1. Einleitung
Pädagogische Wissenschaft fragt danach, wie Menschen einer bestimmten Gesellschaft und Kultur werden, was sie geworden sind. Eine weitere Frage ist, wie Individuen sich und ihre Umstände verändern können und was sie lernen müssen, um einem Ideal des Menschseins näher zu kommen.
Es geht in dieser Arbeit um die Möglichkeit von Veränderungen speziell im Bereich der sozialen Kompetenz als möglicher pädagogischer Schlüsselkompetenz. Dazu gehört die Fähigkeit, konstruktiv mit Konflikten umzugehen und tragende, sich gegenseitig stärkende soziale Beziehungen zu gestalten. Dies wird gerade im Hinblick auf einen von Zukunftsforschern prognostizierten Innovationsschub wichtig, der nach Opaschowski (2002) im Wesentlichen davon abhängt, dass künftig die gesellschaftlich weichen Faktoren mehr und besser genutzt werden. Darunter werden die Kompetenzen im Umgang mit Menschen verstanden, Kreativität, Motivation, Verantwortungsgefühl und vor allem die Bereitschaft, sich für eine Sache einzusetzen. Im Zentrum stehen für die Zukunftsforscher ein gesellschaftlicher Bedarf an ganzheitlicher Gesundheit (körperliche, seelische, ökologische und soziale Gesundheit), an Beziehungskompetenz sowie die Suche nach Sinn. Denn die gesellschaftliche Zukunft hängt zum Teil auch davon ab, wie eine Balance zwischen Wohlstand und Wohlbefinden gefunden werden kann. Menschen wünschen sich mehr soziale Geborgenheit, und soziale Kompetenzen werden immer wichtiger (vgl. dazu Nefiodow 1999; Opaschowski 2002, 2006; Opaschowski/Zellmann 2005).
Mit der Frage, wie das möglich sei, befassen sich unterschiedlichste Modelle. So auch das der Gewaltfreien Kommunikation. Marshall Rosenberg geht der Frage nach, wie man Gewalt vermeiden kann, wie Menschen friedfertiger werden und ein sinnerfülltes Leben führen können. Es soll daher untersucht werden, inwiefern ein Kommunikations- und Konfliktlösungsmodell wie die Gewaltfreie Kommunikation obige Aspekte berücksichtigt und geeignet ist, soziale Kompetenzen und eine salutogene Orientierung im Sinne Antonovskys (1997) zu fördern. Rosenberg geht es weniger um die Wissenschaft, ihm geht es um eine Praxis, wie das Ideal von „humanem Leben“ in alltäglichen Situationen gelebt werden kann, wie es Jantzen (1992, S. 12) auch in der Behindertenpädagogik fordert. Rosenberg weist immer wieder darauf hin, dass die Gewaltfreie Kommunikation letztlich als Werkzeug dient, um menschliche Begegnung möglich zu machen und gleichzeitig gesellschaftliche Strukturen zu verändern. In diesem Sinne ist sein wichtigster Begriff „Social Change“, und er begreift Gewaltfreie Kommunikation (auch) als politisches Handeln.
„Ich begreife es einerseits als unsere Aufgabe, uns selbst und unser persönliches Umfeld von der Gewalt in unserer Sprache und in unserem Denken zu befreien. Und andererseits ist es unsere Aufgabe, die Machtstrukturen zu verändern, die uns überhaupt erst so konditioniert haben und die immerfort das Unglück produzieren, das wir bekämpfen“ (Rosenberg 2004c, S. 133).
Meine Frage ist nun, wie Rosenberg Gewalt definiert, wie unser Denken und unsere Sprache von dieser Gewalt befreit werden könnten, wie nach ihm gesellschaftliche Machtstrukturen verändert werden könnten und inwieweit es einen Zusammenhang zwischen individueller und gesellschaftlicher Veränderung gibt. Das sind natürlich keine neuen Fragen. Schon feministische Forscherinnen, deren Ziel ebenfalls eine Veränderung gesellschaftlicher Machtstrukturen war, wiesen auf den engen Zusammenhang von Selbstveränderung und Gesellschaftsveränderung hin. Auch ihnen geht es um Selbstbefreiung durch Selbstveränderung und dadurch Veränderung bestehender Strukturen. Grundannahme ist, dass die herrschende Kultur und Ideologie durch uns selbst reproduziert wird und Sprache nicht nur ein Werkzeug darstellt, sondern politisch wirkt, dass wir mit Sprache arbeiten und Sprache mit uns arbeitet. In diesem Sinne gelte es, die persönliche Sprache und damit sich selbst zu verändern.
Besonders bei der Methode der Kollektiven Erinnerungsarbeit nach Frigga Haug und Kornelia Hauser (1986, 1988, 1991) wird auf die enge Verbindung von Selbstveränderung und Gesellschaftsveränderung hingewiesen: „Wenn wir etwas verändern wollen, wenn Frauenbewegung etwas verändern und erreichen will, werden wir feststellen, dass unsere alten Persönlichkeitsstrukturen der Veränderung im Wege stehen“ (Haug 1990, S. 17). Auch bei Peter Senge (1998, S. 171) finden wir ähnliche Ideen: „Organisationen lernen nur, wenn die einzelnen Menschen etwas lernen. Das individuelle Lernen ist keine Garantie dafür, dass die Organisation etwas lernt, aber ohne individuelles Lernen gibt es keine lernende Organisation.“ Diese beiden Positionen kommen zwar aus gänzlich unterschiedlichen theoretischen Richtungen, doch ihr gemeinsames Moment ist für mich die Vision, individuelle und gesellschaftliche Veränderung gemeinsam zu ermöglichen. Dazu führe ich zwei Aussagen von Marx an, die meines Erachtens immer noch Gültigkeit haben: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern“ (MEW Bd. 40, S. 5 f.). Die zweite Aussage greift die immer noch wichtige Frage der Selbsterziehung auf: „Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergisst, dass die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muss“ (MEW Bd. 3, S. 5 f.).
Mich interessiert nun, inwieweit es durch die intensive Beschäftigung mit dem Modell der Gewaltfreien Kommunikation zu dieser geforderten Selbsterziehung bzw. Selbstveränderung kommt. Das Modell der Gewaltfreien Kommunikation besteht aus vier scheinbar einfachen Schritten, gleichzeitig ergeben sich bei der Auseinandersetzung mit diesem Modell auf verschiedenen Ebenen Schwierigkeiten. Zum einen gibt es Aussagen von Befragten, die darauf hinweisen, dass die Gewaltfreie Kommunikation in der Praxis nicht umsetzbar sei, zum anderen weisen Befragte darauf hin, dass sich ihr gesamtes Leben und ihre Beziehungen durch die Beschäftigung mit der Gewaltfreien Kommunikation geändert haben. Ich wollte wissen, was das Besondere an diesem Modell ist, was Menschen dazu bewegt, sich intensiv mit Kommunikation zu befassen und täglich ihr eigenes Sprachverhalten zu reflektieren, und was letztlich die verändernden Faktoren sind. Eine weitere Frage ist, inwiefern sich der sprachliche Habitus der Akteurinnen und Akteure (Bourdieu 1990) verändert, welche Kompetenzen sich zeigen, erweitert oder neu erworben werden und in welcher Form dies zu einer Veränderung gesellschaftlicher Realität führen könnte.
Deshalb lege ich den Fokus dieser Arbeit auf drei Bereiche: Zum einen auf den individuellen Bereich (Selbstveränderung), wo mögliche intrapersonale Veränderungen und eine Erweiterung der Handlungsfähigkeit (Holzkamp 1983) im Zentrum stehen. Zum anderen auf den sozialen Bereich, wo es um interpersonale Veränderungen und um Veränderungen in Beziehungsstrukturen geht.
Ich verfolge hier das Ziel, Veränderungsaspekte und jeweilige Kompetenzerweiterungen, die sich durch einen kontinuierlichen Prozess in der Auseinandersetzung mit der Gewaltfreien Kommunikation ergeben, zu eruieren und sichtbar zu machen. Der dritte ist der gesellschaftliche Bereich, da Rosenberg (2004a, S. 7 ff.) immer wieder auf die Wichtigkeit von persönlicher Veränderung bei gleichzeitiger Reflexion gesellschaftlicher Dominanzstrukturen hinweist. Auch Jantzen kritisiert ein Denken, das sich von Gesellschaft ab- und dem einzelnen Menschen zuwendet und damit gerade jene Verhältnisse stabilisiere, die es im pädagogischen Raum aufzuheben gilt. Als Beispiel führt er an:
„Unter Bedingungen des Sozialabbaus schützt die beste pädagogische Arbeit nicht davor, dass die Pflegesätze einer Einrichtung für Behinderte heruntergesetzt werden; ein Einschnitt in den Arbeitsmöglichkeiten, der jedoch u. U. durch gewerkschaftliche Arbeit, Mobilisierung der Nachbarschaft usw. verhindert werden kann und dann natürlich umso mehr, je besser und bewusster auch die pädagogische Arbeit ist“ (Jantzen 1992, S. 16).
Was Jantzen hier für den Bereich der Behindertenpädagogik formuliert, gilt selbstverständlich auch für andere Beispiele, wie finanzielle Kürzungen im Bereich der Frauenarbeit (Schließung von Frauenhäusern, weniger finanzielle Unterstützung bei Frauenprojekten und Beratungsstellen für Frauen usw.), in Bereichen der Suchtarbeit, in der Arbeit mit Migrantinnen und Migranten, in allen Bereichen, in denen mit sogenannten Randgruppen gearbeitet wird. Mit Hilfe der Gewaltfreien Kommunikation soll es nach Rosenberg möglich sein, vermehrt Einfluss auf gesellschaftliche Belange zu nehmen, Menschen mit Entscheidungsbefugnis zu erreichen und so zu einer Vision eines sozialen Wandels – im Sinne eines solidarischen Miteinanders – zu gelangen. Deshalb gehe ich auch der Frage nach, inwieweit durch den Prozess der Gewaltfreien Kommunikation tatsächlich Veränderungen auf dieser gesellschaftlichen Ebene initiiert und sichtbar werden.
Einführend lege ich meine wissenschaftstheoretische Position und das konkrete forschungsmethodische Vorgehen dar und führe verschiedene theoretische Positionen an, die wesentlich zum Verständnis dieser Arbeit beitragen. Im zweiten Teil geht es in Bezug auf das Habituskonzept von Bourdieu (1990) um Sprache als symbolische Macht und den Begriff der Kompetenz. Danach wird das Modell der Gewaltfreien Kommunikation nach Rosenberg (2003, 2004, 2005, 2006) vorgestellt. Zwar verweist Rosenberg in seinen Büchern und Seminaren immer wieder auf Studien und weiterführende wissenschaftliche Literatur, aber er liefert keine kohärente theoretische Grundlage. Deshalb ist es auch Ziel dieser Arbeit, die...