Vorwort
Diese Geschichte beginnt nicht mit Müttern, auch nicht mit Kindern. Sie beginnt mit einer persönlichen Ernüchterung. Ich lebe in einer Großstadt, begreife mich als emanzipiert und gebildet, bin 31 Jahre alt, gesund und damit: eine junge Frau im besten gebärfähigen Alter. Lange Zeit machte diese Tatsache mir nicht zu schaffen; ich lebe schließlich in einer Gesellschaft, die mir die Freiheit lässt, selbst zu entscheiden, ob ich Kinder gebären möchte oder nicht.
Dachte ich.
Erst später sollte ich verstehen. Nämlich ab dem Punkt, an dem ich offen den Gedanken äußerte, vielleicht für immer kinderlos zu bleiben. Freiwillig.
Egal mit wem ich über mein Empfinden sprach, nie durfte der Satz: »Ich möchte vielleicht keine Kinder« einfach so stehen bleiben. Die gemäßigte aller Reaktionen war ein stummer, aber verwunderter Blick, der kein Verständnis spiegelte. Er kam von einem befreundeten Kollegen, der während eines gemeinsamen Mittagessens kurz sein Kauen unterbrach, als ich meine Unschlüssigkeit äußerte. Der Kollege sah mich wortlos an, murmelte etwas Unverständliches in seinen Teller und bearbeitete weiter seine Nudeln.
Die moderatere Antwort erhielt ich von einer guten Freundin, Mitte 30, Mutter zweier Töchter: »Ach, da wächst du schon noch rein!«, sagte sie, machte eine abwinkende Handbewegung und lächelte generös das Lächeln der Erfahrenen – als ob mein bis dato schwankender Kinderwunsch eine zwangsläufig nach oben verlaufende Linie wäre, die mit dem Alter auf der Skala der Sehnsüchte kontinuierlich ansteigt, und meine Zweifel lediglich eine überflüssige Laune, die sich einfach so wegwischen ließe.
Die heftigste Reaktion jedoch äußerte eine andere Freundin, genau wie ich 31 Jahre alt. Wir kennen uns seit zehn Jahren, sie ist selbstbewusst, emanzipiert und ungebunden. Meine Freundin lässt sich von niemandem diktieren, was sie zu tun oder zu lassen hat – und dann sagte sie zu mir: »Jede Frau hat die gesellschaftliche Pflicht, ein Kind zu gebären.«
Dieser Satz änderte etwas. Und meine anfängliche Ernüchterung steigerte sich in Empörung. Plötzlich verstand ich, dass ich als junge Frau so frei, wie ich zu sein glaubte, gar nicht bin. Da ist dieser Druck, als Frau einem Bild entsprechen zu müssen, das in unserer Gesellschaft noch immer eng mit dem Muttersein verknüpft ist. Frauen sollen Kinder gebären. Nach wie vor stellt diese Forderung das Leitbild dar.
Und es dämmerte mir: Wenn schon ich als kinderlose Frau einen gesellschaftlichen Erwartungsdruck verspüre, wie müssen sich dann erst Mütter fühlen? Von denen gefordert wird, dass sie ihre Kinder wenn schon nicht abgöttisch, dann zumindest bedingungslos lieben, dass sie stets glücklich sind, dass sie ihre Entscheidung, Nachwuchs bekommen zu haben, niemals hinterfragen, geschweige denn bereuen dürfen?
Denn Muttersein ist wunderschön, das größte Glück auf Erden. Zumindest laut der gängigen Norm. »Vermehret euch und zweifelt nicht!« So lautet der allgegenwärtige Imperativ an Frauen. Deutschland hat eine kinderlose Kanzlerin, die oft die mächtigste Frau der Welt genannt wird. Die Geburtenrate in Deutschland pendelt auf einem konstant niedrigen Level, sogar auf dem niedrigsten weltweit.[1] Und doch: Kinderwunsch und Mutterglück sind noch immer das Maß, mit dem sich Frauen hierzulande vermessen lassen müssen und meist auch selbst vermessen.
Ich fragte mich also: Sollten wir im Jahr 2016 nicht viel weiter sein? Sind wir wirklich so emanzipiert, wie wir glauben?
Der bestehenden Norm zufolge ist jede Frau eine Mutter. Und die ist angeblich niemals zweifelnd, sondern immer zufrieden. Dass diese Norm jedoch mit der Realität kollidiert und Mütter auch anders empfinden können, trug ich als stumme Ahnung lange mit mir herum. Ab und zu versuchte ich, mit befreundeten Müttern über meine Gedanken zu sprechen. Sicher, manchmal waren die Kinder anstrengend, oft fehlte der Schlaf, sagten sie. Aber die Conclusio blieb immer dieselbe: Natürlich war Frau überglücklich mit der Mutterrolle. Damit war das Gespräch in der Regel beendet.
Über die negativen Seiten dieser Rolle zu sprechen hatten meine Freundinnen nicht gelernt. Zu schwer wog der Druck von außen, zu sehr beäugten sie sich gegenseitig. Denn in der Wertung der öffentlichen Meinung ist die Frau, die Ambivalenz gegenüber ihren Kindern fühlt oder die es gar wagt, ihre eigene Entscheidung kritisch zu hinterfragen, unweiblich, egoistisch, fehlerhaft, unreif, karrieregeil, zu verkopft oder zu verwöhnt. Und wenn all das noch immer nicht reicht, haut man ihr eben den Stempel »gestört« auf den nachdenkenden Kopf.
Und doch gibt es die negativen Seiten des Mutterseins: den Druck der Verantwortung, den Verlust von Selbstbestimmung und Freiheit, die Überforderung, die fehlende Zeit für sich selbst, die Neuordnung mit dem Partner, die teils irreversible Veränderung des eigenen Körpers, ein chronisches Schlafdefizit, die Wut über eine vielleicht mangelnde Unterstützung, die ständige Sorge um das eigene Kind, die Unsicherheit und die Zweifel, eine gute Mutter zu sein, die große Anstrengung, Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren, der ständige Stress, die Trauer darüber, das alte Leben aufgegeben zu haben für ein neues, das vielleicht hinter den Erwartungen vor der Geburt zurückbleibt.
Ich fühlte mit meinen Freundinnen. Und so hielt meine Skepsis an.
Dann stieß ich auf eine wissenschaftliche Studie aus Israel. Die Soziologin Orna Donath erforscht darin eine Beobachtung, die sie mit den Worten »regretting motherhood« betitelt, was übersetzt so viel bedeutet wie »die Mutterschaft bereuen«: Sie befragte 23 israelische Mütter im Alter von Mitte 20 bis Mitte 70 in intensiven Interviews zu ihren Gefühlen gegenüber der eigenen Mutterrolle. Allen Frauen stellte Donath die Frage: »Wenn Sie die Zeit zurückdrehen könnten, würden Sie dann noch einmal Mutter werden, mit dem Wissen, das Sie heute haben?« Alle Mütter, sosehr sie sich auch in ihren persönlichen Koordinaten unterschieden, antworteten auf dieselbe Weise: »Nein.«
Ich las die Studie einmal, zweimal, ich hatte noch nie vorher von Müttern gehört, die ihre Mutterrolle bereuten. Doch je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr gärte in mir die Frage: Jede Entscheidung im Leben ist der Gefahr von möglicher Reue ausgesetzt – wieso also sollte ausgerecht eine der existentiellsten Entscheidungen im Leben einer Frau, nämlich ein Kind zu bekommen, von Reue ausgenommen sein?
Ich las die Studie ein drittes und viertes Mal, weil ich verstehen wollte, was das Phänomen ausmacht und wie das Tabu mit unserer Zeit verknüpft ist. Auch, wie es mich selbst als kinderlose Frau betrifft. In meine persönliche Empörung mischten sich Fragen nach der gängigen Norm, nach dem gültigen Frauen- und Mutterbild. Ich beschloss, einen Artikel zu der Thematik zu schreiben. Der Text erschien in der Oster-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung – und sorgte für Aufregung: Innerhalb weniger Tage erreichte der Artikel online mehrere Hunderttausend Klicks, auf Facebook wurde der Text über das Profil der Süddeutschen Zeitung so oft kommentiert, dass ich irgendwann vor der schieren Anzahl der Kommentare kapitulierte. Das ZDF-heute-journal griff das Thema in der ersten Woche nach Ostern in seiner Sendung auf, Moderator Claus Kleber sagte: »Ich bin sicher, das ist nicht der letzte Beitrag zu diesem Thema.«
Er sollte recht behalten: Die klassischen Printmedien zogen nach, die Mütterblogs im deutschsprachigen Raum diskutierten zu diesem Zeitpunkt längst; unter dem Hashtag #regrettingmotherhood fand sich das Thema bald auch bei Twitter. Das Phänomen der bereuenden Mütter erhitzte die Gemüter. Eine Debatte war losgetreten. Nicht nur online, nicht nur in den Medien. Auch unter Müttern und jungen Frauen im realen Leben.
Seitdem weiß ich: Es gibt Redebedarf. Bei allen Müttern, die nicht der gängigen Norm nach empfinden, sich aber scheuen, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Dieses Buch will sich jedoch nicht nur an jene Mütter wenden, die den Extremfall ihres Unglücks fühlen, die Reue. Sondern auch an solche, die ihre persönliche Erfüllung nicht automatisch in stundenlangen Still- oder Spielplatzsitzungen finden, obwohl sie ihr Kind lieben. Und die manchmal Verzweiflung und Wut darüber spüren, dass sie nicht nur durch ihr Kind fremdbestimmt werden, sondern vor allem durch ein Rollenbild, das ihnen vorschreibt, wie sie sich zu fühlen haben.
Menschen unterscheiden Erlebnisse und Geschehenes seit jeher in schwarz und weiß, gut und böse, normal und anormal, richtig und falsch. Weil diese Kategorisierungen eine vermeintliche Sicherheit versprechen in einer Welt, die nie einfach nur schwarz oder weiß, gut oder böse, normal oder anormal und richtig oder falsch ist. Trotzdem schaffen wir solche Kategorien. Weil wir sonst in dieser schwierigen Welt nicht bestehen könnten. Wir wünschen uns einfache und eindeutige Antworten, vor allem bei komplexen Fragestellungen. Doch wenn die Recherche an diesem Buch eines deutlich macht, dann die Erkenntnis: Mutterschaft und damit verbundene normative Gefühle wie Mutterliebe und Reue sind ein extrem vielschichtiges Thema, bei dem es keine einfachen Antworten gibt.
Deswegen verfolgt dieses Buch keinen universal gültigen Wahrheitsanspruch, einem naturwissenschaftlichen Beweis gleich. Es verweigert sich einfachen Kategorisierungen; wer nach den Ursachen für das Phänomen regretting motherhood sucht, wird die eine Erklärung nicht finden....