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E-Book

Die gerechte Gesellschaft

Eine philosophische Orientierung

AutorWilfried Hinsch
VerlagReclam Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl164 Seiten
ISBN9783159609911
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Wer kann eigentlich soziale Gerechtigkeit in einer Gesellschaft fordern? Und aus welchen Gründen? Und wie hat sich unser Gerechtigkeitsverständnis entwickelt? Für die einen ist die Idee der sozialen Gerechtigkeit zu einem Rechtfertigungsgrund für Forderungen ökonomischer und sozialer Gleichheit geworden. Für die anderen zu einem ideologischen Trugbild und einer Gefahr für Freiheit und Marktwirtschaft. In der Philosophie legte Aristoteles die Grundlagen. Weiterentwickelt von Thomas von Aquin entstand daraus im 19. Jahrhundert die katholische Soziallehre. Ebenso wichtig wurde der Utilitarismus mit seiner Vorstellung vom größten Glück der größten Zahl sowie Karl Marx' Kapitalismuskritik. John Rawls schließlich entwickelte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts seine Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness: Diese erklärt nicht nur, warum soziale Gerechtigkeit eine wohlbegründete moralische Forderung ist. Sie zeigt auch, wie sie in einer freiheitlich demokratischen Gesellschaft verwirklicht werden kann. Wer hat Recht?

Wilfried Hinsch, geb. 1956, ist Professor für Philosophie an der Universität Köln; seine Arbeitsschwerpunkte sind Politische Philosophie, Sozialphilosophie und Ethik.

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Leseprobe

Das aristotelische Paradigma


Es ist bemerkenswert, dass Gerechtigkeitsvorstellungen aus dem 4. vorchristlichen Jahrhundert, wie Aristoteles sie in der Nikomachischen Ethik entwickelt, noch heute für unser Verständnis der Gerechtigkeit von Bedeutung sind. Wir können ohne Übertreibung von einem nach wie vor relevanten Paradigma in der Gerechtigkeitstheorie sprechen. Historisch ist zu beachten, dass das aristotelische Paradigma seine bis in die Gegenwart hineinreichende philosophische und politische Bedeutung nicht zuletzt der Kommentierung der Nikomachischen Ethik durch Thomas von Aquin (1225–1274) verdankt. Die aristotelische Ethik wurde durch Thomas zu einem wirkmächtigen Teil der christlichen Ethik und das aristotelische Gerechtigkeitsverständnis zur Grundlage der katholischen Soziallehre, die wiederum das moderne Gerechtigkeitsverständnis seit dem 19. Jahrhundert wesentlich mitbestimmt. Insofern lässt sich auch von einem aristotelisch-thomistischen Paradigma in der Gerechtigkeitstheorie sprechen, denn Thomas war selbst ein bedeutender Philosoph, der die Ethik des Aristoteles bei aller Bewunderung eben nicht nur aufnahm und kommentierte, sondern sie auch weiterentwickelte und veränderte. Die wesentlichen Elemente der thomistischen Gerechtigkeitsauffassung lassen sich jedoch schon in der Nikomachischen Ethik finden: die Subjektivität der Gerechtigkeit als eine persönliche Tugend, ihre Interpersonalität im Sinne des für gerechtes Handeln wesentlichen Bezugs auf andere, (mit einem gewissen Zögern) die Legalität oder Rechtsförmigkeit von Gerechtigkeitsforderungen, die aristotelische Klassifikation der Formen der Gerechtigkeit und schließlich die Gleichheit oder Egalität.

Subjektivität

Für Aristoteles ist Gerechtigkeit nicht in erster Linie eine Eigenschaft von Handlungen, Gesetzen oder Güterverteilungen. Er betrachtet sie primär als eine persönliche Qualität, als eine Tugend, die Menschen, welche sie besitzen, insoweit zu guten Menschen macht. Unter einer »Tugend« versteht Aristoteles eine Disposition von Menschen, in einer bestimmten und situationsangemessenen Weise zu urteilen, zu empfinden, zu wollen und zu handeln. Die Tugend der Gerechtigkeit ist dann die Disposition, gerecht zu urteilen, zu fühlen, zu wollen und zu handeln. Im Mittelpunkt stehen der gerecht (oder ungerecht) Handelnde, seine Einstellungen, Motive und Intentionen – und nicht die gerechte oder ungerechte Handlung und deren Folgen. Erst wenn wir wissen, was es heißt, dass jemand als Person gerecht ist, können wir Aristoteles zufolge angeben, worin die Gerechtigkeit seines Handelns besteht.

Es ließe sich einwenden, dass wir die Gerechten an ihren gerechten Handlungen erkennen. Solange wir nicht wissen, wodurch sich gerechtes Handeln auszeichnet, können wir auch nicht sagen, wer als Person gerecht ist und wer nicht. Muss die philosophische Untersuchung dann aber nicht mit den Grundsätzen für gerechte Handlungen beginnen? Dem müsste Aristoteles nicht widersprechen. Auch er betrachtet eben diejenigen als gerecht, deren Handlungen bestimmten Anforderungen der Gesetzlichkeit und Gleichheit genügen. Gleichwohl handeln wir dem aristotelischen Verständnis zufolge nicht dann schon gerecht – im Sinne eines ethisch wertvollen (tugendhaften) Handelns –, wenn unser Tun äußerlich bestimmten Gerechtigkeitsnormen genügt. Auch wenn die Gerechten für Aristoteles typischerweise also diejenigen sind, deren Verhalten bestimmten Normen entspricht, genügt bloße Normkonformität nicht. Gerechtes Handeln muss darüber hinaus auf einer tugendhaften Disposition des Handelnden beruhen, und nicht auf der Erwartung persönlicher Vorteile oder auf der Furcht vor Bestrafung. Der gerecht Handelnde tut nicht lediglich, was die Gerechtigkeit fordert, sondern handelt mit der Intention und dem gefestigten Vorsatz, das Gerechte zu tun, weil es an sich richtig und wertvoll ist.1 Wie alle Tugenden umfasst die Gerechtigkeit kognitive, konative und emotive subjektive Elemente als Voraussetzungen eines ethisch wertvollen Handelns. Wir müssen das Gerechte erkennen, es handelnd verwirklichen wollen, eben weil wir es als gerecht erkannt haben, und wir müssen uns passend zu unseren Gerechtigkeitsurteilen fühlen, es zum Beispiel bereuen, wenn wir ungerecht gehandelt haben, oder uns über die Ungerechtigkeit anderer empören. Normkonformität ist für Aristoteles demgegenüber nicht einmal notwendige Bedingung für Gerechtigkeit. Dies zeigt seine Erörterung der Angemessenheit oder Billigkeit im fünften Buch der Nikomachischen Ethik.2 In manchen Situationen ist die Erfüllung einer im Allgemeinen gültigen Gerechtigkeitsforderung falsch. Die persönliche Tugend und die Gerechtigkeit des Handelnden zeigen sich dann gerade darin, von einer vorgegebenen Regel gerechten Handelns abzuweichen. Das Billige, sagt Aristoteles, sei ein Gerechtes, »aber nicht das Gerechte nach dem Gesetz, sondern als Berichtigung des gesetzlich Gerechten«, und zwar als Berichtigung, die nötig ist, weil die Regel des Gesetzes nur für die Mehrzahl der Fälle, auf die sie Anwendung findet, richtig ist, aber nicht für alle.3

Interpersonalität

Nach Aristoteles zeichnet sich die Gerechtigkeit vor allen anderen Tugenden durch die besondere Weise ihres Bezuges auf andere aus. Wer gerecht handelt, indem er zum Beispiel seine Mitmenschen nicht übervorteilt, tut offenbar etwas, was anderen zugutekommt. Die Gerechtigkeit ist insofern »ein Gut für einen anderen«. Hinzu kommt, dass der gerecht Handelnde nicht durch ein Streben nach persönlichen Vorteilen motiviert ist, sondern durch den beständigen Wunsch, andere gerecht zu behandeln. In ihrem so charakterisierten Bezug auf andere besteht die Interpersonalität der Gerechtigkeit.4

Nun ist die aristotelische Tugend der Freigebigkeit ganz ähnlich auf andere, die von ihr profitieren, bezogen wie die Gerechtigkeit; auch sie könnte deshalb mit Recht als »ein Gut für einen anderen« beschrieben werden. Solche Alterität wäre dann, anders als Aristoteles behauptet, kein ausschließliches Merkmal der Gerechtigkeit.5 Obwohl die Freigebigkeit der Gerechtigkeit darin ähnelt, dass ihre Ausübung anderen zugutekommt, unterscheidet sie sich von dieser durch die besondere Art ihres Bezugs auf andere. Wie alle ethischen Tugenden ist die Freigebigkeit mit Vorstellungen darüber verbunden, was es heißt, in ihrem Sinne situationsgemäß und angemessen zu handeln. Freigebigkeit schließt nicht anders als Gerechtigkeit individuelle Willkür im Handeln aus.6 Dennoch lässt die Freigebigkeit einen individuellen Spielraum, bei welcher Gelegenheit und wem gegenüber sie ausgeübt wird, den es bei der Gerechtigkeit nicht gibt. Niemand muss alle sich bietenden Gelegenheiten nutzen, um freigebig zu sein. Der Freigebige kann wählen, wem oder welcher Sache gegenüber er sich freigebig zeigt, vorausgesetzt nur, dass jeder einzelne Akt der Freigebigkeit situationsgemäß ist und alle zusammengenommen im rechten Verhältnis zu den verfügbaren Ressourcen stehen, denn der Freigebige ist weder verschwenderisch noch geizig.

Die Tugend der Gerechtigkeit fordert demgegenüber, sich in jeder Situation, in der wir gerecht oder ungerecht handeln können, für die Gerechtigkeit zu entscheiden. Wir können uns nicht aussuchen, welche Gelegenheiten zum gerechten Handeln wir wahrnehmen und welche nicht, solange wir nur hinreichend oft gerecht handeln. Dem entspricht, dass es im Fall ungerechten Handelns anders als im Fall einer nicht erwiesenen Freigebigkeit stets jemanden gibt, dem etwas vorenthalten wurde, das er richtigerweise hätte erhalten sollen, und der sich deswegen beklagen kann. Hierin deutet sich ein weiteres, mit der Interpersonalität verbundenes Merkmal der Gerechtigkeit an, das in der nacharistotelischen Entwicklung der Gerechtigkeitsidee große Bedeutung erlangt: die Legalität.

Legalität

Unter dem Gesichtspunkt der Legalität ist Gerechtigkeit nicht lediglich »ein Gut für einen anderen«: Gerechtigkeit bedeutet die Erfüllung berechtigter Ansprüche, genauer: die Erfüllung von Ansprüchen, über deren Nichterfüllung sich andere beklagen und deren Erfüllung sie mit Recht einfordern können. Insofern handelt es sich um rechtsförmige Ansprüche, denen entsprechende Schuldigkeiten auf der Gegenseite korrespondieren.

Die Rede von rechtsförmigen Ansprüchen ist mit Blick auf Aristoteles nicht unproblematisch. Man mag einwenden, die Vorstellung, jemand könne einen Anspruch oder ein Recht auf die tugendhaften Handlungen anderer haben, sei ein dem aristotelischen Denken fremder Anachronismus. Projizieren wir womöglich unsere Vorstellungen von Ansprüchen, Rechten und Schuldigkeiten, die wesentlich durch das nacharistotelische römische Rechtsdenken geprägt sind, auf die aristotelische Gerechtigkeitskonzeption, in die sie gar nicht passen? Die aristotelische Ethik ist, auch da, wo sie sich mit sozialen Normen und politischen Institutionen befasst, eine Glücks- und Tugendethik, das ist unbestritten. Ihr Gegenstand ist der Wert ethischer Tugenden und tugendhaften Handelns für den Handelnden selbst und für andere: Die Entwicklung und Ausübung der Tugenden ist selbst Teil des individuellen Glücks (eudaimonia), und von der Gerechtigkeit wird darüber hinaus gesagt, sie...

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