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Philosophie des Geistes

Grundwissen Philosophie

AutorDieter Sturma
VerlagReclam Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl139 Seiten
ISBN9783159601137
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Was ist Bewusstsein? Im Zeitalter der Hirnforschung und Künstlichen Intelligenz entwickelt die Philosophie des Geistes neue Antworten auf die alte Frage nach dem Verhältnis von Bewusstsein und Körper. Klar und prägnant erläutert Dieter Sturma ihre Ansätze.

Dieter Sturma ist Professor für Philosophie an der Universität Bonn. Zahlreiche Bücher und Aufsätze zur philosophischen Anthropologie, Philosophie des Geistes und Ethik.

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Leseprobe

[14] Die Außenperspektive: Das psychophysische Problem


Erlebnisse und Ereignisse


Im systematischen Zentrum der Philosophie des Geistes steht das psychophysische Problem. Es äußert sich in der Schwierigkeit, das konkrete Verhältnis zwischen psychischen und physischen Zuständen auf theoretisch befriedigende Weise zu erfassen. Das psychophysische Problem hat im Laufe der Philosophiegeschichte unterschiedliche Ausprägungen erfahren, die sich im spannungsreichen Verhältnis zwischen Begriffen wie »Leib« und »Seele«, »Körper« und »Bewusstsein«, »physische Zustände« und »psychische Zustände« oder »Ereignis« und »Erlebnis« zeigen. Dabei ist der jeweilige semantische Zugriff für die spezifische Ausgestaltung des psychophysischen Problems von entscheidender Bedeutung. Die Begriffswahl präformiert den Gegenstandsbereich, indem sie andere semantische Optionen ausblendet und das thematische Spektrum verengt. Diese Einschränkungen können methodisch sinnvoll sein und müssen nicht von vornherein auf Eliminationen oder konstruktive Verstellungen des Phänomens menschlichen Bewusstseins hinauslaufen.

In der Geschichte der Philosophie des Geistes hat es immer wieder Grundbegriffe gegeben, die ihren Sinn und ihre Bedeutung verändert haben. Das gilt insbesondere für die Begriffe »Seele« und »Ich«, die in der Perspektive moderner Methoden der Philosophie des Geistes nur noch in metaphorischer Hinsicht anwendbar sind. Der Nachweis, dass Grundbegriffe aus semantischen und methodischen Gründen nicht länger haltbar sind, löst nicht das psychophysische Problem als solches. Wer den Begriff der Seele nicht für theoriefähig hält, hat sich nicht mehr mit einem Leib-Seele-Problem zu [15] befassen, wohl aber noch das Verhältnis von Ereignissen und Erlebnissen zu klären. Ähnliches gilt für diejenigen, die eine klare Körper-Bewusstsein-Trennung nicht mehr akzeptieren wollen. Sie müssen zwar kein Körper-Bewusstsein-Problem mehr lösen, haben aber immer noch zu zeigen, wie Erlebnisse mit Ereignissen zusammenhängen. Schließlich müssen diejenigen, die glauben, es gebe gar kein psychophysisches Problem, erklären, wie es überhaupt möglich ist, dass einige materielle Entitäten sich bewusst auf andere materielle Entitäten beziehungsweise auf eine Gesamtheit von materiellen Entitäten beziehen. Selbst die Leugnung, dass es überhaupt psychische Phänomene gebe, die nicht ausschließlich physische Ereignisse seien, kann sich nur als psychischer Zustand vollziehen.

Einen frühen Ausdruck findet das psychophysische Problem im Leib-Seele-Problem der antiken und mittelalterlichen Philosophie. Die Frage nach dem Verhältnis von Leib und Seele berührt Sachverhalte, die auch noch in der neueren Philosophie des Geistes präsent sind. Das gilt vor allem für den Umgang mit den Unterschieden zwischen psychischen und physischen Zuständen.

Die antike Philosophie bietet unterschiedlichste Ansätze auf, um das Verhältnis von Seele und Leib philosophisch zu deuten. Während Platon (428/27–348/47 v. u. Z.) eine grundsätzliche Unabhängigkeit von Leib und Seele unterstellt, ist Aristoteles (384–322 v. u. Z.) darum bemüht, zwischen beiden Bestimmungen eine Beziehung herzustellen. Ihm gilt die Seele als Prinzip der Entfaltung eines lebendigen Körpers, die aufgrund ihrer Funktion an dessen Existenz gebunden bleibt. In dieser grundlegenden Bedeutung ist die Seele noch nicht Bewusstsein. Der aristotelische Ansatz hat zwar eine lange Wirkungsgeschichte, er hat sich jedoch nicht bis in die Hauptströmungen der gegenwärtigen Philosophie des Geistes durchgehalten.

Platon und Aristoteles werden gemeinhin als Vorläufer dualistischer und naturalistischer Theorien des Geistes [16] angesehen. Daneben finden sich in der Antike atomistische oder holistische Ausprägungen des Naturalismus. Leukipp (geboren ca. 480/70 v. u. Z.), Demokrit (ca. 460–370 v. u. Z.) und Epikur (341–271 v. u. Z.) gehen davon aus, dass sich die Welt in kleinste Bestandteile mit eigenen Impulsen zerlegen lasse. Die durch Zenon von Kition (ca. 333–262 v. u. Z.) begründete Stoa orientiert sich zunächst an der Auffassung von Aristoteles, um dann eine umfassende Theorie zu entwerfen, der zufolge in Kosmos und Seele dieselben Gesetzmäßigkeiten wirksam sind.

Der Umgang mit den Unterschieden zwischen mentalen Zuständen und körperlichen Ereignissen ändert sich in der neuzeitlichen Philosophie grundlegend. Der neue Ansatz hängt mit der Herausbildung der modernen Erkenntnistheorie im 17. Jahrhundert zusammen, die bei der Untersuchung der Bedingungen menschlichen Erkennens die Bestimmungen des Subjekts und des Bewusstseins in das systematische Zentrum rückt. René Descartes (1596–1650) fasst diese erkenntnistheoretische Neuorientierung in der grundsätzlichen These zusammen, dass das Bewusstsein beziehungsweise der Geist leichter als der Körper zu erkennen sei.1 Er formuliert damit auf einflussreiche Weise das Körper-Bewusstsein-Problem aus der Perspektive des Bewusstseins. Im Gegensatz zu diesem Ansatz konzentrieren sich empiristische und materialistische Positionen beim Körper-Bewusstsein-Problem vorrangig auf körperliche Phänomene. Dabei spielen Vorgaben aus der zeitgenössischen Naturwissenschaft eine bedeutsame Rolle. Das gilt vor allem für die Annahme der kausalen Geschlossenheit des Raums körperlicher Wirkungen und Wechselwirkungen.

Die Zielsetzung der neuzeitlichen Erkenntnistheorie, methodisch den Anschluss an die naturwissenschaftlichen Innovationen des 17. Jahrhunderts zu suchen, wirkt sich auch auf den philosophischen Umgang mit dem menschlichen Bewusstsein aus. Traditionelle Zugangsweisen werden nur insoweit übernommen, wie sie den methodischen Standards der [17] so genannten exakten Wissenschaften nicht entgegenstehen. Damit wird eine Entwicklung wechselseitiger Beeinflussungen von Philosophie des Geistes und Naturwissenschaften eingeleitet, die sich mit einigen Unterbrechungen und methodischen Veränderungen bis heute durchhält.

Die Anfänge der neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie sind trotz ihrer Nähe zu naturwissenschaftlichen Problemstellungen zunächst nicht eliminativ ausgerichtet. Es wird nicht der Versuch unternommen, menschliches Bewusstsein ausschließlich dem Gegenstandsbereich zuzuordnen, den die Physik erfolgreich untersucht. Descartes nimmt in diesem Zusammenhang eine folgenreiche Unterscheidung vor: Er differenziert zwischen körperlichen und psychischen Zuständen und betrachtet sie zumindest in erkenntnistheoretischer Hinsicht als voneinander unabhängig. Während der Bereich der res extensa, der ausgedehnten Gegenstände beziehungsweise der Körper, vollständig in der Sprache der Physik identifiziert werden könne, verfüge der Bereich psychischer Phänomene über eine eigene Ausdrucksform.

Descartes’ bewusstseinsphilosophische Entdeckung besteht darin, dass Selbstreferenz in Erfahrungs- und Erkenntnisprozessen eine besondere Rolle spielt. Einem Satz wie Auf der Anhöhe steht ein Einhorn wird im Normalfall mit guten Gründen die Geltung abgesprochen. Dagegen ist der modifizierte Satz Ich glaube, dass auf der Anhöhe ein Einhorn steht – wenn er denn authentisch formuliert worden ist – richtig und kann in dieser Form von einem äußeren Beobachter nicht korrigiert werden. Ihm steht lediglich offen, den Sachverhalt zu klären, ob sich auf der Anhöhe tatsächlich ein Einhorn befindet. Der Umstand, dass jemand glaubt, auf der Anhöhe stünde ein Einhorn, bleibt von der Klärung zunächst unberührt. Die selbstreferenzielle Einstellung ist immun gegenüber Irrtümern und von einem externen Standpunkt nicht unmittelbar korrigierbar. Es besteht nur die Möglichkeit, eine Person nachträglich davon zu überzeugen, dass auf der Anhöhe kein Einhorn gestanden haben kann.

[18] Die besonderen Eigenschaften solcher Sätze über eigene psychische Einstellungen – formuliert in der ersten Person, Singular, Präsens, Indikativ, Aktiv – haben Descartes dazu bewogen, von der sachlichen und semantischen Unabhängigkeit der Begriffe »Bewusstsein« und »Körper« auszugehen. In dieser Unterscheidung findet das Körper-Bewusstsein-Problem seine Grundlegung, denn unter der Voraussetzung einer Differenz von mentalen und physischen Eigenschaften drängt sich die Frage auf, wie von der kausalen Geschlossenheit des Raums körperlicher Ereignisse ausgegangen werden kann, wenn doch andererseits Bewusstsein und Körper verschieden sein sollen.

Das Körper-Bewusstsein-Problem resultiert aus der Gegenläufigkeit einer Differenzthese, nach der Körper und Bewusstsein grundsätzlich verschieden sind, und einer Geschlossenheitsthese, der zufolge körperliche Veränderungen nach ausnahmslos naturwissenschaftlich...

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