1. Sanktionen statt Unterstützung?
Als ich im September 2006 beim Jobcenter zunächst in Hamburg-Hamm meine Stelle antrat, war ich voller Tatendrang. Ich freute mich auf die Herausforderung, Menschen, die seit mehr als einem Jahr ohne Arbeit waren, zu helfen, wieder eine Beschäftigung zu finden. Für diese Tätigkeit war ich außerdem bestens qualifiziert: Ich hatte zuvor in Süddeutschland nicht nur als Dozentin in der Weiterbildung von Erwachsenen gearbeitet, sondern auch als Integrationsberaterin und Fallmanagerin in den neu entstandenen Jobcentern für Erwerbslose nach dem Sozialgesetzbuch II. Ich kannte also die Thematik und brachte eine Menge Erfahrung mit, und die wollte ich nun einsetzen.
Die Jobcenter sind bekanntlich für jene Erwerbslosen zuständig, die länger als ein Jahr ohne Beschäftigung sind und Arbeitslosengeld II beziehen, auch «Hartz IV» genannt. Aufgrund meiner Vorerfahrungen wurde ich später für junge Erwachsene unter 25 Jahren eingeteilt, die im Jobcenter-Jargon «U25» genannt werden. In der ersten Teamsitzung erklärte ich meinen Kollegen, dass es mir nichts ausmachte, auch schwierige Fälle zu übernehmen, und so übertrugen sie mir bald jene «Kunden», die laut ihren Akten erhöhte «Vermittlungshindernisse» aufwiesen – mit anderen Worten: die richtig harten Brocken.
Ja, tatsächlich werden in der allgemeinen Sprachregelung der Bundesagentur für Arbeit Arbeitssuchende «Kunden» genannt. Ich nehme an, das ist höflich gemeint, und doch mutet mich bis heute diese Bezeichnung seltsam an. Vor allem, weil ich rasch bemerkte, dass in vielen Fällen unsere Kunden gar nicht als solche behandelt werden. «Der Kunde ist König», sagt der Volksmund, doch der Kunde im Jobcenter ist, wenn wir beim Bild des Märchens bleiben wollen, doch eher ein Bettler, ein Bittsteller. Das wurde mir allerdings erst nach und nach so richtig klar.
Als meine ersten «Kunden» zu den Gesprächsterminen erschienen, fiel mir auf, wie angespannt sie waren. Niedergeschlagen oder trotzig, aggressiv oder ängstlich – all die jungen Menschen, die auf der anderen Seite meines Schreibtischs Platz nahmen, schienen das Schlimmste von mir zu erwarten. Und spätestens nach Durchsicht ihrer Akten und den ersten Gesprächen wurde mir klar: Allesamt schleppten sie ein ganzes Bündel an Problemen mit sich herum.
Ich habe sehr gern mit Menschen zu tun; sie interessieren mich einfach. Die Geschichte, die jeder Einzelne mitbringt, und die ganz persönliche Art eines jeden, sich im Leben seinen Platz zu suchen – das alles finde ich unerhört spannend. Ich verschanze mich nicht im Büro hinter Schreibtisch und Büchern. Trotzdem liebe ich den Umgang mit Zahlen und Statistiken und kann mich stundenlang mit ihnen beschäftigen, denn für mich sind sie Abbilder einer Wirklichkeit. Ich habe über die Jahre gelernt, aus ihnen alles Mögliche herauszulesen, zu erkennen, was diese scheinbar trockenen Zahlen für das wirkliche Leben bedeuten. Doch im Mittelpunkt all meiner Interessen stand schon immer der Mensch.
Und hier saßen sie also vor mir. An den Mienen konnte ich ablesen, was sich in ihren Köpfen wohl abspielte. Ich konnte fühlen, wie stark die beiden Schreibtischseiten polarisierten: Auf meiner Seite lag ganz viel Macht – und auf der anderen entsprechend das Gefühl von Ohnmacht. Schließlich konnte ich Entscheidungen treffen, die mein Gegenüber ins Mark treffen würden. Doch das kam mir überhaupt nicht in den Sinn. Diese Sache mit dem Obrigkeitsgefühl – das kenne ich persönlich gar nicht. Ich sage immer: Unter der Dusche sehen wir alle gleich aus.
«Hallo», sagte ich also freundlich, «wie geht’s denn so?»
Der junge Mann mir gegenüber, der bislang auf seine Hände gestarrt hatte, als seien sie das Interessanteste auf der Welt, blickte auf und sah mir misstrauisch in die Augen. Aus der Akte wusste ich: Er hieß André W., war 19 Jahre alt. Er hatte weder einen Schulabschluss noch eine Ausbildung, dafür 18000 Euro Schulden. Damit war er kein Einzelfall. Die Überfülle an Kaufangeboten auf Pump zu niedrigsten Zinsen und der permanente Beschuss von Seiten der Werbung sorgen dafür, dass gerade Menschen, die es sich am wenigsten leisten können, als Ausgleich zu einem Leben voller Probleme über ihre Verhältnisse leben – im wahrsten Sinn des Wortes.
«Wie soll es denn weitergehen?», fragte ich André. «Was kann ich für Sie tun?»
Er zuckte mit den Schultern und verschränkte die Arme. Aus der Akte wusste ich, dass seine Bemühungen um Arbeit wiederholt an der Verschuldung gescheitert waren. Welcher Personalchef stellt gern einen neuen Mitarbeiter ein, dessen Gehalt sofort gepfändet wird? Es sind wahrlich wenige, die sich daran nicht stören. In der Lohnabteilung muss der Pfändungsaufwand abgelesen und an eine dritte Stelle abgeführt werden. Das bedeutet für den Arbeitgeber einen höheren Personalaufwand. Von dem negativen Image, das ein verschuldeter Bewerber mit sich bringt, natürlich ganz zu schweigen. Nachdem André klar geworden war, dass er niemals Arbeit finden würde, wenn er die Wahrheit sagte, hatte er seine Schulden beim letzten Arbeitgeber einfach verschwiegen. Doch auch das hatte ihm nichts genützt. Spätestens beim ersten Lohnzettel kam alles ans Licht, und André wurde fristlos entlassen.
«Rauchen Sie?», fragte ich ihn.
Wieder sah er mich an, als könne er nicht glauben, was er da hörte.
«Ja», sagte er überrascht.
Ich kramte in meiner Tasche, holte das Tabakpäckchen samt Filter und Zigarettenpapier heraus.
«Na, dann wollen wir mal», sagte ich und erhob mich. An der Tür sah ich mich nach ihm um. «Wollen Sie hier auf mich warten oder lieber mitkommen?»
Es lag auf der Hand, die meisten meiner neuen «Kunden» kamen voll negativer Erwartungen zu dem Pflichttermin bei ihrer neuen Sachbearbeiterin. Warum dies so war, darüber zerbrach ich mir damals den Kopf noch nicht. Ich mochte diese jungen Leute, und gerade wenn sie besonders bockig wirkten, reizte mich die Herausforderung, ihre Schale behutsam zu durchbrechen und an sie heranzukommen. Mein Auftrag war es, ihnen dabei zu helfen, Arbeit zu bekommen. Sie sollten erkennen, dass ich auf ihrer Seite stand, auch wenn ich auf der anderen Seite des Schreibtischs saß. Kurz miteinander vor die Tür zu gehen und eine zusammen zu rauchen, das war ein Weg, und manchmal war es der einzige, der möglich war. Oft waren die Gespräche demütigend für meine Partner, sie mussten ihr Scheitern eingestehen, denn wer zu mir kam, der hatte «es» nicht geschafft.
«Wissen Sie was», sagte ich damals zu André, «am liebsten möchte ich Sie hier überhaupt nicht mehr sehen.»
«Ich hab auch keine Lust hierherzukommen», konterte er.
«Sehen Sie. Also was können wir tun, dass das nicht mehr nötig ist?»
Nicht umsonst spricht man vom «Schuldenberg». Jeder, der in diese Falle tappt, empfindet es so: Er steht vor einem Berg, und je höher die Schulden, desto unüberwindlicher erscheint er dem Betroffenen. Briefe werden ungeöffnet in eine Schublade gelegt, weil man einfach nicht weiß, was man tun soll. Die Lawine rollt, und man selbst hat nichts mehr unter Kontrolle. Man kann nur den Kopf einziehen und darauf warten, dass das Unglück über einen hereinbricht. Es ist schwer, sich aus eigener Kraft daraus zu befreien. Und seien wir mal ehrlich: Was hätten wir mit 19 in so einer Situation getan?
Schulden sind ein sogenanntes Vermittlungshindernis. «Stolpersteine» nenne ich diese Hindernisse, die den Weg ins Berufsleben erschweren oder oft sogar ganz versperren. Davon kann es eine Menge geben, Schulden sind nur ein Beispiel dafür. Es beginnt häufig schon damit, dass der Schulabschluss fehlt und in der Folge natürlich keine Ausbildung gemacht werden konnte. Viele sogenannte rechtschaffene Bürger, die die Hartz-IV-Empfänger verurteilen, geben den Betroffenen selbst die Schuld dafür. Tatsächlich muss man mit 19 noch keine 18000 Euro Schulden gemacht haben, und das allein mit 18 verschiedenen Handyverträgen.
«Du bist erwerbslos, hast kein eigenes Einkommen», sagte ich zu dem jungen Mann, nachdem ich sein Vertrauen gewonnen hatte. «Wieso musst du unbedingt ein teures Smartphone für knapp 600 Euro haben?»
«Wieso», fragte er kämpferisch, «Sie haben doch auch eines!»
Ich persönlich bin der Meinung, dass Schuldzuweisungen die Lage nicht besser machen. Natürlich ist es leichtsinnig, sich mit Handyverträgen zu verschulden. Und doch muss man in der Biographie weiter vorne ansetzen:
«Wieso hast du eigentlich die Schule abgebrochen?»
Und schon ist man mit einer solchen Frage mitten in einer Geschichte, in der nichts lief, wie es bei einem jungen Menschen laufen sollte. Meist sind es verquaste Familiengeschichten voller Leid, mitunter auch voller Gewalt, die hinter einem solchen Schicksal stehen. Eltern, die sich nicht kümmerten. Niemand, der da war, um gewisse Werte zu vermitteln, der Halt geben und als Vorbild wirken konnte. Kinder, die sich selbst überlassen wurden und sich irgendwie durchwurschteln mussten. Wenn ich die richtigen Fragen stellte und genau zuhörte, kam ich oft zu dem Schluss, dass diese jungen Erwachsenen statt Verachtung durchaus Respekt verdienten, weil sie es geschafft hatten, trotz widriger Umstände in nicht noch größere Schwierigkeiten zu geraten. Dass sie schafften, das tägliche Leben zu meistern, grenzte oft an eine Meisterleistung.
Besonders in Erinnerung blieb mir die Geschichte von Jessica R., die besonders vertrackt schien. Jessica, die heute...