Einleitung
Eine kleine Episode aus dem Behandlungsalltag soll Sie1 mitnehmen in das umfassende Thema der Psychodynamik, das ich mit diesem Buch aufzuschlagen gedenke. Frau L. hat mich mit dieser Szene überrascht, eine junge Frau, die so jung gar nicht mehr ist und doch immer wieder mal so erscheint. Mit ihrer blumigen Kleidung nimmt sie mich gelegentlich mit in die Gärten der Welt. Mit ihren weiten Röcken und den mit Rüschen besetzten Blusen versetzt sie mich in meiner Phantasie in die Zeit vergangener Jahrhunderte. Und mit ihren prallvollen Rucksäcken und Taschen, die sie häufig dabeihat, zeigt sie mir, wie schwer sie in ihrem Leben zu tragen hat. Sie spricht durch ihre Erscheinung und erzählt dabei doch immer nur einen Teil. So auch in dieser Sitzung, an deren Beginn sie mich mit einem so strahlend jungen Gesicht anschaute, dass mir war, als begegne ich dem Mädchen, das sie vielleicht nie war. Sie sank auf die Couch, lag wie hingeworfen, noch bevor ich saß, und ein so erschöpftes Stöhnen entfuhr ihr, dass ich erschrak. Was war ihr widerfahren?
Nach einem Moment des Schweigens begann sie mir von ihrem aktuellen Problem an der Universität zu erzählen. Es gab Schwierigkeiten mit ihrer Semester-Anmeldung. Ich erinnerte mich der zahlreichen Berichte, die ich im Zusammenhang mit dem Abschluss ihres Bachelor-Studiums bereits gehört hatte. Fast unbemerkt begann ich mich zu langweilen und fand mich rasch in Gedanken wieder, in denen ich mich mit meinen tagesaktuellen Themen befasste. Ich hörte ihr mehr beiläufig zu, wälzte meine Probleme und entdeckte, wie ich das trotz des schlechten Gewissens tat, das ich dabei hatte. Ich sollte doch aufmerksam zuhören, empathisch! Aber selbst als ich von schräg hinten lautlose Tränen über ihre Wange rollen sah, gelang es mir nicht, augenblicklich in die mir vertraute verständnisvoll-konzentrierte Haltung des analytischen Zuhörens zurückzufinden. Erst als ich das bemerkte, wurde mir klar, dass ich in einer emotionalen Verwicklung verfangen war, die es zu verstehen galt.
Nach und nach konnte ich nun erfassen, dass Frau L. mir eigentlich weniger eine real äußerst ärgerliche Geschichte berichtete als vielmehr eine emotionale Atmosphäre darstellte, welche diese Geschichte im Hintergrund prägte. Es war eine Geschichte von haarsträubender Ignoranz, der sie sich im Erleben ohnmächtig ausgeliefert sah. Real hatte die Verwaltung einen Fehler begangen, der offensichtlich darin bestanden hatte, dass die Sachbearbeiterin Unterlagen unbeachtet gelassen hatte; daraus hatte eine Ablehnung resultiert. Emotional hatte dieses Ereignis meine Patientin in das Gefühlserleben gebracht, der ignoranten Willkür der Verwaltung ohnmächtig ausgeliefert zu sein, chancenlos, ohne jegliche Unterstützung und ohne Aussicht auf eine Änderung. Reales Geschehen und emotionales Erleben standen in dieser Geschichte einander gegenüber, ohne zueinanderzupassen.
Mir fiel auf, dass ich meiner Patientin in meinen Gedanken zunächst ja ebenfalls ignorant begegnet war, ja sogar emotional ignorant, indem ihre Tränen mich emotional kurzzeitig nicht berührt hatten. Als mir das klar wurde, konnte ich mich fragen, ob ich damit nicht in eine spezifische Gegenübertragung geraten war, nämlich den Zustand kognitiver und emotionaler Ignoranz gegenüber Frau L. Schlagartig fiel mir nun die ganze emotionale Beziehungserfahrung ein, die meine Patientin mit ihren Eltern, mit der Mutter ebenso wie mit dem Stiefvater, gemacht hatte: die knüppelharte, emotional ignorante Mutter, die offenbar auf ihr kreativ und intellektuell sehr begabtes Kind neidisch gewesen war, das – im Unterschicht-Milieu aufgewachsen – angesichts seines Potentials stets Demütigung erfuhr; und der jahrelange sexuelle Missbrauch, der erst durch das beherzte Eingreifen der Schule gestoppt werden konnte. Jetzt erst konnte ich begreifen, dass diese Situation, in welche die Universität Frau L. gebracht hatte, ihre gesamte Beziehungserfahrung der Demütigung, des Missbrauchs und der Ohnmacht getriggert hatte, die ihr als Kind und Jugendliche in der Primärfamilie widerfahren waren. Ich suchte nach Worten für diesen Zusammenhang und fragte sie schließlich, ob es nicht sein könne, dass sie sich jetzt gegenüber der Universitätsverwaltung so ähnlich fühle, wie sie sich damals als Kind gegenüber ihren Eltern gefühlt habe. Sofort fielen ihr einige Szenen ihrer Kindheit ein und die Gefühle, die damit verbunden waren.
Als die Sitzung zu Ende ging und sie sich von der Couch erhob, sah sie mich an, lachte und sagte, sie sei so erleichtert, dass dieser schwere Schmerz, den sie während der Stunde gehabt habe, vorbei sei. Der sei schlagartig verschwunden, als ich sie darauf aufmerksam gemacht habe, dass sie jetzt ein Gefühl empfinde, das ins Damals gehörte.
Sie mögen meinen, was ich hier berichte, sei doch das normale Geschehen, wie es sich zwar nicht täglich in Psychotherapien und Analysen ereignet, wie es aber doch gerade das Wesen aller psychodynamischen Psychotherapie ist. Es gehe hier doch gerade darum, unbewusste Zusammenhänge aufzulösen und dem bewussten emotionalen Erleben zugänglich zu machen. Sobald es gelinge, einem Patienten dazu zu verhelfen, dass er sicher genug spüren könne, welche Gefühle im Hier und Jetzt begründet sind und welche ihren Ursprung in der Erfahrung des Dort und Damals haben, sei psychodynamische Psychotherapie genau so wirksam wie in diesem Beispiel beschrieben. Was hat das mit der Dynamik des Psychischen zu tun?
Der Einwand trifft zu. Aber er erfasst nicht das Wesen dieser Dynamik, insbesondere auch nicht deren Wirken, das sich im Zuge der Übertragungs-Gegenübertragungsbeziehung des therapeutischen bzw. analytischen Prozesses entfaltet. Es ist meine Absicht, mit diesem Buch für diese Zusammenhänge zu sensibilisieren und in die Mikroprozesse einzuführen, die zu verstehen hilfreich ist, am Beginn einer Behandlung ebenso wie – wie hier dargestellt – in deren Verlauf.
Lassen Sie uns gemeinsam einen Blick auf die geschilderte Episode aus der analytischen Behandlung von Frau L. werfen, um auf diese Weise besser erkennen zu können, welche Vorteile es hat, differenziert und aufmerksam psychodynamisch denken zu können.
Wenn Sie sich meine Schilderung der Begegnung mit Frau L. erneut ansehen, so werden Sie erkennen, dass ich vom ersten Moment an mit ihr verstrickt bin: Phantasien über sie füllen mich augenblicklich aus, sekundenhaft kurz und nur flüchtig, aber eben doch vorhanden. Und das Bild, das in mir von ihr entsteht, entspricht nicht der Realität, die sich gleichzeitig zu entfalten beginnt: Ich blicke in ein jugendlich entspanntes Gesicht, und sie entfaltet – szenisch und im Narrativ – eine schmerzlich-erschöpfende Thematik in einer Beziehung, wie sie sie am selben Tag erlebt hat. Hier zeigt sich die Gleichzeitigkeit einer negativen Übertragung (ich soll nicht wissen, wie sie sich wirklich fühlt, denn sie fürchtet sich vor meiner Reaktion) und der Entfaltung der positiven (libidinös besetzten) Arbeitsbeziehung (endlich kann sie sich hinschmeißen und zeigen, wie sie sich wirklich fühlt). In der negativen Übertragung gleite ich (projektiv identifiziert?) in den Zustand einer negativen Gegenübertragung, indem ich mich als von meiner Patientin gelangweilt und ihren Gefühlen gegenüber ignorant erlebe: Ich werde wie einst die Mutter ihr gegenüber. Das alles ist der Ausdruck des Wirkens einer Dynamik des Psychischen, die bis in das Behandlungszimmer hineinreicht.
Erst wenn es gelingt, diese Dimensionen der Psychodynamik im Hier und Jetzt der therapeutischen Beziehung zu entziffern, wird es möglich, kognitiv zu erfassen, wie sich das Dort und Damals unserer Patienten im Moment der Begegnung wieder entfaltet. Oder anders ausgedrückt: Psychodynamisch zu denken und zu verstehen bedeutet, das Wirksamwerden der unbewussten Beziehungserfahrung des Patienten aus der Vergangenheit mikroepisodisch in deren Wiederauftauchen in den aktuellen Beziehungen zu erkennen, denen im Alltag ebenso wie in der therapeutischen Beziehung. Hier, in der therapeutischen Beziehung, wird das Unbewusste des Patienten im psychischen Resonanzraum des Therapeuten wirksam und kann – sofern es gelingt – von ihm zum Verstehen seiner Verwicklung in ein gemeinsames, intersubjektives Unbewusstes genutzt werden. Damit dieser mentale Arbeitsprozess, den der Analytiker oder Psychotherapeut zu leisten hat, gelingt, benötigt er die zahlreichen Konzepte der Metapsychologie, welche in der Lage sind, subjektiv-individuelle psychische Prozesse auf die Ebene überindividueller Abstraktion zu heben. Übertragung, szenisches Verstehen und projektive Identifizierung sind einige Beispiele für solche metapsychologischen Konzepte.
Das Beispiel aus der analytischen Behandlung von Frau L soll illustrieren, wie der mentale Arbeitsprozess im Therapeuten abläuft, der ihn zu einem psychodynamischen Verstehen unbewusster Prozesse im Patienten führt. Und es soll verdeutlichen, dass und wie psychodynamisches Verstehen in jeder einzelnen Behandlungsstunde dabei behilflich – wenn nicht unverzichtbar – ist, den Patienten in seinen unbewussten inneren Abläufen erfassen zu können.
Um einem Missverständnis vorzubeugen, sei betont, dass psychodynamisches Denken und Verstehen nicht etwa eine Alternative zum psychoanalytischen oder tiefenpsychologischen Arbeiten darstellt. Vielmehr stellt es, metaphorisch gesprochen, das mentale Werkzeug zur Verfügung, mit dem analytisch, tiefenpsychologisch, eben psychodynamisch an unbewussten Themen gearbeitet wird.
Mit dem vorliegenden Buch verfolge ich das Ziel, Psychotherapeuten und Psychoanalytikern ein mentales Werkzeug an die Hand zu geben, das...