort tätig sind. Mir fehlt es an Akzeptanz für verantwortliches Handeln.
Verantwortung wird in unserer Gesellschaft ständig und immer stärker dem Einzelnen selbst zugemutet. Mir geht es hier gerade nicht um die »Verantwortung zur Selbstausbeutung«, denn nichts anderes ist damit ja gemeint. Diese Art von Umgang mit sich selbst hat nichts mit Verantwortung zu tun, wie ich sie in diesem Buch noch näher definieren werde, sondern vielmehr mit einer der wirkungsvollsten Strategien der Diktatur der Dummen: mit der Umdeutung von Begriffen, die emotional und moralisch aufgeladen plötzlich unter fremder Flagge segeln – unter, möchte ich meinen, Piratenflagge.
Es macht manchmal, nein oft sogar den Eindruck, als hätten wir nichts gelernt, als würden wir nichts lernen, als ginge es bei uns nicht so richtig vorwärts. Diese Wahrnehmung erschreckt mich und bringt mich zu einer grundlegenden Frage und meinem eigentlichen Anliegen: Was ist bloß nach dem Beginn der Aufklärung schiefgegangen mit dem Projekt »sapere aude« – wage zu wissen? Es ist irgendwie liegen geblieben, wurde vergessen, auf Halde geschoben. Wir haben aufgehört, Dinge zu hinterfragen, wir haben aufgehört, neugierig zu sein. Und das, wo doch justament in den Neunzigerjahren das Folgeprojekt »sapere sentire« – wage zu fühlen – von den Neurowissenschaften aufgesetzt wurde. Sie haben uns klargemacht, dass noch mehr geht: die eigenen Gefühle zu kennen und dabei zugleich die eigenen Bedürfnisse zu erkennen.
Es lohnt sich, etwas von diesem »unwillkürlichen« inneren Apparat in jedem von uns zu erfahren – weil wir nur so autonome Wesen werden können. Wer seine Gefühle und seine Bedürfnisse kennt, erlangt Autonomie. So viel habe ich verstanden – und zwar auf eine Weise wie viele andere auch: mehr oder weniger zufällig, mehr oder weniger kryptisch. Schließlich bin ich nicht mehr an einer Hochschule, ich studiere nicht mehr und forsche auch nicht in diesem Bereich. Aber ich weiß: Ich will nicht dreißig Jahre warten, bis die Erkenntnisse zu Gefühlen und Bedürfnissen in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind und wir alle davon profitieren können.
Das Folgeprojekt »sapere sentire« wird noch im inneren Kreis der Forschung gefeiert, während der Gesellschaft schon das zentrale Anliegen des Vorprojektes, der Aufklärung, aus dem Blick geraten ist. Wie viele von uns haben nicht schon das »Wage zu wissen« aufgegeben, eingestellt, abgehakt? Wie viele haben sich eingerichtet in einer Komfortzone, sind ängstlich darauf bedacht, dass alles schön so bleibt, oder sind bestenfalls mit Optimierungsarbeiten befasst? Viele! Und wir merken dabei nicht und nur selten, in schlechten Träumen oder stillen Stunden, dass uns dabei unsere Vitalität abhandenkommt, dass wir immer »die Alten« bleiben, dass wir uns gar nicht verändern – eine furchtbare Wahrheit, die an uns zehrt und deren Spuren in unseren Gesichtern abzulesen sind.
Ich erlebe unsere Gesellschaft auf der Straße, im Supermarkt, im Theater, im Kino oder im Schwimmbad – nicht in Neugier, nicht in Interesse, nicht in Bewegung, sondern vielmehr in einer Art von Trance: Erwachsene wie Jugendliche, kerngesund, aber hoch aufgerüstet mit technischem Gerät, mit Kopfhörern, Smartphones, Tablets, Handys, Notebooks, MP3-Playern und, und, und. Menschen, die zwar hier sind, aber nicht anwesend – Menschen in Trance, die sie daran hindert, das von uns zu wissen, was wir wissen können, von anderen, vom Zustand der Straßen, der Supermärkte, der Schwimmbäder … Ich erlebe diesen »Entspannungszustand« als eine Art Hypnose, die uns abhält von oder herausholt aus unserer eigenen Wahrheit.
Es gibt einen Sog, den alle kennen, die eigentlich nur mal kurz ihre Mails checken wollten und nach zwei spurlosen Stunden wieder den Kopf heben, sich umschauen und nicht wissen, wo diese Zeit geblieben ist. Es gibt einen Sog, der verhindert, uns selbst zu erleben, unseren Körper, im Hier und Jetzt. Es gibt aber, und da sind sich wohl sowohl die großen Weisen dieser Welt als auch die spirituellen Lehrer einig, keine andere Chance, als genau im Hier und Jetzt und mit unserem Körper zu leben, zu erleben – und zwar die ganze, volle Palette: Glück und Unglück, Anfang und Ende, Werden und Vergehen.
Der Sog, der uns in unseren PC oder unser Smartphone zieht, ist ein Teil dieser Trance ebenso wie der Sog, den ein Liebesroman oder ein Krimi auf den Leser ausüben: Es geht nicht um Hochkultur und Schund, es geht um die Bereitschaft und die Fähigkeit, selbst zu entscheiden, was gut ist für uns. Selbst Herr im eigenen Hause, im eigenen Leben zu sein, nicht getrieben von Medien, nicht im Wahn steter Selbstoptimierung, ohne Not, etwas zu verpassen. Und dazu durchaus PC und Illustrierte, Schmöker oder Flirtplattform als eine Option, als Wahlmöglichkeit zu begreifen – statt all das mit einem Leben zu verwechseln.
Diktatur und Dummheit: Begriffsklärungen
Beginnen wir mit Begrifflichkeiten und einem gemeinsamen Verständnis der beiden zentralen Begriffe dieses Buches: Diktatur und Dummheit.
Was ist eine Diktatur? Ich verstehe darunter die Machtübernahme durch eine Person oder eine Gruppe von Leuten jenseits freier Wahlen. Eine Herrschaft, die sich am besten an den Folgen erkennen lässt: Sie bringt Vorteile für die Gruppe, welche die Macht hat, auf Kosten und zu Lasten der Gesellschaft. Solche Diktaturen kennen wir beispielsweise als Autokratien von Idi Amin bis Adolf Hitler: Es herrschen Einzelne, die wiederum eine mitregierende Gruppe, ihre Elite, hinter sich gebracht haben.
Was ist Dummheit, was genau bedeutet dumm? Zunächst einmal verstehe ich darunter die fehlende Befähigung, (a) aus den eigenen Wahrnehmungen die passenden Schlüsse zu ziehen, um (b) in der Folge aus diesen Schlüssen das Erforderliche oder Mögliche zu lernen. Einig sind sich wohl alle darin, dass diese fehlende Fähigkeit entweder darauf fußt, dass grundlegende Tatsachen nicht bekannt sind – so wie im Filmbeispiel die Nachteile von Elektrolyten –, und also auf einem Mangel an Bildung beruht oder auf einem Mangel an Intelligenz beziehungsweise an Auffassungsgabe.
Die Diktatur der Dummen, wie im Film Idiocracy beschrieben, lebt genau von diesen drei Elementen: dass die Menschen weder ihren Wahrnehmungen trauen, noch gebildet sind, noch lernen können. Im Film gilt das für das Volk, aber auch für die herrschende Gruppe, die Regierung. Die Dummen herrschen also über andere Dumme. Die Herrschenden verstehen es im Film allerdings in den entscheidenden Situationen besser als andere, ihre Machtinteressen durchzusetzen. Der Unterschied liegt also in einer gewissen Cleverness oder Schläue.
Schlau nennen wir einen zum eigenen Vorteil gereichenden Schachzug, der die eigene Lage kurzfristig verbessert, ohne sich um die Konsequenzen zu sorgen. Schlau fühlt sich vielleicht der Schüler, der abschreibt, statt zu lernen, und so den eigenen Aufwand bei den Hausaufgaben stark reduziert. Schlau ist allerdings nicht klug, wie sich leicht erkennen lässt. Hier wird eben das Falsche gelernt: dass man auch ohne Bildung durchkommt, beispielsweise dass es nur darum geht, eine Note zu erhalten, und nicht um das zu Erlernende. »Schlau« kann also durchaus ein dumm machendes Verhalten sein und ist immer eines: kurzsichtig.
Schlau ist doch ganz okay könnte man dagegenhalten – unter den Blinden ist halt der Einäugige König. Hier stellt sich allerdings genau die zentrale Frage: Wollen wir tatsächlich so enden? Verblödet, dumm, manipuliert? Wir haben doch eigentlich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder Neues gelernt, waren immer wieder klug. Ist gerade das nicht das zentrale Element der Evolution, also ein Vorteil, der uns zum Nutzen gereicht (hat)? Wir haben gezielt Bildung entwickelt, um nicht nur individuell voranzukommen, sondern als gesamte Gesellschaft; wir haben Systeme aufgebaut, die uns und unseren Bedürfnissen dienen. Warum sollte das jetzt anders sein?
Wie sich Fremdsteuerung auswirkt
Erfolgsstrategien der Vergangenheit, die wir gesamtgesellschaftlich entwickelt und befördert haben, führen uns in den Abgrund, weil gerade sie auf Dummheit setzen – also auf Nicht-Lernen, auf Nicht-Spüren, auf Nicht-klug-Handeln. Wachstum und Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg, das ging vor allem, weil die Menschen funktionierten, anpackten, nicht groß nachdachten. Funktionieren, das können die meisten von uns ausgezeichnet, und es mag ein angemessenes Verhalten gewesen sein, um zu Wohlstand zu kommen – aus der Not heraus, aus dem Defizit, aus dem Mangel. Jetzt geht es aber darum, wie wir mit großen Veränderungen um uns herum umgehen....