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E-Book

Die Wiederentdeckung der Berührbarkeit

Warum Gefühle wieder salonfähig sind

AutorSusanne Pointner
VerlagVerlag Orac im Kremayr & Scheriau Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783701506064
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Wir alle kennen das: Schon morgens gibt es Missstimmung, der Bus ist überfüllt, in der Arbeit herrscht Leistungsdruck - und am Abend gerät man mit den Kindern oder dem Partner in Streit. Sich selbst, die eigenen Bedürfnisse spürt man dabei nur noch selten. Hier setzt Susanne Pointners Buch an: Es lädt ein, einen freundlichen und empathischen Umgang mit sich selbst zu entwickeln und richtet sich an Menschen, die nicht cool und abgestumpft durchs Leben gehen wollen, sondern offen und sensibel - ohne sich dabei von jedem Gegenwind aus der Bahn werfen zu lassen. Das setzt einen guten Zugang zur eigenen Gefühlswelt und Aufnahmebereitschaft für die Empfindungen anderer Personen voraus. Mythische Bilder vertiefen den Erkenntnisgewinn und zahlreiche Beispiele aus der therapeutischen Praxis stellen den Bezug zum Alltag her. Viele Leserinnen und Leser werden sich selbst darin erkennen und wertvolle Anregungen dafür finden, wie das Stille und das Laute, das Zarte und das Grelle im eigenen Inneren und in der Umgebung in Balance gebracht werden können.

Susanne Pointner ist Psychologin, Psychotherapeutin, Paartherapeutin und Ausbildnerin für Psychotherapie, Lebensberatung und Paartherapie. Internationale Vortrags- und Lehrtätigkeit. Leitung des Wiener Instituts der Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse und Präsidentin der Imago Gesellschaft Österreich und der Imago Paarambulanz.

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Leseprobe

Berührbarkeit: Lebendig mit der Welt verbunden sein


Emotionsregulierung: Gesunde oder kranke Wahrnehmung


Die Bilder für den Umgang mit Gefühlen, und damit auch dem Körper, haben sich im Lauf der Zeit verändert. Der heilige Franz von Assisi versuchte, den „Bruder Esel“ im Gegensatz zu den leibfeindlichen Asketen liebevoll, aber bestimmt zu zähmen und zu führen. Sigmund Freud verhalf uns zu der Einsicht, dass dem bewussten Ich als Reiter oft nichts anderes übrigbleibt, als das Pferd, die unbewusste Psychodynamik, dorthin zu führen, wo es selbst hingehen will. Der Wiener Psychiater Viktor Frankl sah Mitte des 20. Jahrhunderts bei aller Anerkennung der Notwendigkeit von psychischen Prozessen in der Trotzmacht des Geistes den Angelpunkt des Menschseins.

In manchen Auswüchsen der psychotherapeutischen Weiterentwicklungen danach könnte man meinen, die Emotionen selbst hätten sich Herrschaft und Reiterwürde angeeignet. Es wurde der Urschrei kollektiv zelebriert, Paare warfen Pölster und Künstler schmissen Blutkübel an die Wand. Heute sind wir wieder etwas abgeklärter. Ausgehend von Frankls geistiger Dimension (neben der psychischen und physischen) als „Trotzmacht des Geistes“ meint heute die sinnorientierte Psychotherapierichtung Existenzanalyse, dass wir mit und durch die Gefühle im personalen Dialog mit der Welt sind. Die personale Dimension, die freie, entscheidungs- und entwicklungsfähige Qualität unseres Bewusstseins, die auch spirituelle Aspekte einschließt, kann nur erblühen in einer freundschaftlichen Kooperation mit den leiblichen und triebhaften Quellen unseres Seins. Wir können Gefühle als belebende und beratende Reisegefährten des steuernden Ichs sehen, die auf andere Art sehen und hören, als die reflektierenden Ich-Funktionen das können.

Experimentierfreudigkeit im Bereich der Emotionalität braucht Mut. In unserer Kultur ist man rasch mit dem Vorwurf konfrontiert, ein Sensibelchen, ein Warmduscher, ein „Opfer“ zu sein. Ein geschätzter Kollege irritierte die Männerwelt, indem er in einer Fernsehsendung bei einer Erzählung – dem Inhalt durchaus angemessen – Tränen in den Augen hatte. In der Dunkelheit des Kinosaals lassen sich auch harte Kerle von der Betroffenheit des Helden anstecken, aber ein zu Tränen angerührter Psychotherapeut in einer Dokumentarsendung ist manchen peinlich. Die Jury in der Talente-Show sollte angesichts des genialen behinderten Sängers publikumswirksam feuchte Augen bekommen – aber Politikerinnen und Politiker, die untergriffige Fragen oder Aussagen sichtbar und fühlbar aus der Fassung bringen, müssen sich den Vorwurf der mangelnden Professionalität und Souveränität gefallen lassen. Es ist nicht so, dass sie schreiend hinauslaufen würden; sie sind nur zu empfindsam, zu wenig strategisch oder zu integer, um Attacken jeder Art kühl zu parieren oder kalkuliertes Echauffiert-Sein zu demonstrieren.

Und doch: Besagter Kollege hat gerade für Männer Vorbildwirkung und er wird auch für seine Echtheit und Herzenswärme geschätzt. Angesehene Journalistinnen und Journalisten sprechen und schreiben über ihre Ängste, Depressionen, Lebenskrisen. Auch hier ist die Trendwende spürbar – cool sein ist gut, publikumswirksame Emotionalität ist besser, Authentizität toppt. Ein mutiger Vertreter dieser neuen Ehrlichkeit ist der Psychiater und Klinikleiter Peter Dogs. Er erzählt in seinem Buch „Gefühle sind keine Krankheit“ seine Leidensgeschichte als Kind und Jugendlicher. Er ist ein Psychotherapeut zum Angreifen, und macht sich damit angreifbar.

Kinder, die versuchen, die Welt zu begreifen oder innere Spannungen abzureagieren, sind in kleinen Räumen, großen Gruppen und einem vorwiegend für Feinmotorik geeigneten Spielmaterial nicht gut aufgehoben und für andere störend. Der ausgeklügelte Lego-Roboter kann die Waldpirsch mit Stecken nicht ersetzen. Das sich ausbreitende ADHS- oder „Zappelphilipp“-Syndrom hat viele Ursachen. Die Medizin, die Eltern, Kindergärten und Schulen arbeiten an Umgang und Lösungsansätzen.

Die soziale Komponente betrifft aber uns alle. Das Übergehen der Emotionalität führt auf die Dauer zu Auswüchsen, die für alle Beteiligten schwer handhabbar sind. Innere Bewegung sucht Ausdrucksformen. Es liegt an uns, zumindest Kindern in Geschäften, Ämtern, Kirchen, Parks, U-Bahnen die Möglichkeit zu schaffen, sich zu bewegen oder etwas auszuprobieren. Kluge Marktstrategen haben das schon lange entdeckt, inzwischen auch viele pädagogische Institutionen. Handyfreie Kindergärten und Schulen können den reizüberfluteten kindlichen Gehirnen die Chance bieten, sich mit den inneren Bildern zu beschäftigen. Es ist wichtig, dass die Kinder den Umgang mit den Medien üben – einen gezielten Umgang, denn was die Bedienung betrifft, sind sie den Erwachsenen in der Regel mindestens ebenbürtig. Dafür braucht es Regeln, Aufklärung, Dialog und Angebote, die das nähren, was häufig durch den Einsatz der Medien ersatzweise befriedigt wird.

Helga, eine ältere Pädagogin seufzte im Coaching: „Ich würde gern mit den Kindern mehr hinausgehen, aber einmal losgelassen, sind sie nicht zu bändigen!“ Sie konnte das durchaus nachvollziehen. Endlich im Urlaub, war ihr selbst die Stille der Natur bald unerträglich. Sie war aber nun schon sehr erschöpft, und wir vereinbarten, dass sie versuchen könnte, selbst zur Ruhe zu kommen. Sie buchte nicht wie sonst den Cluburlaub, wo Beschallung am Meer automatisch gewährleistet war, sondern einen Urlaub abseits des Trubels. Es gab in der Nähe des neu gewählten Urlaubsortes keinen Freizeitpark, kein Rafting und kein Wellnessangebot „mit allen Sinnen“. Wenn sie sich dem Meeresrauschen aussetzte, schwemmte es aber nun eine Flut von Frustration, Fragen und Selbstanklagen an Land.

Im Coaching fischten wir nach dem Urlaub Stück für Stück heraus, reinigten das eine und verbrannten im inneren Bild das andere. Nach und nach begann sie wieder, das Spiel der Wellen als Melodie zu hören und die Zwischenrufe der Schüler als Versuch, die Frau hinter der Lehrkraft zu entdecken. Sie führte in ganz kleinen Schritten Achtsamkeitsübungen im Unterricht ein: „Ich habe euch Duftproben aus der Parfümerie mitgebracht. Nehmt euch Zeit, und versucht, nicht zu sprechen, nur zu riechen. Erkennt ihr Bestandteile? Habt ihr Bilder dazu? Was meint ihr, passt zu euch oder eurer Sitznachbarin – und warum?“ Die Atmosphäre im Klassenraum veränderte sich. Später fragte sie einmal die Schülerinnen und Schüler spontan am Beginn des Unterrichts, wie es ihnen ging, weil sie merkte, dass die Klasse bedrückt war. Sie erlebte in dieser Einheit eine der Sternstunden ihrer beruflichen Laufbahn.

Nach und nach veränderte Helga ihre Haltung zum Unterrichtsstoff und zu den jungen Menschen. Manche konnten nach wie vor nicht die Stadien der Zellteilung aufzählen, aber mehr als bisher hatten sich von der Faszination anstecken lassen, die das Beobachten eines solchen Prozesses auslösen kann. So setzte sie neue Prioritäten und erweiterte auch in Kursen – weniger pädagogischen als künstlerischen – ihre methodischen Kenntnisse. Neue Regelungen durch die Direktion oder die Gesetzgebung waren manchmal hilfreich, manchmal eher ein Hindernis bei der Umstellung. Letztlich war es vor allem ihr eigener Entwicklungsweg, der die Veränderung brachte.

Innerliches Bewegtsein: meine Beziehung mit dem Hier und Jetzt


Berührung ist etwas anderes als der Ausdruck oder die Mitteilung von Gefühlen. Innerlich Bewegt-Sein meint ganz unmittelbar das, was sich in mir rührt, wenn ich mit Situationen konfrontiert bin, die Wärme, Anziehung und Lustigkeit oder Schmerz, Trauer und Angst hervorrufen. Berührbarkeit zu leben kann heute anstrengend sein, für die Betroffenen ebenso wie für die Umgebung, weil wir sie nicht gewohnt und im Umgang mit ihr nicht geübt sind. Und es ist anstrengend, wenn es ein Entgiftungsprozess ist. Wenn wir uns längere Zeit der eigenen Berührbarkeit nicht zugewandt haben, kommen durch unerwartete äußere Anstöße starke Gefühle hoch, die nicht angenehm sind. Das verursacht Stress. So kann es sein, dass wir abends nach Hause kommen und Leere, Langeweile oder Unruhe verspüren. Der Mailcheck am Computer, die Kontrolle der Hausaufgaben der Kinder vermitteln das Gefühl, die Kontrolle nicht zu verlieren. Das verschafft Erleichterung und ist oft auch notwendig. Es trägt aber wenig zum Verdauen der unverarbeiteten Impressionen und aufgestauten inneren Happen bei. Der Teppich, unter dem sich die unbeantworteten Anfragen des Lebens sammeln, wird dicker. Es wird immer schwieriger, sich mit einer Tasse Tee ans Fenster zu setzen, ohne Begleitung in den Wald zu gehen, ein Buch zu lesen. Menschen, die an einem Burnout-Syndrom leiden, müssen oft erst in kleinen Schritten lernen, sich mit dem Treibgut des Alltags auseinanderzusetzen. Manchmal muss man erst wieder Tätigkeiten finden, die ausreichend Ablenkung von der inneren Spannung bieten und...

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