1. Kapitel
Ich kann von meinem Leben nicht behaupten, es verlaufe ruhig. Sehr oft hatte ich das bedrängende Gefühl, dass mir für bestimmte Dinge die Zeit fehle. Besser: dass ich mir keine Zeit nahm – etwa für Fragen nach den Wurzeln der eigenen Existenz. In welche Familiengeschichte bin ich eingebunden, welchem Erbe bin ich zugehörig?
An meiner Schwester Gabriele bewunderte ich stets die Intensität, mit der sie auch Ahnenforschung betrieb. Ich bin da weit unbekümmerter. Deshalb ist mir beim Schreiben dieses Buches Gabrieles historisches Interesse, ihre Sorgfalt beim Blick auf unsere recht verschlungenen und weit verzweigten Herkunftslinien sehr zugutegekommen. Was ich als Gang durch meine Ahnengalerie an den Anfang dieses Buches setze, habe ich also zu einem großen Teil von meiner Schwester erfahren. Staunend stehe ich vor einem Panorama spannender Schicksale im wechselnden Geschehen der Jahrhunderte.
Das wird augenfällig schon bei der mütterlichen Linie. Meine Mutter, Irene Gysi, ist eine geborene Lessing. Sie erblickte 1912 in Sankt Petersburg das Licht dieser wirren, schönen Welt, ihr Bruder Gottfried zwei Jahre später. Sie starb 2007 in Berlin, mein Onkel wurde 1979 in Kampala (Uganda) als Botschafter der DDR erschossen. Es waren Unruhen in dem afrikanischen Land ausgebrochen, das gesamte Diplomatische Korps bekam die Order, die Hauptstadt zu verlassen. Warum auch immer: Gottfried Lessing nahm mit seiner Frau sowie seinem Stellvertreter und dessen Frau einen anderen als den offiziell vorgeschriebenen Weg. Die vier wurden unterwegs ermordet; niemals wurde ermittelt, von wem und warum.
Die Beerdigung in Berlin fand sechs Monate später statt, weil die Opfer erst offiziell für tot erklärt werden mussten, dieses gesetzliche Verfahren sich aber lange hinzog. Denn die Toten wurden nie aufgefunden. Bei der Trauerfeier in Berlin sprach Außenminister Oskar Fischer. Man merkte seiner Rede, seinem Ton deutlich an, dass ihm die Biographie meines Onkels fremd war. Aufenthalt in Rhodesien, heute Simbabwe; erste Heirat mit einer Schriftstellerin, die in London lebte und als Doris Lessing berühmt wurde; der gemeinsame Sohn auch in London – das war DDR-untypisch. Da fühlte sich der Redner im Lebenslauf des ebenfalls zu betrauernden Stellvertreters von Gottfried Lessing deutlich wohler: Pionier, FDJler, Parteischüler, Arbeit im Außenministerium der DDR. Aber seltsam: Für die Berufung zum Botschafter war den Genossen mein Onkel trotzdem geeigneter erschienen.
Die Mutter meiner Mutter, also meine Großmutter Tatjana Lessing, war eine geborene von Schwanebach. Im 18. Jahrhundert war diese adlige Familie nach Russland ausgewandert, konkret: die zweiten und dritten Söhne. Sie kehrten der Heimat den Rücken, weil für sie das Erbe nicht reichte. Ihre letzte Hoffnung, wie meist in solchen Fällen: Militärkarrieren. Aber bei der Armee – in welchem System auch immer – begegnet man zwar dem mir ewig fremd bleibenden Kitzel, Leute zu erschießen oder selbst erschossen zu werden, wird aber in aller Regel nicht reich. Das sollten auch die ausgewanderten Söhne erfahren. Immerhin gab es in dieser Familie von Schwanebach einen General. Er war vom russischen Zaren in Finnland eingesetzt worden. Dort erschoss ihn ein national gesinnter Student.
So stelle ich bereits zu Beginn dieses Buches fest: An meiner Familie schieden sich schon immer die Geister, egal, ob auf der linken oder der rechten Seite irgendeiner Front.
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Bleiben wir bei den mütterlichen Vorfahren, und gehen wir noch ein Stück in der Geschichte zurück. Der Vater meiner Großmutter, also mein Urgroßvater, diente ebenfalls beim Militär. Seine Frau war eine geborene Saburowa. Sie kam aus einer altrussischen Fürstenfamilie, verwandt mit den Dolgorukis, die einen der Gründer Moskaus hervorbrachten. Diese Familie war also zweifellos bedeutender als etwa die weit bekannteren Romanows, die erst sehr viel später einzig dadurch auffielen, dass sie überflüssige Zaren stellten.
Meine Urgroßmutter hatte den Mut zu etwas Außergewöhnlichem in jener Zeit: Sie ließ sich scheiden, und das auch noch wegen eines anderen Mannes. Und als sei dieser eine Skandal nicht genug, sorgte sie für einen zweiten, denn: Der Nebenbuhler war »nur« ein Bürgerlicher. Aus der Ehe mit ihm gingen weitere Kinder hervor. Meine Großmutter Tatjana wurde von ihrer Mutter in eine andere Stadt und zum neuen Ehemann mitgenommen und galt als mitgebrachte, arme Verwandte – ein klassischer Typus der russischen Literatur und Dramatik. Als junge Frau sprengte meine Großmutter übrigens die Fesseln der aristokratischen Langeweile, sie arbeitete bei einem Armeegeneral – als Sekretärin. Dort lernte sie zufällig ihren späteren Ehemann, meinen Großvater, kennen. Ihm imponierte ungemein, dass eine Adelige arbeitete – und dann auch noch als Sekretärin.
Na, schwindelt der geneigten Leserschaft schon etwas? Dann geht es ihr wie mir. Namen, Hierarchien, Epochen. Der Stammbaum undurchdringlich? Auch ich war sehr schnell wirr im Kopf, als ich mich suchend ins Netzwerk dieser Verwandtschaft begab. Mit den aufgeführten Namen will ich nicht langweilen, nicht als penibler Chronist ergreife ich das Wort, und merken kann man sich alles und alle eh nicht. Aber das Schillernde des Geschichtlichen, das mit dieser Familienhistorie gestreift wird – mich hat es verblüfft und berührt. Erstaunlich, was sich im Laufe so vieler Jahre alles ereignen, wer auf wen treffen und welche Zufälle einander kreuzen müssen, damit irgendwann das eigene Leben entstehen und hervortreten kann.
Und das Ende der Verzweigungen ist ja noch lange nicht erreicht! Es werden noch Lenin, ein bayrischer Kapitalist und ein Hahn in Görlitz die Szene betreten …
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Jener Urgroßvater, der der Vater meines Großvaters mütterlicherseits war, auch ein Lessing, wurde in Mühlhausen bei Bamberg geboren. Das erwähne ich, weil ich damit etwas sehr Spezielles enthüllen kann: meine bayerische Wurzel! Mich stört das nicht. Aber wie einige Bayern darüber denken, wenn sie’s nun erfahren sollten, weiß ich nicht. Dieser Urgroßvater Anton Lessing entstammte einer jüdischen Familie. Sein kaufmännischer Lehrbetrieb soll das Geschäft Konrad Raab gewesen sein, das noch heute in Mühlhausen existiert. Einer seiner Söhne, Wilhelm Heinrich Lessing, brachte mit Beginn der Hitlerdiktatur seine Frau und seinen Sohn ins sichere Ausland, nach London. Er selbst versuchte in der sogenannten Reichskristallnacht aus der brennenden Synagoge in Bamberg die Tora-Rolle zu retten. Die Brandstifter entdeckten ihn und schlugen ihn, die Tora-Rolle wurde zurückgeworfen ins Feuer. Wilhelm Lessing floh in seine Wohnung, die Nazis folgten ihm. Sie zerrten ihn heraus, zündeten das Haus an und misshandelten ihn auf der Straße. Wenige Monate später erlag er seinen Verletzungen. Die Straße, in der seine Familie in Bamberg lebte, wurde 1948 nach ihm benannt.
Zurück zu meinem Urgroßvater Anton Lessing – eben jener Bayer aus Mühlhausen bei Bamberg: Er wurde ein erfolgreicher Unternehmer, selbstverständlich kann man auch sagen: Kapitalist. Er ging ebenfalls nach London, lernte Englisch und organisierte den Handel zwischen Großbritannien und Russland. Er exportierte moderne Technik. Später wurden die Gebrüder von Struwe auf ihn aufmerksam, Ingenieure, die im russischen Kolomna Werke besaßen, in denen Lokomotiven hergestellt werden sollten. Sie schätzten selbstkritisch ein, vom Handel nichts zu verstehen und bestimmten daher meinen Urgroßvater zum Geschäftsführer in Kolomna.
Rudolf Diesel hatte bekanntlich den Dieselmotor erfunden. Allerdings fehlte ihm das Geld, diesen Motor herstellungsreif zu entwickeln. Mein Urgroßvater kaufte deshalb eine Lizenz für diesen Motor und war somit tatsächlich in der Lage, in Kolomna modernste Lokomotiven zu produzieren. Der Betrieb lief so gut, dass mit der Hilfe des Werkes sogar noch die Schifffahrtsindustrie angekurbelt werden konnte. Mein Urgroßvater wandelte die Kolomna-Werke schließlich in eine Aktiengesellschaft um. So kam Geld für mehr und mehr Investitionen in das Unternehmen. Im benachbarten Wyksa entstand ein Stahlwerk. Das Erz dort war besonders leicht abzubauen, man konnte es bereits von der Erdoberfläche aus aufspüren. Anton Lessing begann dort, Rohre herzustellen.
Erstaunlicherweise werden in den Kolomna-Werken bis heute Lokomotiven produziert, und in Wyksa existiert nach wie vor jene Stahlfabrik, die jetzt allerdings Stahlröhren für Gas- und Erdölpipelines herstellt. Nach der Jahrtausendwende kam eine kleine russische Delegation nach Berlin und lud mich zu einem Besuch ein, der jedoch bis heute nicht zustande kam. Interessant war, dass die Russen bei ihrer Visite in Deutschland erwähnten, mein Urgroßvater sei sogar von Lenin gewürdigt worden, und zwar als ein Pionier, der endlich hochwertige, moderne Industrietechnik nach Russland gebracht habe. Inzwischen steht eine Skulptur meines Urgroßvaters vor dem Werk in Wyksa.
Dieser Anton Lessing war nie bloß Unternehmer. Er hat in gleichem Maße an die Entwicklung der Stadt gedacht, er unterstützte in Kolomna den Bau des Theaters und des Krankenhauses. In seiner Heimatstadt Mühlhausen etablierte und finanzierte er Kindereinrichtungen, in Lahnstein besitzt er ein Ehrengrab. Er war offenbar ein lebensfroher, energiegeladener Mensch. Er wollte auch Familie, Kinder. In der Petersburger Gesellschaft lernte er eine Witwe kennen, Lydia de Cuyper. Sie war eine geborene Sasportas, Belgierin und hatte hochadelige spanische Vorfahren. Sie heirateten – so wurde Lydia meine Urgroßmutter – und verbrachten gemeinsam...