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E-Book

Die zersplitterte Welt

Was von der Globalisierung bleibt

AutorKarin Kneissl
VerlagBraumüller Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783991000877
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis18,99 EUR
Meldungen über eine Weltwirtschaftskrise beherrschen unsere Nachrichten. Die EU droht auseinanderzubrechen, fast vergessene Ressentiments zwischen Kulturen brechen wieder auf, wir kämpfen gegen Umweltzerstörung und die Überalterung unserer Gesellschaft. Wird die westliche Kultur untergehen wie andere Hochkulturen vor ihr? Karin Kneissl, eine der renommiertesten Expertinnen für internationale Beziehungen, hat sich in jahrelanger Recherche mit dem Untergang von Großreichen beschäftigt. Was können wir aus dem Fall des römischen Weltreichs, der Welt der arabischen Kalifen oder des britischen Empires lernen? Kneissl analysiert die Vergangenheit und zeigt mögliche Tendenzen auf: Die Idee einer solidarischen Weltgemeinschaft etwa könnte sich als Illusion entpuppen. Nicht die aktuellen kosmopolitischen Machtzentren werden wichtig sein, sondern die kleinen Einheiten: die Peripherie, die Dörfer. Was wird unsere kulturelle Identität in Zukunft prägen? Wie werden wir nach einem massiven Wohlstandsverlust leben? Wie werden unsere Wirtschafts- und Energieversorgungssysteme organisiert sein, damit die westliche Welt eine Chance hat gegen die wirtschaftlich aufstrebenden BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika)? Und welche Rolle wird Religion in Zukunft spielen? Karin Kneissl gibt Antworten auf diese drängenden Fragen unserer Zeit.

Karin Kneissl war bis 1998 im Diplomatischen Dienst der Republik Österreich und ist seither freischaffend tätig. Sie schreibt u.a. als unabhängige Korrespondentin (Die Presse, NZZ) und ist gern gesehener Gast für politische Analysen im ORF. Sie unterrichtet in Wien und Beirut im Bereich internationale Beziehungen, v.a. Energiepolitik und Nahost, und hat gesellschaftspolitische Sachbücher verfasst, zuletzt TESTOSTERON MACHT POLITIK (Braumüller 2012).

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Leseprobe

1. Eine instabile Welt mit vielen Zentren


„Die Barbarei kommt wieder, trotz Eisenbahnen, elektrischen Drähten und Luftballons.“

Arthur Schopenhauer

Wer Karten zeichnet, führt und verführt den Blick des Betrachters. Denn Karten sind auch nützliche Mittel der Propaganda, um territoriale Ansprüche zu erheben. Das Studium der vielen Karten, die im Nahen Osten zirkulieren und Grenzen entlang biblischer Verheißungen oder einstiger Großreiche, alter und neuer Kalifate, zeichnen, faszinierte und verstörte mich stets gleichermaßen. Findet sich doch in einer Landkarte mehr aufschlussreiche Information über Krieg und Frieden als in so mancher Abhandlung.

Die britisch-französische Geheimdiplomatie während des Ersten Weltkriegs zur Neuordnung des Orients bestand aus einer mehrteiligen Korrespondenz zwischen den Unterhändlern Mark Sykes in London und Georges Picot in Paris. Im Annex befand sich eine detaillierte Karte blauer und roter Zonen, auf welcher die Ziele eines weitreichenden französischen Asiens und britischer Handelsinteressen eingezeichnet waren. Wenn man im Archiv des französischen Außenministeriums die schon leicht vergilbte Karte betrachtet, erwacht die damit verbundene europäische Kolonialpolitik zu neuem Leben. So also wurden Völker verschoben und Einflusssphären geschaffen, um die Interessen der Großmächte zu bedienen. Nicht diese Karte von 1916 sollte die Konkursmasse des Osmanischen Reiches neu verteilen. Denn infolge des Kriegsverlaufs waren die britischen Truppen erfolgreicher und präsenter in der Region als die Franzosen, deren Ansprüche damit schwanden. Vielmehr gaben Erdölpipelines letztlich den Ausschlag, wo die zukünftigen mit dem Lineal gezogenen Grenzen zwischen den neuen arabischen Nationalstaaten verlaufen sollten. Frankreich und Großbritannien verwalteten diese Mandate in kolonialer Tradition, wobei die Interessen am neuen, strategisch so bedeutsamen Rohstoff Erdöl den Ausschlag über viele territoriale Details gaben. Im April 1920 kam es zu einem Treffen von Vertretern von Erdölkonzernen und der Außenministerien der beiden Länder im Hotel Londra im italienischen Badeort San Remo. Die Anekdote besagt, dass die Verhandler auf einem Tischtuch die Trasse der Pipeline skizzierten. Es ging um den Transport des Erdöls aus dem britisch kontrollierten Nord-Mesopotamien, der heute kurdischen Autonomiegebiete im Irak, via das von Frankreich kontrollierte Syrien in den Hafen Haifa im britischen Mandatsgebiet Palästina. Zuerst einigte man sich auf die Pipeline, dann wurden die Grenzen gezogen. Die Gefahr des Zerfalls von Irak und Syrien infolge der Kriege, die in die Region hineingetragen wurden, ergibt sich auch aus den Karten. Der Erste Weltkrieg dauert offensichtlich an.

Wenn die ideologisch beanspruchte Heimat und das eigentliche Staatsgebiet weit auseinander klaffen, werden die diesbezüglichen Landkarten umso brisanter. Die Karten deutscher Siedlungsgebiete aus den 1930er Jahren und die Politik des Dritten Reichs sind ein tragischer Beleg. Aufschlussreich sind auch die Karten diverser nationalistischer Bewegungen, ob es sich um ein Großalbanien, um ein Großisrael oder die Vorstellungen über ein souveränes Kurdistan oder ein Ungarn für alle in der Fremde verstreuten Ungarn handelt. Aus diesen politischen Landkarten ergibt sich Deutungshoheit über die Aufteilung einer Region und ihrer Ressourcen. Hier vermischen sich meist alte Komplexe ethnischer Überlegenheit mit den ebenso alten Interessen an strategischer Tiefe, Ackerland und Wasserquellen. Die Heimholung aller verstreuten Mitglieder einer Volksgemeinschaft wird dann zum Hauptmotiv für dauernde Expansion. Unter dem Schlagwort „Lebensraum“ betrieb NS-Deutschland seine Aggressionspolitik und führte die Welt in weiteres Gemetzel.

Für permanente Instabilität sorgen in der Geschichte immer wieder aufs Neue unklare Grenzräume, wo mangels politischer Kontrolle oft militante Gruppen eine solche Zone auffüllen. Im Englischen existiert für solche Grenzräume der Begriff „frontier“, der sich von der eigentlichen Grenzlinie, „border“ bzw. „boundary“, unterscheidet. Letztere steht für eine anerkannte Trennlinie zwischen souveränen Staaten und bedingt ein Einvernehmen zwischen den Nachbarn, ist also Ausdruck von Frieden. Der Grenzraum hingegen befindet sich in ständiger Bewegung, hier wird gekämpft und um Kontrolle gerungen. Die Ukraine war durch Jahrhunderte hindurch ein solcher Grenzraum, wie der Name des Landes illustriert. Denn das slawische Wort für Grenze steckt hier ebenso drinnen wie in der Krajina, dem von mehreren südslawischen Völkern beanspruchten Grenzraum zwischen Kroatien und Serbien. Wenn neue Staaten entstehen, wie dies im 20. Jahrhundert gleichsam in Wellen mehrmals der Fall war, werden diese Grenzgebiete rasch wieder zum Zankapfel. Menschen werden vertrieben, weil sie der falschen Ethnie angehören. Gewachsene Kulturen werden zerstört und städtisches Vielvölkergemisch verarmt zu provinzieller Fadesse. Die Chronologie des 20. Jahrhunderts listet viele solcher tragischer Beispiele auf. Man denke an die einst kosmopolitisch gestimmte Weltstadt Saloniki, die schon vor der großen Krise in Griechenland zur Kleinstadt Thessaloniki verkümmert war. Denn als es nach dem Ersten Weltkrieg zum großen Völkertausch zwischen Griechenland und der Türkei kam, brachen in der gesamten Levante gewachsene Strukturen zusammen. Dörfer und Familien wurden zerrissen, Kulturen verschwanden. Es galt, neue Grenzen zwischen all diesen neuen Nationalstaaten zu zeichnen. Doch viele dieser Grenzlinien, Ergebnisse des Ersten Weltkriegs, sind bis heute umstritten und sorgen für steten Zündstoff.

Im Nahen Osten finden sich derzeit ähnliche unendliche Geschichten um oft banal anmutende Gebietsansprüche. So wurde der Südlibanon Ende der 1960er Jahre zum Aufmarschgebiet palästinensischer Gruppen, die von dort aus ihre Angriffe gegen den jüdischen Staat unternahmen, worauf es zu Rachefeldzügen Israels gegen den Libanon kam. Der Südlibanon war und ist teils noch, trotz aller UN-Präsenz, ein solches Aufmarschgebiet, wo nicht nur der israelisch-palästinensische Konflikt ausgetragen wird. Ebenso mischen Regionalmächte wie Syrien und der Iran mit, um ihre Einflusszonen über diverse Stellvertreter geltend zu machen. Bereits das Schneiden eines Baumes an einer falschen Stelle kann hier leicht zum Kriegsgrund werden. Zwischen 2009 und 2011 reiste ich mehrmals in den Südlibanon, um die 2006 neu gestartete Mission der UN-Friedensmission UNIFIL II für eine Publikation zu studieren. In den Dokumentationen internationaler Beobachter finden sich dann allerhand bizarre Details infolge gemeldeter Grenzverletzungen, wie das Weiden von „zionistischen Kühen“ auf arabischer Erde oder das Eindringen „terroristischer Schafe“ zu jüdischen Wasserlöchern.8 Kontrolle über Ressourcen und tiefsitzender Hass können aus scheinbar banalen Zwischenfällen irgendwo im Niemandsland rasch eine Krisensitzung des UN-Sicherheitsrates in New York machen. Geografie und Politik sind ein interessantes Paar, das in Gestalt der Geopolitik auf den Plan tritt. Der deutsche Staatsmann Otto von Bismarck pointierte es in der Aussage: „Die Geografie ist die Konstante der Geschichte.“

Geografie und Politik treffen aufeinander


Es gab Zeiten, in denen mehrere Großreiche nebeneinander existierten, die in wechselseitigem Respekt einander begegneten. Dies war der Fall zwischen dem Frankenreich Karls des Großen und dem gerade aufsteigenden arabischen Reich der Omajaden-Dynastie. Korrespondenzen und wechselseitige Ehrerbietung erzählen von respektvoller Neugier für die Kultur des anderen. Von Vorteil ist zweifellos, nicht unmittelbar aneinander zu grenzen. Epochen gewisser Stabilität werden gerne als Zeitalter einer multipolaren Ordnung beschrieben, so in der Ära des Konzerts europäischer Mächte im 19. Jahrhundert, die über Bündnisse und wechselseitigen Respekt eine gewisse Balance und damit relativ kriegsfreie Periode ermöglichten.

Wir kennen aus jüngerer Vergangenheit die sogenannte bipolare Aufteilung der Welt während des Kalten Kriegs, der sich kaum eine Weltregion entziehen konnte. Man hörte auf Washington oder Moskau und wurde entsprechend unterstützt. Es folgte die unipolare Welt, deren Politik und Wirtschaft die USA von 1990 bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts auch über die Globalisierung bestimmen sollten. Nun werden die Karten der neuen Machtverhältnisse bereits im Sinne einer zukünftigen multipolaren Welt gezeichnet. Demnach würden neue Machtblöcke vom asiatischen Raum bis nach Lateinamerika ein wirtschaftliches und politisches Gegengewicht zu den traditionellen Mächten der nordwestlichen Hemisphäre bilden. Viele Szenarien inspirieren hierbei politische Strategen und Investoren, die meist im Tandem über die neuen Märkte und Mächte nachdenken. In welche Richtung uns diese Umbruchszeiten bewegen, ist schwer vorhersehbar. Selbst beim Blick in eine geopolitische Glaskugel würden wohl Karten und Grenzen im Nebel der vielen Unwägbarkeiten verschwimmen. Nicht viel anders erging es den Neugierigen bei der Wende in...

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